2. Kapitel

Jenny kehrte zu dem weitläufigen weißen Herrenhaus der Plantage zurück und ging hinein, um das Team zu suchen – drei ihrer Studenten, die sich für klüger hielten als sie, und ein Hochschuldezernent, der wusste, dass er es war –, und traf sie alle im Esszimmer an, wo sie bei Gebäck und Kaffee saßen.

»Wo haben Sie den ganzen Morgen gesteckt?«, fragte Professor Dr. Hinkle in seinem üblichen beredten Ton, mit dem er stets irgendetwas zu unterstellen schien, jedoch nie ganz durchblicken ließ, was.

»Ich habe einige der Einheimischen in der Stadt befragt. Bisher allerdings ergebnislos.« Jenny dachte nicht einmal daran, ihm von ihrer Begegnung mit dem Lykanthropen und ihrem anschließenden Besuch bei dem teuflisch gut aussehenden Doktor zu erzählen. Hinkle würde ihr das mit dem Werwolf sowieso nicht glauben. Nicht, bis sie Beweise hatte.

»Haben Sie gestern Nacht etwas gesehen?«, wollte Carrie wissen. Sie war die Leichtgläubigste, die alles für bare Münze nahm, bis es sich als falsch erwies, während der ideale Kryptozoologe nach dem genauen Gegenteil verfuhr. Sie hatte noch viel zu lernen, die Kleine.

»Ein Wildschwein«, antwortete Jenny. »Es rannte mir so plötzlich aus dem Wald entgegen, dass ich ihm fast einen Betäubungsschuss verpasst hätte.«

Carrie grinste. Mike und Toby wechselten ein Schmunzeln, das besagte, dass nur eine Frau so schreckhaft sein konnte. Ha! Jenny würde zu gern einen der »Zwillinge« mit diesem Ding von gestern Nacht zusammentreffen sehen. Beide wären vor Schreck aus ihren aufeinander abgestimmten Chinos und Ralph-Lauren-Polohemden herausgefahren. Sie waren zwar nicht verwandt, trugen aber nahezu identische, ultrakurze, leicht gegelte Frisuren, und der eine war ein ganz klein wenig blonder als der andere. Für Jenny waren die beiden praktisch so etwas wie Klone. Nicht nur, was ihre äußere Erscheinung anging, sondern auch von ihrer Einstellung und Blasiertheit her. Ihr war durchaus bewusst, dass sie sich nur für dieses Programm gemeldet hatten, weil sie glaubten, es würde ihnen gute Beurteilungen einbringen. Oder vielleicht wollten die beiden ja auch ihre Magisterarbeit darüber schreiben, um den Beruf des Kryptozoologen bloßzustellen und zum Gespött zu machen.

Was ihnen keinesfalls gelingen würde.

»Wie kommst du mit den Nachforschungen voran?«, fragte Jenny und wandte ihre Aufmerksamkeit ihrer einzigen eifrigen Studentin zu.

»Oh, ich habe haufenweise Material gefunden!«, rief Carrie enthusiastisch, während sie mit einer Hand nach ihrem Notebook griff, das nie sehr weit von ihr entfernt war, und mit der anderen ihr perfekt geschnittenes Haar zurückschnippte.

»Ja, genau. Märchen und Überlieferungen«, warf Toby verächtlich ein. »Nichts Stichhaltiges.«

»Überlieferungen haben uns auch zu den Riesengorillas geführt, Toby.«

»Jetzt geht das schon wieder mit den Riesengorillas los!«

»Bis Wissenschaftler die Legenden aus der Gegend ernst zu nehmen begannen, glaubte niemand an ihre Existenz, aber sie existieren. Es hatte sie schon jahrhundertelang im Dschungel gegeben, und nur die Eingeborenen, die unter ihnen lebten, kannten die Wahrheit. Doch niemand glaubte ihnen, so wie auch heute niemand Leuten glaubt, wenn sie etwas Merkwürdiges sehen und den Mut haben, jemandem davon zu erzählen.«

»Genau.«

Carrie warf den Jungs einen vernichtenden Blick zu und öffnete auf ihrem Notebook eine Seite mit ordentlich getipptem Text. »Ich habe einen ganzen Roman an Informationen hier. In den meisten Quellen finden sich Erklärungen darüber, wie man Werwölfe mit einer Silberkugel tötet, aber einige führen das noch sehr viel weiter aus. Sie müssen auch geköpft und danach verbrannt werden.«

Jenny warf ihr einen Blick zu. »Carrie, falls wir ein Exemplar finden, werden wir ganz sicher nicht nach Möglichkeiten suchen, es zu töten.«

»Ich dachte bloß … na ja, für den Notfall eben nur, verstehen Sie?«

Jenny trat näher, nahm Carrie das Notebook ab und trug es zu dem Tisch hinüber. Nachdem sie sich einen Krapfen von der Platte mit dem Gebäck genommen und eine Tasse dampfend heißen, duftenden Kaffees eingeschenkt hatte, sah sie sich einige der von Carrie markierten Websites an.

»Wie man zu einem Werwolf wird«, las sie vor.

»Oh, super«, sagte Toby. »Rezepte.«

Jenny lächelte ein bisschen, weil es der Sache nahekam. »In der Nacht des dunklen Mondes – oder der dritten des vollen –, begib dich zu einem Ort fern der Behausungen der Menschen, ganz tief in den Wäldern. Dort zeichne einen Kreis von nicht weniger als sieben Fuß Durchmesser und innerhalb dieses einen weiteren von drei Fuß Durchmesser. Stell in dem kleineren ein eisernes Dreibein auf, häng einen eisernen Kessel daran und fülle den Kessel mit Wasser aus einem Strom, an dem man drei Wölfe hat trinken sehen. Zünde ein Feuer darunter an, und wenn das Wasser kocht, gib drei der folgenden Kräuter hinzu: Schlafmohn, Bilsenkraut, Nachtschatten, Teufelsdreck, Schierling oder Opium.«

»Ich möchte wetten«, warf Professor Hinkle ein, »dass allein ein Hauch vom Dampf dieses Gebräus jeden von uns überzeugen würde, dass wir zu einem Werwolf werden.«

Jenny riss verblüfft die Augen auf. Hatte der alte Miesepeter wirklich einen Scherz gemacht?

»Der einzig echte Wirkstoff darin ist das Opium«, sagte Toby. »All das andere Zeug ist nur erfunden.«

»Oh, da irrst du dich aber gewaltig«, widersprach Jenny. »Hier wurden nur volkstümliche Namen verwendet. Schlafmohn ist Papaver rhoeas, Bilsenkraut Hyascyamus, Nachtschatten Solanum und Teufelsdreck Ferula assa-foretida oder Stinkassant, das sehr zutreffend nach seinem Geruch benannt wurde.«

»Und Schierling ist Conium maculatum«, warf Carrie ein. »Lesen Sie weiter, Professor Rose. Es ist faszinierend.«

Jenny zuckte mit den Schultern. »Danach steht hier, man solle sich nackt ausziehen und sich mit einer Salbe aus …«, sie suchte nach der Stelle auf der Seite, »… dem Fett einer frisch getöteten Katze, vermischt mit Opium, Kampfer und Anissamen einreiben.«

»Raffiniert«, bemerkte der Professor. »Der Kampfer würde die Poren öffnen, sodass das Opium schneller aufgenommen wird.«

»Also, wie geht’s weiter? Dann hülle man seine Lenden in das Fell eines Wolfes, spreche den Zauber und erwarte das Eintreten des Unbekannten.« Jenny nickte. »Wie viele von euch haben Anthropologie-Vorlesungen besucht?«

Alle hoben die Hände, einschließlich des Professors, wenn auch mit spöttischem Gesichtsausdruck.

»Gut. Und nun denkt zurück und sagt mir, woran euch dieses Rezept erinnert.«

»Oh, ich weiß!«, rief Carrie. »Es ist das Gleiche, was einige Schamanen verschiedener Kulturen praktizieren. Sie nehmen ein Halluzinogen ein und begeben sich auf eine Reise in andere Reiche. Gestaltwandeln ist oft ein Teil dieser Erfahrung.«

Jenny nickte. »Gut. Noch irgendwelche anderen Beispiele?«

Mike hob widerstrebend die Hand und sah sie ein bisschen verlegen an, bevor er sagte: »Die sogenannten Flugsalben, die Hexen angeblich benutzten?«

»Bingo. Auf der Basis von Tierfett hergestellte Salben mit Fliegenpilz als hauptsächlichem Wirkstoff. Was sagt uns das also über diesen speziellen Bericht, wie man zu einem Werwolf werden kann? Woher hatte der Autor diese Information?«

Die Studenten blickten einander mit verständnisloser Miene an.

»Er hatte ihn von jemandem, der sich mit Magie befasste. Von einem Schamanen, einem Weisen oder einer Dorfhexe. Worüber er spricht, ist Magie, aber nicht die Wirklichkeit. Wir sind Wissenschaftler. Ist das Wesen, das wir suchen, etwas, das aus Katzenfett und Opium hervorgebracht wurde? Nein. Das Einzige, was sich mit dieser Mischung erzeugen lässt, sind Halluzinationen. Was ist dann also unser Werwolf?«

Sie hob die Hände mit den Handflächen nach oben.

Alle drei Studenten sagten nahezu wie aus einem Munde: »Eine bisher unentdeckte Spezies.«

»Genau. Und was können wir daraus lernen?«

»Nicht besonders viel?«, schlug Toby vor.

»Nicht viel, aber etwas. Wir können lernen, dass die besagte Kreatur tief in Wäldern lebt und Menschen so weit wie möglich aus dem Weg geht. Wahrscheinlich ist sie von menschenähnlicher Erscheinung. Wie ihr seht, ist das der Schlüssel. Nehmt euch also die alten Überlieferungen vor, schließt das Unmögliche aus und seht euch an, was übrig bleibt. Das Stichhaltige, Solide, das euch zu der Wahrheit führen kann.«

»Aber was ist, wenn der Werwolf wirklich durch irgendeine Art von Fluch oder Magie entstanden ist?«, fragte Carrie.

»Wir sind Wissenschaftler, Carrie. Es gibt keine Magie. Je eher du das kapierst, desto besser wirst du vorwärtskommen.« Sie klappte das Notebook zu. »Und nun möchte ich, dass du deine Notizen noch einmal durchgehst, alle Hirngespinste und Magie rausnimmst und den Rest für mich zusammenstellst.«

»Ich möchte auch Kopien davon, Carrie«, warf Professor Hinkle ein. »Bevor du irgendetwas löschst.«

»Und was tun wir?«, rief Mike.

»Du befragst mit Toby noch einmal die Einheimischen. Versucht herauszufinden, was sie über den loup garou gehört haben. Und nehmt die Antworten auf Tonband auf, damit ihr nicht versehentlich etwas auslasst, das uns nützlich sein könnte«, trug ihm Jenny auf.

»Und was haben Sie sich für heute Morgen vorgenommen, Professor Rose?«, wollte Hinkle wissen.

»Ich werde in den Wald gehen, um nach Anzeichen für eine unbekannte Spezies zu suchen. Sie können gern mitkommen, Professor, aber Sie werden gute Wanderschuhe und einen Rucksack für Geräte und Proviant benötigen. Ich will so tief wie möglich in den Wald hinein, und das wird kein Spaziergang werden«, warnte sie.

»Fern der Behausungen der Menschen?«, zitierte er schmunzelnd.

»Genau.«

Das war natürlich eine glatte Lüge. Jenny wollte in den Wald entlang der Straße gehen, auf der sie gestern Nacht dieser Kreatur begegnet war. Bei Tageslicht würde sie vielleicht Hinweise entdecken, die sie im Dunkeln übersehen hatte. Sie wollte jedoch nicht, dass Hinkle ihr dabei über die Schulter blickte, jede ihrer Aktionen voraussah und permanent nach irgendetwas suchte, das er gegen sie verwenden konnte.

Es würde ihm sehr recht sein, wenn ihr Vorschlag zur Einrichtung eines kryptozoologischen Instituts an der Dunkirk University – das sie selber leiten wollte – so bald wie möglich zurückgewiesen würde, denn Hinkle hasste die Idee.

Die Idee und sie.

»Kommen Sie also mit?«, fragte sie mit einem Blick auf ihn.

»Natürlich nicht. Das müssten Sie doch wissen. Ich werde bleiben und mir Ihre Aufzeichnungen ansehen.«

Sie lächelte, als beunruhigte sie der Gedanke nicht. Und das musste er auch nicht. Wie Al Capones Buchhalter führte Jenny zwei verschiedene Berichte, sodass niemand ihre privaten Schlussfolgerungen und Gedanken zu Gesicht bekam.

»Gut, dann sehen wir uns später«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

»Vergessen Sie nicht das Katzenfett«, rief Hinkle ihr hinterher und lachte über seinen eigenen lahmen Witz, und Toby und Mike, die Schleimer, stimmten mit ein.

Welpen, dachte Jenny. Sie hätte sie Wer-Welpen genannt, aber das würde darauf hindeuten, dass sie zur Hälfte menschlich waren, und sie fand nicht, dass sie die Bedingungen dazu erfüllten.

Jenny lief die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer, um sich umzuziehen, bevor sie dorthin zurückkehrte, wo sie gestern Nacht gesehen hatte … was auch immer sie gesehen hatte.

In ihrem Zimmer traf sie Mamma Louisa an, die, von Kopf bis Fuß in makelloses Weiß gekleidet und mit einem ebenso weißen Turban auf dem Kopf, das Bett machte. Das strahlende Weiß ihrer Kleidung stand in auffallendem Kontrast zu ihrer dunklen Haut.

Frauen ihrer Größe trugen oben im Norden nicht viel Weiß, was Jenny schade fand, denn Mamma Louisa sah wirklich gut aus darin, groß, schön und stolz, und wirkte majestätisch wie eine Königin.

Sie blickte auf, als Jenny hereinkam, und schenkte ihr ein Lächeln. »Ich kann später wiederkommen«, sagte sie mit ihrem breiten Südstaatenakzent.

»Nein, nein, machen Sie ruhig weiter. Ich packe nur schnell ein paar Sachen ein und bin gleich wieder weg.«

»Na gut. Wie kommen Sie mit Ihren Forschungen voran?«

»Gut. Sogar noch besser als gut.« Jenny trat vor die Kommode, öffnete eine der Schubladen und nahm ein T-Shirt heraus. Dann zog sie die Bluse über den Kopf und blickte in den Spiegel.

»Osé, osé, osé«, flüsterte Mamma Louisa beschwörend, und als Jenny im Spiegel ihrem Blick begegnete, sah sie, dass er auf den Verband an ihrer Brust geheftet war. »Was ist Ihnen gestern Nacht passiert, ma chère?«

Verdammt, wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können? Schnell zog Jenny das Hemd über den Kopf. »Nichts – das ist nur ein Kratzer. Ich habe mich an einem Dornenstrauch verletzt.«

»Ach, tatsächlich?« Die Frau betrachtete die Bluse, die auf dem Boden neben dem Bett lag – und deren weißer Stoff mit Tränenspuren und getrocknetem Blut befleckt war. Mamma Louisa machte einen Schritt darauf zu, aber Jenny war schneller und erreichte die Bluse zuerst, hob sie auf und knüllte sie zusammen.

»Ist da was, was ich nicht sehen soll, Kind?«

»Ach was. Ich bin es nur nicht gewohnt, bedient zu werden, Mamma Louisa. Es ist mir unangenehm, wenn jemand hinter mir aufräumt.«

»Wäre es Ihnen lieber, sich von jetzt an selbst um Ihr Schlafzimmer zu kümmern?«

»Ja. Ja, das würde ich wirklich vorziehen.«

Mamma Louisa zuckte mit den Schultern. »Ich werde gut bezahlt fürs Saubermachen und Kochen für die Gäste hier, Miss Jenny. Aber wenn es Ihnen lieber ist, mach ich von jetzt an einen großen Bogen um Ihr Zimmer … und Ihre Geheimnisse.«

»Ich habe keine Geheimnisse.«

Die Haushälterin nickte. »Ja, ja. Ich werde auch Eva Lynn Bescheid sagen, dass sie Ihr Zimmer nicht betreten soll.« Damit wandte sie sich von dem halb gemachten Bett ab und schickte sich zum Gehen an, doch als sie die Tür erreichte, blieb sie noch einmal stehen.

»Es gibt … Dinge da draußen, ma chère, die Sie nicht glauben würden. Dinge, die in Ruhe gelassen werden sollten.«

Zuerst war Jenny wie erstarrt vor Schock über die Bemerkung, aber als Mamma Louisa den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog, schüttelte Jenny ihre Erstarrung ab und lief ihr hinterher.

Sie riss die Tür auf und stürmte auf den langen Gang hinaus. »Warten Sie! Was wissen Sie über diese ›Dinge‹?«

Doch Mamma Louisa war schon nicht mehr da.