2. Kapitel
Bastien Luce stand im Dunkeln vor der Bäckerei und blickte in das hell erleuchtete Lokal hinein. Vollkommen reglos, mit einem Herzen, das so selten wie nur einmal in der Stunde schlagen konnte, schickte er seine Sinne auf die Suche nach Gefahren. Wenige nur waren groß genug, um ihm zu schaden. Die Nacht war sein Reich, die Sonne sein Feind. Die Menschen – hätten sie von seiner Existenz gewusst –, würden ihn als Vampir bezeichnen. Innerhalb seiner eigenen Spezies allerdings war er ein Upyr.
Die Upyrs waren eine Rasse gestaltwandelnder, unsterblicher Wesen, teils Wolf, teils Vampir, und von einer Macht und Schönheit, mit der kein anderes Geschöpf sich messen konnte. Doch Macht und Schönheit mussten verborgen werden, wenn ein Upyr sich im Reich der Sterblichen bewegte. Heutzutage konnten nur wenige ohne Blendwerk und Charisma überleben, den Gaben, die es ihnen erlaubten, wie Menschen auszusehen, oder, falls sich das als unmöglich erwies, die Menschen glauben zu machen, dass sie nicht gesehen hatten, was sie gesehen zu haben glaubten. Leider waren nicht mehr genügend unberührte Orte geblieben, um ganz abseits der Menschen leben zu können.
Wie ihre vierbeinigen Brüder kämpften auch die Upyr um das Überleben. Unsterblich bedeutete nicht unzerstörbar, zumal das moderne Leben sehr viele Gefahren bereithielt. Kameras konnten sie ohne ihr Wissen beobachten, Ärzte konnten ihre einzigartige Genetik erforschen, und Schwertkämpfer waren wohl kaum noch nötig, wenn jeder Idiot mit einer Kreissäge ihnen den Kopf abtrennen konnte. Selbst ein gebrochenes Herz konnte Bastiens Spezies ins Verderben treiben.
Er glaubte zwar nicht, dass er Gefahr lief, so zu enden, aber er hatte auf jeden Fall schon glücklichere Zeiten erlebt. Noch keine sechs Monate zuvor erst war er aus seinem Rudel ausgestoßen worden.
Zum zweiten Mal in seinem Leben war er gezwungen worden, ein Land zu verlassen, das er als Zuhause betrachtet hatte – das erste Mal von einem Tyrannen und nun von einem Freund.
Zumindest war seine zweite Verbannung, aus Schottland diesmal, auf freundliche Art erfolgt, samt gemurmelten Bemerkungen wie: »Wird Zeit, dass du dir die Beine mal vertrittst« oder »Wir könnten wirklich deine Hilfe brauchen, um einen Machtbereich auf der anderen Seite des großen Teiches aufzubauen« und so weiter und so fort. Egal, was sein Rudelführer Ulric sagte, Bastien kannte instinktiv die Wahrheit.
Er war zu mächtig geworden, um zu bleiben, mächtig genug, um ein Ältester sein zu können: einer der wenigen, die Menschen in Upyrs verwandeln konnten. Bastien konnte aber auch kein Untergebener im Rudel eines anderen Führers sein, da seine Natur von ihm verlangte, sein eigenes zu führen. Und als die Jahre vergingen, schien es tatsächlich unvermeidlich, dass er Ulric irgendwann zum Kampf um die Führung des seinen herausfordern würde. Der Rudelführer war jedoch sehr beliebt, und selbst wenn Bastien Luce ihn besiegen könnte, würde das Rudel ihn, Bastien, nicht wollen. Sie trauten ihm nicht zu, so gut zu herrschen wie Ulric.
Und Bastien war nicht einmal sicher, ob er selbst es sich zutraute.
Das ist es, dachte er, warum ich mich so stark zu der Bäckerei hingezogen fühle. Die Wärme dort, die wundervollen, beruhigenden Düfte und die Geschichte, die ihr anhaftete wie ein Gewürz, zogen ihn unaufhaltsam an. Er hatte schon gleich zu Anfang daran gedacht, das Night Owl zu erwerben. Das Inn hatte die richtige Atmosphäre für ihn, und es gehörte reichlich Land dazu. Er hatte geglaubt, dass seine Investition sich auszahlen würde, und gehofft, seine Freunde damit zu Besuchen zu verlocken. Es war jedoch der Anblick der Bäckerei gewesen, der das Geschäft besiegelt hatte.
Er wünschte nur, dass der Anblick ihrer Besitzerin sein Schicksal nicht besiegelt hätte.
Mariann O’Faolain war feurig wie eine ihrer Fleischpasteten – eine streitlustige kleine Frau mit schlanken Gliedern und dezenten Kurven. Und trotz ihres hinreißenden Aussehens schien sie keine Eitelkeit zu kennen. Ihre nicht zu bändigende Lockenmähne war dunkel wie ihr Lieblingsgetränk, ihre Augen blau wie ein Aprilhimmel. Sie schuftete sich in ihrem Laden ab, wie nur Menschen es fertigbrachten, zwölf Stunden an einem Stück, als befürchtete sie, dass ihr Leben zu schnell enden würde, um sich totzuarbeiten. Sie hatte keinen Ehemann – im Moment zumindest nicht – und auch kein Kind, aber eine Stadt voller Bewunderer und einen struppigen Kater, dessen Temperament genauso feurig wie das ihre war.
Bastien begehrte sie mit einer Leidenschaft, die sein Blut in Flammen setzte: Er wollte sie lieben, mit ihr jagen, sie zur Königin des Königs machen, der zu sein er noch nicht wagte. Jahrhunderte würden nicht genügen, um seinen Hunger nach der Süße dieser Frau zu stillen.
Bedauerlicherweise sah es aber auch so aus, als würde er Jahrhunderte brauchen, um den Mut zu fassen, ihr den Hof zu machen. Seit er ihr begegnet war, hatte er keine zwei Worte von sich geben können, ohne über seine Zunge zu stolpern. Noch nie war er näher daran gewesen, mit Mariann zu flirten, als heute Morgen, als sein Wolf ihr aus der Hand gefressen hatte. Er hatte sie nicht erschrecken wollen, sondern nur nicht widerstehen können, zu ihrem Haus zu gehen.
Der Franzose in ihm fand seine Unbeholfenheit pathetisch; der Mann in ihm kam sich nur schrecklich hilflos vor. Wie die Amerikaner zu sagen pflegten, brachte das Verliebtsein einen Haufen Schwierigkeiten mit sich.
Sein Freund, Emile, sein einziger Gefährte im Exil, wählte ebendiesen Augenblick, um an seiner Seite zu erscheinen, und ganz sicher nicht durch Zufall. Er trug seine üblichen Jeans und ein Polohemd, und an den Sohlen seiner Laufschuhe blinkten kleine Lichter. Laufen war eine Betätigung, die Emile mit Begeisterung übernommen hatte. Vor langer Zeit hatte er fast seine Beine verloren. Die enormen Anstrengungen, die Bastien unternommen hatte, um Emile zu retten, waren etwas, worüber keiner von ihnen je sprach. Im Grunde ihres Herzens Brüder, hatten sie einander immer ähnlich gesehen, was zu der kleinen Lüge geführt hatte, sie seien Verwandte. Paradoxerweise hatte der drohende Tod Emile eine humorvollere Lebensauffassung gegeben. Anders als sein »Cousin«, nahm er die Dinge, wie sie kamen, und war dankbar für das, was er hatte.
Für einen Moment begnügte er sich damit, dazustehen und die Nacht auf sich einwirken zu lassen. Leider war Friede für Emile nie so reizvoll wie die Möglichkeit, jemanden aufzuziehen. »Weißt du«, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme, »Mariann wird nicht beißen, wenn wir hineingehen – es sei denn, das ist es, was du dir erhoffst.«
Bastien errötete, was eine ziemliche Leistung war für seine Spezies. Er war nur froh, dass Emile nicht sein lächerliches morgendliches Stelldichein mit angesehen hatte.
»Verpiss dich«, sagte er, was Emile wie beabsichtigt zum Lachen brachte.
»Sehr gut, mon ami. Mach nur so weiter, dann wird bald niemand mehr erraten, dass du woanders zur Welt gekommen bist als hier.«
Nun, da Emile hier war und ihn beobachtete, konnte Bastien unmöglich noch länger draußen vor dem Geschäft stehen bleiben. Emile war zwar seit Hunderten von Jahren Bastiens bester Freund und mochte ihn in seinen allerschlimmsten Momenten gesehen haben, aber das hieß noch lange nicht, dass Bastien für einen Feigling gehalten werden wollte.
Er hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als Emile ihn am Jackett zurückhielt.
»Warte«, sagte er. »Lass das Ding hier, alter Freund, und öffne diesen steifen Kragen! Tu ausnahmsweise einmal so, als wärst du nicht geschäftlich hier. Keine Frau will von einem Mann hofiert werden, der aussieht, als hätte er ein Lineal verschluckt.«
»Na schön.« Bastien zog das Jackett aus, warf es in die Büsche und kämpfte mit dem kleinen weißen Knopf an seinem Hals. Dann, um zu beweisen, dass er nichts nur halb tat, krempelte er auch noch die Ärmel auf.
»Très bien«, lobte Emile. »Jetzt siehst du schon entspannter aus.«
Mit zusammengebissenen Zähnen, um seine Aufregung zu verbergen, trat Bastien durch die Tür der Bäckerei. Von früheren Besuchen wusste er, dass das Schild Geschlossen nicht Verschlossen bedeutete. Die Bewohner dieser kleinen Stadt waren erstaunlich wenig paranoid. Das Dekor des Geschäftsraumes war das eines Esslokals aus den Fünfzigern – aber nicht wiederhergestellt, sondern original, mit sämtlichen Rissen und abgewetzten Flächen, die dazugehörten. Bastien hatte diese Zeit gemocht, wenn er sich recht erinnerte: die Gary-Cooper-Filme, den Rock ’n’ Roll und den Geruch von Cheeseburgern auf einem Grill.
Was für ein komischer Gedanke, dass Mariann damals noch nicht geboren war!
Er, Bastien, war also noch einsamer gewesen, als ihm bewusst gewesen war.
Fröstelnd strich er mit der Hand über die silberne Zierleiste des Tresens, aber sein Herz klopfte schon schneller bei der Aussicht, den Gegenstand seiner Träume zu sehen. Die Dinge, die er darin mit ihr anstellte – und auch in Wirklichkeit gern anstellen würde –, hätten ihr Haar sogar noch mehr gekräuselt; sein Drang, sie zu besitzen, war unbändig und wild. Und egal, wie schwierig das Verliebtsein auch sein mochte – Marianns Gesellschaft war für Bastien so notwendig geworden wie das Essen.
»Bon soir«, rief Emile in Richtung Küchentür. »Wir sind gekommen, um euch reizenden Damen Gesellschaft zu leisten.«
»Emile!«, antwortete Heather, als sie aus der Küche stürmte und dabei fast ihre Kochmütze verlor. »Du kommst gerade recht, um mir aus der Bredouille zu helfen, denn ich bin mal wieder in Ungnade gefallen.«
Anders als Bastien und Mariann, waren Heather und Emile gleich nach ihrer ersten Begegnung Freunde geworden, wie an ihrem Lachen und den Küsschen zu erkennen war, die sie tauschten. Soweit Bastien das beurteilen konnte, hatte das Mädchen überhaupt nichts Misstrauisches an sich. Emile hatte sein Blendwerk und Charisma kaum benutzen müssen, um in Heather den Eindruck zu erwecken, dass er menschlich aussah. Vielleicht hatte sie, jung und hübsch wie sie war, auch einfach nur eine Schwäche für gut aussehende Männer. Auf jeden Fall wusste Bastien, dass sie nicht eingeschüchtert von ihm war.
»Lange Nacht?«, zog sie ihn mit erhobener Braue auf.
»Wir hatten viel zu planen«, antwortete er und bemühte sich, nicht allzu auffällig über ihre Schulter zu spähen. »Für die Laubsammler im Herbst. Wir überlegen, ob wir nicht ganz groß eröffnen sollen, um die Touristenströme zu nutzen, die herkommen, um die Herbstfarben zu sehen. Und als wir fertig waren mit unserem Brainstorming, beschlossen wir, auf einen Kaffee bei euch vorbeizuschauen.«
»Na klar«, erwiderte Heather gedehnt. »Weil Kaffee ja genau das ist, was jeder vor dem Schlafengehen braucht.«
Bastien war nicht sicher, aber er glaubte zu sehen, dass sie und Emile sich zuzwinkerten.
»Entspann dich«, sagte sie auf sein Stirnrunzeln hin. »Aschenbrödel muss Töpfe schrubben, doch ich werde die Chefin zu euch hinausschicken.«
Bastiens Handflächen wurden augenblicklich feucht. »Nur wenn sie nicht zu beschäftigt ist.«
»Beschäftigt sind wir immer«, scherzte Heather, »aber nie zu beschäftigt, um uns Zeit für euch zu nehmen.«
Mit seinem scharfen Upyr-Gehör konnte Bastien den gewisperten Streit hinter der Küchenwand nicht überhören. Die Worte »hübscher Junge« und »komischer Vogel« waren besonders klar zu hören. Anscheinend wollte Mariann ihn nicht sehen. Er bekam heiße Ohren vor Scham – einer Scham, die er nicht mehr empfunden hatte, seit er Mensch gewesen war.
»Geh raus da«, zischte der Teenager am Ende, »und beschaff dir endlich mal ein Leben!«
Als Mariann aus der Küche kam, hoffte Bastien, dass sein Gesicht nicht ganz so rot war wie das ihre. Er wusste nicht, warum, doch er fand sie einfach entzückend in ihrer Bäckerjacke – was nicht die günstigste Reaktion war, so, wie sie ihm begegnete.
»Das Übliche?«, fragte sie kühl und machte sich sofort an der komplizierten Kaffeemaschine zu schaffen.
»Ja, bitte«, sagte er und räusperte sich dann. »Und ein Glas Wasser dazu.«
Emiles Einwurf war zu leise, um von jemand anderem als Bastien gehört zu werden. »Sehr charmant«, bemerkte er. »Ich bin sicher, dass du sie jetzt schon beinahe hast.«
Bastien musste zugeben, dass der Spott seines Freundes durchaus berechtigt war. Wenn es so weiterging, würde Bastien zu Staub zerfallen, bevor er und Mariann Händchen halten konnten.
»Sie sehen hübsch aus heute«, entfuhr es ihm in hilfloser Verzweiflung, während seine Augen an ihrem Nacken hingen, der so herrlich schlank war und geradezu zum Beißen einlud. Er verfluchte sich innerlich und versuchte, seine Erregung zu unterdrücken. Das fehlte gerade noch, dass seine Fänge aufblitzten! »Ihr Haar, ähm, sieht sehr … locker aus.«
Der Laut, den Mariann von sich gab, war mehr ein Schnauben als ein Lachen. »›Locker‹ auszusehen ist das, was mein Haar am besten kann.«
Zu seiner Erleichterung lächelte sie jedoch, als sie den Kaffee und das Wasser vor ihn hinstellte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, schien ihm, sah sie ihm in die Augen. Ihre waren so weich und warm, dass er darin ertrinken könnte. »Falls der Espresso Ihnen zu stark ist, Mr. Luce, kann ich noch etwas nachtröpfeln lassen.«
»Nein«, sagte er mit plötzlich sehr viel tieferer Stimme, und seine Hand legte sich ganz impulsiv auf ihre. »Ich mag es, wie Ihr Espresso schmeckt.«
Bei all ihren Begegnungen war er stets darauf bedacht gewesen, sie nicht in seinen Bann zu schlagen, weil er wollte, dass sie sich von selbst in ihn verliebte. Trotz seiner Zurückhaltung erstarrte sie jedoch bei seiner Berührung, als hätte er doch Blendwerk und Charisma wirken lassen. Ihre Pupillen erweiterten sich, ihre zarten rosafarbenen Lippen teilten sich, um Luft zu holen. Sie trug keinen Lippenstift. All ihre Farben waren die ihren, von der Röte auf ihren Wangen bis zu den winzigen Sommersprossen auf ihrer Nase.
Ich liebe dich, dachte er, und allein seine Willenskraft verhinderte, dass er es aussprach. Ich würde alles tun, um dich zu gewinnen.
»Und nennen Sie mich doch bitte Bastien«, berichtigte er sie, da ein Teil seines Gehirns noch funktionierte. »Nicht Mr. Luce.«
»Bastien«, sagte sie wie benommen.
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Sie mochte ihn für einen komischen Vogel halten, doch sie begann sich dennoch für ihn zu erwärmen. Er konnte es an ihrer Stimme hören und fühlte sich plötzlich selbstbewusst und maskulin. »Mariann«, sagte er und ließ ihren Namen mithilfe seines Akzents noch weicher klingen. »Würden Sie gern …«
Er sollte nie erfahren, ob sie seine Einladung zum Dinner angenommen hätte, denn in dem Moment wurde die Ladentür aufgerissen, und eine kurvenreiche Blondine à la Marilyn Monroe, die einen aschgrauen, eng anliegenden Anzug trug, stöckelte herein. Ein Diamant von der Größe einer Blaubeere funkelte an ihrer rechten Hand. Trotz des Windes draußen war nicht ein einziges Haar auf ihrem Kopf in Unordnung geraten, und sie sah so frisch aus, als wäre es schon zehn statt fünf Uhr morgens. Wer immer sie war, entweder stand sie früh auf, oder es steckte eine Absicht hinter diesem Auftritt.
Bei ihrem Erscheinen zog Mariann schnell ihre Hand von Bastiens zurück.
Mit einem pinkfarbenen Fingernagel zeigte die Frau auf Mariann. »Du«, sagte sie, »solltest besser aufhören, Lügen zu verbreiten.«
Mariann schob ihr festes kleines Kinn ein wenig vor. »Und welche Lügen sollten das sein? Dass du die Rezepte meines Großvaters gestohlen hast oder mit meinem Ehemann durchgebrannt bist? Du kannst ihn übrigens gern haben – mit den besten Wünschen meinerseits.«
Bastien hatte sich schon darauf gefasst gemacht, sie zu verteidigen, aber Marianns scharfe Antwort hatte ihm bewiesen, dass das nicht nötig war. Die andere Frau wäre vielleicht sogar froh gewesen, wenn er sich eingemischt hätte, denn eine ungesunde Röte stieg in ihre Wangen.
»Du warst schon immer neidisch auf mich«, warf sie Mariann jetzt vor. »Von jeher hast du deine kleinen Geheimnisse gehütet und so getan, als wäre ich nicht gut genug, um das Gebäck deines heiß geliebten Großvaters nachbacken zu können. Aber die ganze Welt weiß jetzt, dass ich gut genug bin. Und wenn du nicht aufhörst, meinen Namen zu beschmutzen, werden die Studioanwälte dich verklagen, bis dir nicht mal mehr deine lächerlichen bügelfreien Hosen bleiben!«
»Ach, ja? Selbst wenn ich jedes Wort beweisen kann?«
»Das kannst du nicht.« Die Zuversicht der Frau zeigte sich in der Art, wie sie den Kopf zurückwarf. »Hier steht Aussage gegen Aussage.«
»Nicht unbedingt.« Mit einem Lächeln, das einem Borgia Ehre gemacht hätte, zog Mariann ein Tagebuch mit einem fleckigen Ledereinband unter der Theke hervor und legte es auf die blitzsaubere Glasvitrine neben der Kasse. »Das ist das Rezeptbuch meines Großvaters, in dem sich die Entwicklung eines jeden von ihm erfundenen Gebäckstücks von 1940 an zurückverfolgen lässt. Ich habe das Papier, die Handschrift und die Tinte von einem Labor authentifizieren lassen. Du siehst also, Arabella, dass ich, als ich mit diesem Reporter vom Boston Globe sprach, Beweise hatte, um meine Behauptungen zu untermauern.«
Mit einem erbosten Schnauben griff die Frau nach dem Buch, aber Bastiens Hand fiel schon darauf, bevor sie es erreichte. Die Frau starrte ihn an, als wäre er verrückt, und wandte sich dann mit einer wegwerfenden Geste wieder Mariann zu.
»Du bist nichts«, sagte sie. »Nur eine Kleinstadt-Bäckerin, die nicht klug genug ist zu behalten, was sie hat. Ich habe es dir vor achtzehn Monaten bewiesen, als wir uns trennten, und glaub mir, ich werde es erneut beweisen.«
So hoheitsvoll, wie sie hereingekommen war, stöckelte sie auch wieder hinaus und verließ mit quietschenden Reifen den kleinen Hof vor der Bäckerei. Bastien brach die Stille, weil er niesen musste von dem nachhaltigen Parfum der Frau. Heathers Reaktion war willkürlicher.
»So«, sagte sie, »das war also die berühmte Arabella Armand. Ich kann nicht behaupten, dass ich sehr beeindruckt bin.«
»Normalerweise ist sie charmanter«, entgegnete Mariann schulterzuckend. »Sie hebt den Mr. Hyde in sich für ihre Freunde auf.«
Heather lachte, aber Mariann gab ein Geräusch von sich, das wie ein Schluckauf klang, und rannte in die Küche.
»Bleib!«, sagte Bastien, als Heather ihr folgen wollte. »Ich gehe und schaue, ob mit ihr alles in Ordnung ist.« Er unterlegte den Befehl mit einem leichten Zwang, und das junge Mädchen taumelte zurück wie eine Puppe.
»Vorsicht«, meinte Emile, als er Heather an den Schultern packte.
Aber Bastien wusste, dass die Warnung für ihn bestimmt war.
Und er würde sie auch beherzigen, nur eben nicht gerade jetzt.
Marianns Küche war größer als ihr Café, mit supermodernen Edelstahlschränken und einem Terrakottaboden, der zu dem Abfluss in der Mitte hin leicht abgeschrägt war. Alles an der Küche war überdimensioniert: die Deckenbeleuchtung, die Arbeitsflächen, die Umluftöfen und die Herde. Der Kühlraum war so hoch, dass eine Trittleiter benötigt wurde, um an die obersten Regale heranzukommen, und mit Schokoladen- und Butterpaketen bestückt, die für Riesen gedacht zu sein schienen. Dass eine so zierliche Frau dieses Reich beherrschte, erfüllte Bastien mit Belustigung – aber nicht etwa, weil Mariann der Aufgabe nicht gewachsen schien.
Er fand sie vor dem Hackbrett in der Kücheninsel, wo sie mit einem scharfen Messer Vanilleschoten öffnete. Als sie das Mark auskratzte, überwältigte der Duft schier Bastiens Sinne: eine kräftige, zugleich ein wenig herbe Süße, die es schaffte, den Eindruck einer anheimelnden Küche und den eines Dschungels in sich zu vereinen. Im Bruchteil von Sekunden verhärtete sich Bastiens Körper, wie nur der eines Upyrs es konnte, und eine solch intensive, heftige Erregung erfasste ihn, dass ihm die Knie fast den Dienst versagten. Seine vorher noch so dezente italienische Hose verlor ihren perfekten Sitz, während das Kribbeln in seinen Gaumen ihn warnte, dass seine Reißzähne kurz davor waren herauszuschießen.
»Ich bin okay«, beruhigte ihn Mariann, bevor er etwas sagen konnte, und fuhr sich mit dem Ellbogen über die Augen. »Ich habe zu tun, Bastien.«
Als er hinter ihr stand und die steife, stolze Haltung ihrer Schultern sah, hatte er das Gefühl, als wäre er wieder durch ihren Garten auf sie zugeschlichen, weil er sich so verzweifelt den Kontakt ersehnte, dass er riskieren würde, sie zu erschrecken.
Sehr langsam und sehr sanft legte er die Arme um sie und hielt mit beiden Händen ihre Handgelenke fest. Ihre Finger wiesen die Spuren jahrelanger Küchenarbeit auf: Schnitte, Kratzer, Schwielen und Verbrennungen, ganz abgesehen davon, dass die Haut vom ständigen Spülen trocken und rissig war. Aber er wusste, dass sie stolz auf jeden kleinen Makel war, denn manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, drehte sie ihre Hände hin und her und lächelte dabei.
»Sie sind nicht okay«, murmelte er an ihrem Ohr und stupste sie dann ganz leicht mit der Nase an. Da er ihr so nahe war, dass ihre Auren sich vermischten, konnte er gar nicht anders, als ihre aufgewühlten Gefühle wahrzunehmen. Er hatte ihre Privatsphäre immer respektiert, war aber ein zu guter Gedankenleser, um jetzt nicht einen Eindruck ihrer Emotionen zu erhalten. »Diese Frau hat Sie verärgert.«
Mariann lachte, doch es klang mehr wie ein Schnauben. »Arabella wäre tödlich beleidigt, wenn sie wüsste, dass Sie den neuesten Publikumsliebling des Kochkanals nicht erkannt haben.«
Bastien, für den es keinen anderen »Liebling« gab als Mariann, summte vor Freude, sie endlich in den Armen zu halten, und strich mit den Lippen über die seidige Haut an ihrem Nacken.
Mariann begann zu zittern. »Sie sollten das lieber lassen. Sie sind mein Vermieter.«
Er verstand nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber Menschen hatten eben manchmal merkwürdige Regeln. Ohne ihren Einwand zu beachten, glitt er mit den Fingerspitzen zwischen die Knöchel ihrer Hände, worauf ihr kleines Messer klirrend zu Boden fiel. Zu seiner Überraschung ließ sie den Kopf an seine Schulter sinken und entblößte die Halsbeuge. Unter seinesgleichen war das eine Geste der Unterwerfung, auf sexueller Ebene und auch sonst.
Deshalb war es unvermeidlich, dass diesmal ein leises Knurren in seiner Stimme mitschwang. »Ich wollte dir schon so nahekommen, seit wir uns begegnet sind.«
Ihre Antwort war ein leiser Seufzer. »Du machst es damit nur noch schlimmer.«
»Wie kann es etwas schlimmer machen, dich zu umarmen?«
Er sprach so beruhigend, wie er konnte, aber ihr Kopf fuhr wieder hoch. »Weil ich nicht weinen will, verdammt!«
Bastien widersprach nicht, als sie sich in seinen Armen drehte, doch er trat auch nicht zurück und gab sie frei. Wie sie ihn schon vorgewarnt hatte, war ihr Gesicht feucht von frischen Tränen, und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – sprühten ihre Augen geradezu vor Wut. Die Leidenschaft, die sich dadurch verriet, war ein Aphrodisiakum für jemanden wie Bastien.
Nur ihre Verletzlichkeit sprach ihn sogar noch mehr an.
»Du bist schon lange nicht mehr so gehalten worden«, stellte er fest und spürte, wie es ihn heiß durchlief bei dem Gedanken, auf was sie sonst wohl noch alles lange verzichtet hatte. »Deshalb bringt meine Umarmung dich zum Weinen.«
Betreten senkte sie den Kopf. »Umarmungen waren nie Toms Stärke.«
»Ein bedauernswerter Zug an einem Ehemann.«
»Fand ich auch. Ich meine, ich wollte ja nicht, dass er die ganze Welt umarmte. Nur mich.« Sie fand ihre Haltung wieder und versuchte zu scherzen, doch bei den letzten Worten brach ihre Stimme, und sie verzog verärgert das Gesicht. »Aber heute ist es mir egal. Er ist ein Idiot, und ohne ihn bin ich viel besser dran.«
»Das ist richtig«, stimmte Bastien ihr zu. »Tausend Mal besser.«
»Was sie mir angetan hat, war schlimmer«, fuhr Mariann fort, und Bastien wusste, dass sie Arabella meinte. »Wir hatten gemeinsam die Restaurantszene in Boston überlebt, zwei Frauen, die mit diesen blöden, grabschenden Beiköchen Hunderte von Speisen pro Nacht herausgaben. Sie überredete mich, sie als meine Partnerin mitzunehmen, nachdem Großvater verstorben war. Wir waren Freundinnen. Ich dachte, sie hätte mich gern. Und dann tut sie auf einmal so, als wäre Großvaters Werk das ihre. ›Eine Kleinigkeit, die ich erfunden habe‹, behauptet sie in ihrer Show. Als ich es das erste Mal hörte, dachte ich, mir würde der Kopf zerspringen. In all der Zeit unserer Zusammenarbeit hat sie nie etwas Eigenes erfunden. Sie konnte kochen, aber sie war faul. Ihre erste Frage war immer: ›Was ist der schnellere Weg?‹ Doch gutes Gebäck entsteht aus Liebe, aus dem Wunsch, etwas zu erzeugen, das deine Gäste ganz und gar begeistern wird. Das lässt sich nicht auf ›schnellem Weg‹ erreichen!«
Noch bei der Erinnerung empört, rieb sich Mariann die Nase. Als sie fortfuhr, schwang Resignation in ihrer Stimme mit. »Ich wollte meine Rezepte nie mit ihr teilen, doch ich dachte: Sie ist nicht nur meine Partnerin, sondern auch meine Freundin. Ich sollte lernen, vertrauensvoller zu sein. Pah! Und mit diesem Edelmut lieferte ich ihr alles aus, was ich hatte.«
»Alles, was du hast, ist hier«, sagte Bastien und hob die Hand, um mit der Fingerspitze an ihr Herz zu tippen. »Oder jedenfalls das, was zählt.«
»Danke, Zen-Meister Luce. Ich würde dir sicher zustimmen, wenn ich spirituell genauso hoch entwickelt wäre.«
»Na schön«, lachte er, entzückt von ihrer Bissigkeit. »Du hast einen Grund, erbost zu sein.«
Sie blinzelte ihn an. »Warum bist du eigentlich so nett? Du hast bis heute kaum je mal etwas zu mir gesagt.«
Ihre großen Augen und ihr Gesichtsausdruck verrieten, dass sie bereit war zuzuhören. Da er spürte, dass sie es erlauben würde, fuhr er mit den Fingern durch ihre Locken. Obwohl seine Macht die Strähnen entwirrte, blieben sie an seiner Hand hängen, als gefiele ihnen der Kontakt. »Vielleicht habe ich ja nur darauf gewartet, dass du anfängst, etwas anderes in mir zu sehen als einen komischen Vogel.«
»Oje. Tut mir leid, dass du das gehört hast. Ich …«
»Nein.« Schnell legte er einen Finger an ihre Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich bin mir sicher, dass ich wirklich komisch wirke. Ich hoffe nur, dass du mir die Chance geben wirst, dir zu zeigen, was ich sonst noch sein kann und was ich gern für dich wäre.«
»Was du gern für mich wärst?«, wiederholte sie.
Diesmal war die Atemlosigkeit in ihrer Stimme nicht zu überhören, und eine solch gigantische Welle der Erregung erfasste Bastien, dass er nur mit Mühe ein Stöhnen unterdrücken konnte.
Oh, Mariann!, dachte er. Ich werde dich küssen, bis dir Hören und Sehen vergeht!