3. Kapitel

Was hast du vor?«, zischte Riordan, dem sein Ärger deutlich anzusehen war.

Juliette warf ihm einen bösen Blick zu. »Ich dachte, du hättest mich im Stich gelassen.«

»Ich bin dein Seelengefährte. Dein Schutz und dein Wohlergehen werden für mich immer an erster Stelle stehen. Ich würde dich niemals im Stich lassen.«

Wäre sie nicht so müde, hätte sie entnervt die Augen verdreht. Im Geiste tat sie es jedoch, um ihn wissen zu lassen, wie idiotisch es von ihm war, dass er ihr Zusammenhänge nicht erklärte, die sie von allein niemals verstehen würde. Sie blickte auf sein Handgelenk herab. Der Riss war geschlossen, sah aber noch immer wund und hässlich aus. »Du hast eine falsche Spur für den Vampir gelegt, eine stärkere und frischere, oder?«

»Natürlich. Sie wird ihn hoffentlich lange genug aufhalten, dass es mir gelingt, meine Kräfte wiederzugewinnen und das Gift aus meinem Körper zu entfernen.« Er nahm Juliette auf die Arme. »Er wird blindlings die Lüfte attackieren, in der Hoffnung, uns zu finden. Du musst dich still verhalten.«

Juliette war es langsam leid, wie ein Sack Kartoffeln herumgeschleppt zu werden. »Ich bin kein schreckhaftes kleines Kind. Oder hast du schon vergessen, wer dich aus diesem Labor befreit hat?«

Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über sein Gesicht, bei dem Juliette das Herz fast stehen blieb. »Das war, bevor ich dir meine Zähne zeigte.«

»Ist das Vampirhumor?«, versetzte sie, doch ihr Magen vollführte einen merkwürdigen kleinen Hüpfer. Riordan sah so müde aus, dass sie nachgegeben und die Arme um ihn gelegt hätte, um ihn zu trösten, wenn sie nicht so sicher gewesen wäre, dass es gefährlich war, ihn zu berühren.

Er senkte den Kopf so weit zu ihr herab, dass sie seinen warmen Atem an ihrer Haut spüren konnte. Als er erneut lächelte, sah sie keine Spur mehr von seinen unnatürlich langen Eckzähnen, aber das änderte nichts daran, dass ihr ein kleiner Schauder über den Rücken lief … und sie ein völlig unerwartetes Ziehen zwischen ihren Beinen verspürte. Das war bestimmt kein gutes Zeichen. Es bestand auf jeden Fall eine sexuelle Anziehung zwischen ihnen, die sich sogar noch zu verstärken schien. Da das völlig unbegreiflich für sie war, wollte Juliette nur so schnell wie möglich weg von ihm.

»Der Vampir wird versuchen, uns in der Luft anzugreifen. Und auch wenn er nicht wirklich wissen wird, wer wir sind, wird er hoffen, einen Treffer zu landen. Es ist also lebenswichtig, dass du dich völlig still verhältst. Es wird sehr beängstigend werden.«

Sie lachte spöttisch auf. »Bist du das etwa nicht? Beängstigend, meine ich? Komm, lass uns von hier verschwinden!«

Mit schwindelerregender Geschwindigkeit erhob er sich wieder mit ihr in die Luft. Juliette spürte, dass er an ihren Geist rührte, um sie zu beruhigen, aber sie wollte ihn dort nicht haben. Diese Art telepathischer Verbindung war ihr viel zu intim. Er könnte ihre Gedanken lesen und sich vielleicht sogar ihrer unerklärlichen Hingezogenheit zu ihm bewusst werden. Es ärgerte sie, dass sie so empfänglich für ihn war. Ob es körperliche Anziehung war oder ob er sie in irgendeiner Weise manipulierte, war nicht zu sagen, sie hatte aber auch ganz sicher nicht die Absicht, lange genug zu bleiben, um herauszufinden, was es war.

Ohne jede Vorwarnung regnete es Funken aus den Wolken, rot glühende Kohlen, Splitter geschmolzenen Feuers, die wie ein Sperrfeuer auf sie losgelassen wurden. Fluchend, weil er nicht seine volle Kraft besaß und ihr nicht den Schutz gewähren konnte, den sie brauchte, beugte Riordan sich während des schnellen Flugs beschützend über Juliette. Trotz seiner Bemühungen trafen einige Splitter ihren Arm und brannten sich durch ihre Haut hindurch bis fast zum Knochen. Riordan hörte sie nach Luft schnappen, aber sie drückte ihr Gesicht an seine Brust, an die grässlichen Brandmale dort, und verhielt sich still. Die glühenden Kohlen verbrannten ihm Rücken und Schultern, verursachten hässliche Quaddeln und stachen ihm wie wütende Bienen in die Arme. Er war unendlich müde und wollte sich nur noch in die heilende Erde begeben, wie es die Art und Weise seines Volkes war, doch Juliette konnte das nicht, und er würde sie nicht ungeschützt zurücklassen, solange menschliche Feinde und auch Vampire auf der Jagd nach ihnen waren.

Juliette war ein unerwartetes Geschenk und fühlte sich so zu ihm hingezogen, weil sie zwei Hälften einer Seele waren. Sie wollte diese Verbindung nicht, aber sie existierte und war sehr stark und explosiv. Trotz seiner nicht nachlassenden Schmerzen war er sich nur allzu gut der üppigen weichen Rundungen ihres Körpers, ihrer Hitze und ihres Duftes bewusst. Das verstärkte sein körperliches Unbehagen jedoch nur noch und erhöhte seine Vorsicht. Mit Juliettes Gesicht an seiner nackten Brust wurde ihm ganz ungewöhnlich warm ums Herz. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zuversicht und Vertrauen sie ihm mit dieser schlichten Geste offenbarte.

Ich versuche nur, mich vor der Glut zu verbergen, wies sie seine Überlegungen zurück.

Du verbirgst dich vor dir selbst, vor der Wahrheit.

Und du bist anscheinend das nervigste und lästigste Geschöpf auf Erden.

Vielleicht, aber trotzdem fühlst du dich auf unerklärliche Weise von mir angezogen, entgegnete er mit unverwechselbarer Genugtuung in der Stimme.

Dann ließ er sich mit ihr in den verhältnismäßigen Schutz der Baumkronen sinken und flog zu dem kleinen Bach weiter, an dem die Pflanzen wuchsen, die er brauchte. Blitze zerrissen die Dunkelheit der Nacht, erhellten mit ihrem grellen Licht den Dschungel und trieben die Tiere in ihren Unterschlupf. Riordan bewegte sich durch die Bäume, bis er die dunklere, von hohem Dickicht überwachsene Stelle fand, die ihnen Schutz bieten würde.

»Wenn wir Glück haben, treibt der Vampir sich meilenweit von hier entfernt herum. Lass mich deine Brandwunden sehen.« Riordan ließ Juliette herab, hockte sich neben sie und zog ihren Arm zu sich heran, um ihn zu untersuchen.

»Du bist schlimmer verletzt als ich«, wandte sie ein und spürte, wie ihr Herz gleich schneller schlug. Es musste etwas damit zu tun haben, wie er ihre Wunde ansah, wie seine schwarzen Augen über ihre Haut glitten, als betrachtete er es als persönliche Beleidigung, dass sie von den feurigen Splittern getroffen worden war. »Ich kann damit leben.«

»Ich nicht«, erwiderte er und senkte den Kopf, sodass sein schwarzes Haar, das wirr und zerzaust war von der Reise durch die Lüfte, ihm ins Gesicht fiel und es vor Juliette verbarg.

Das Erste, was sie spürte, war die Wärme seines Atems. Dann seine Lippen, die so federleicht und sachte waren, dass ihr Herz noch schneller schlug und eine starke Anspannung sie erfasste. Sanft glitt seine Zunge über die dunkle Brandblase, und ein elektrisierendes Prickeln durchlief Juliette, das ihr den Atem stocken ließ und ihr einen trockenen Mund bescherte. Unwillkürlich zog sie den Arm zurück, aber Riordan ließ ihn nicht los.

»Es tut mir leid, falls es wehtut, doch mein Speichel enthält einen heilenden Wirkstoff, der den Schmerz vergehen lassen wird. Entspann dich einfach!« Er sagte die Worte nicht nur, sondern hauchte sie an ihrer Haut, sodass sie seine Stimme regelrecht durch ihre Poren kriechen spürte, um sich um ihr Herz und ihre Lunge und alle anderen lebenswichtigen Organe zu legen.

Juliette schloss die Augen gegen die Hitzewellen, die durch ihre Adern rasten. Blutend, mit Wunden übersät und schwankend vor Erschöpfung, war Riordan immer noch der aufregendste Mann, dem sie je begegnet war. Es waren nicht nur seine Stimme, seine Augen, die Art, wie er sie ansah und sich bewegte, oder sein harter, maskuliner Körper, sondern vor allem die Gefahr, die von ihm ausging, was ihn so ungeheuer reizvoll machte. Er war ganz offensichtlich ein mächtiges Raubtier, und dennoch war seine Berührung erstaunlich sanft, ja fast zärtlich.

Juliette schluckte heftig. »Es ist nicht in Ordnung, dass du versuchst, mich zu heilen, während du selbst viel schwerer verletzt bist. Ich kann warten.«

»Ich spüre deinen Schmerz, als wäre er mein eigener.«

Sie versuchte, die Sache mit Humor zu sehen, als ihr Körper erwachte und ihre Gedanken sich mit Dingen zu befassen begannen, die besser unangerührt blieben. »Siehst du, warum wir nicht geistig miteinander in Verbindung treten sollten? Es wäre viel leichter, wenn du neben deinem eigenen Schmerz nicht auch noch den meinen spüren müsstest.« Sie runzelte die Stirn. »Ich bin auch in deinen Gedanken, aber wieso kann ich dann deinen Schmerz nicht spüren?« Sie konnte fühlen, wie müde er war, doch er musste auch Schmerzen haben mit all seinen Verbrennungen und anderen Verletzungen.

Seine Zunge glitt ein zweites und ein drittes Mal über ihre Haut. »Weil ich dich davor abschirme.«

Er konnte einen in den Wahnsinn treiben! Juliette konnte sein männlich schönes Gesicht nicht ansehen, ohne diese tiefen Furchen glatt streichen zu wollen. Seine Berührung war so sanft, dass sie ganz merkwürdige Dinge mit ihrem Magen anstellte und ihn Purzelbäume schlagen ließ. Schweißtröpfchen rannen durch die Mulde zwischen ihren Brüsten, und die hatten ganz bestimmt nichts mit der allgegenwärtigen Feuchtigkeit zu tun. Wie durch ein Wunder hörten die kleinen Brandwunden unter Riordans liebevollen Zuwendungen auf zu brennen. Als er schließlich den Kopf hob und sie mit seinen schwarzen Augen ansah, entging ihr nicht das glutvolle Begehren in ihren dunklen Tiefen.

Dann ließ er ihren Arm los und trat ein Stück von ihr zurück.

Juliette, die wieder mit dem Rücken an den Baum gelehnt dasaß, beobachtete ihn aufmerksam. »Danke. Es tut schon gar nicht mehr so weh.« Sie sah Riordan prüfend ins Gesicht und ließ ihren Blick auf den vom Schmerz geprägten Linien darin verweilen. »Hast du wirklich Gift in deinem Organismus?«

Er sah sie an, und seine glutvollen schwarzen Augen brannten sich schier in ihr Herz … oder in ihren Körper. Dann begann er vorsichtig, das blutbefleckte, zerrissene Hemd von seiner Haut zu lösen, ohne jedoch den Blick von ihr abzuwenden. Juliette fiel es plötzlich schwer zu atmen. »Leider ja.«

»Aber warum? Warum haben sie dir das angetan?«

»Weil ich anders bin. Eine verachtenswerte, verhasste Kreatur. Und weil sie unseren Prinzen töten wollen, fürchte ich.«

Die Brandmale an seiner Haut waren schrecklich. »Haben sie die Ketten erhitzt? Stammen diese Wunden daher?« Am liebsten wäre Juliette zu ihm gelaufen, um ihre Lippen auf diese furchtbaren Male zu pressen. Er musste große Schmerzen haben, und trotzdem hatte er sich zuerst um sie gekümmert.

»Sie hatten Vampirblut, mit dem sie die Ketten regelmäßig bestrichen. Sie wussten, dass das Blut giftig ist und wie Säure brennen würde. Und sie hofften, dass der Geruch des Blutes mich um den Verstand bringen würde, als ich so blutarm und entkräftet war.« Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. »Und vielleicht ist es ihnen ja auch gelungen.«

Juliette schüttelte den Kopf. »Du bist geistig gesünder, als sie es jemals sein werden. Wir sind beide ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber wir haben es da herausgeschafft.«

»Dank dir. Es tut mir leid, dass du mich in diesem Zustand sehen musst. Sowie ich das Gift entfernt habe, werde ich deine Kräfte wiederherstellen.«

»Mir ist gar nicht mehr so schwindlig. Ich glaube, mein Körper erholt sich schon wieder. Kümmere dich lieber erst einmal um dich.« Sie ertrug es kaum, mit anzusehen, wie blass Riordan wurde, als er mit enormer Anstrengung und seiner letzten Kraft versuchte, den giftigen Wirkstoff zu analysieren, der dazu benutzt worden war, ihn zu lähmen und zu schwächen. Ein Teil ihres Bewusstseins war mit Riordans verschmolzen, oder vielleicht war es auch umgekehrt, aber sie konnte all die Daten durch seinen Kopf schwirren sehen und war erstaunt, dass Riordan jede chemische Verbindung aufgliederte und auch verstand. »Wer bist du? Woher weißt du all das?«

Er lehnte sich an einen mit Moos bewachsenen Fels. »Ich habe ein langes Leben hinter mir und viel gelernt im Lauf der Jahre. Man hat wenig anderes zu tun, wenn man nichts hat, wofür man lebt. Wissen ist Macht, und es erhält einen am Leben, selbst wenn man gar nicht mehr in einer öden, leeren Welt verbleiben will.« Seine dunklen Augen glitten über Juliette, und er trat wieder näher und streckte ihr die Hand hin.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie ihre Finger mit seinen verschlang. Sofort erwachte ihr Körper zu neuem Leben, und es fühlte sich ganz natürlich an. Trotzdem wollte sie ihre Hand aus der Hitze der seinen zurückziehen, doch er sah so erschöpft und gequält aus, dass sie es nicht übers Herz brachte.

»Mit dir hat sich das alles geändert. Du hast mir die Fähigkeit zurückgegeben, Farben zu sehen und Gefühle zu verspüren. Ich habe vier Brüder, mit denen ich jahrelang mit nichts als der Erinnerung an meine Zuneigung zu ihnen zusammengelebt habe, aber von dem Moment an, als du mich angesprochen hast, spürte ich diese tiefe Liebe zu ihnen wieder. Wie könnte ich dir das je vergelten?« Seine Stimme war so leise, als spräche er mit sich selbst.

»Ich liebe meine Schwester und meine Cousine so sehr, dass ich mir nicht vorstellen kann, diese Liebe nicht verspüren zu können. Ich bin froh, dass ich dir helfen konnte, deine Gefühle wiederherzustellen.« Sie drückte seine Hand. »Hast du schon immer in Südamerika gelebt? Du scheinst dich jedenfalls sehr gut im Dschungel auszukennen.« Sie wusste, dass Riordan sich ausruhte und Kraft schöpfte, um das Gift aufzulösen und aus seinem Organismus auszuscheiden. Sie konnte jedoch auch spüren, dass er unaufhörlich die Luft absuchte und sich sorgte, dass der Vampir sie aufgespürt haben könnte, obwohl Riordan sein kostbares Blut geopfert hatte, um eine falsche Spur zu legen. Er hatte schon viele Male Vampire bekämpft, und durch Juliettes Verbindung mit ihm bekam sie eine vage Vorstellung von diesen fürchterlichen Kämpfen. Diese Kreaturen waren grotesk und böse und schlimmer als die menschlichen Ungeheuer, denen sie begegnet war.

»Vor vielen Jahren, als unser derzeitiger Prinz noch jung war, schickte sein Vater viele von uns in die Welt hinaus, denn er hoffte, wir könnten die Verbreitung des Bösen aufhalten. Ich hatte das Glück, zusammen mit meiner Familie fortgeschickt zu werden. Es machte es erträglicher, so weit von unserer eigenen Spezies und unserem Heimatland entfernt zu sein. Wir haben diesen Ort zu unserem Zuhause gemacht.« Er drückte ihre Hand, wie um Juliette Mut zu machen, und wollte sie dann loslassen.

Juliette verstärkte jedoch ihren Griff und zog an seinen Fingern, bis er sie ansah. »Ich bin stark genug, um dir zu helfen. Ich halte dich zwar aus meinem Bewusstsein fern, doch ich kann dich meine Kraft benutzen lassen.«

»Das musst du nicht, Juliette.« Es gefiel ihm, sie mit ihrem Namen ansprechen zu können, und es freute ihn, dass sie ihm helfen wollte, doch er war nicht der liebenswürdige, sanfte Mann, für den sie ihn zu halten schien. Er war viel rücksichtsloser, als sie ahnte, und hatte nicht die Absicht, sie entkommen zu lassen. »Ich will nicht, dass du Energie aufwendest, die du nicht erübrigen kannst.«

Das war eine deutliche Warnung. Ein Frösteln durchlief Juliette bei dem Gedanken, aber sie zog es vor, ihn unbeachtet zu lassen. Die Schmerzen hatten Riordan entkräftet, seine noch immer offenen Wunden bluteten, und hin und wieder konnte sie die Qualen sehen, die er litt, obwohl er sich so bemühte, sie abzuschirmen. »Es macht mir nichts aus. Ich sitze ja sowieso nur hier herum.« Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln. »Wie haben sie es geschafft, dich gefangen zu nehmen?«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Ich hörte einen Hilferuf über die gemeinsame telepathische Verbindung, die alle Karpatianer benutzen. Als ich dem Ruf zu seinem Ursprung folgte, traf ich jedoch keinen Karpatianer an, sondern einen Vampir. Leider war es unmöglich, ihn als solchen zu erkennen, bevor es zu spät war. Mir wurde das lähmende Mittel injiziert und genügend Blut entnommen, um mir alle Kraft zu nehmen.« Sein faszinierender, fast schon hypnotisierender Blick suchte Juliettes und ließ ihn nicht mehr los. »Es schockierte dich nicht, von meiner Spezies zu hören. Du hattest Angst vor mir, weil ich dein Blut auf diese Art und Weise nahm, und dafür möchte ich mich entschuldigen, doch die Tatsache, dass ich es brauchte, überraschte dich nicht wirklich. Wieso nicht, Juliette?«

Sie schwieg einen Moment, um ihre Worte abzuwägen. Er rührte an ihr Bewusstsein und suchte Antworten, das spürte sie, aber er war noch lange nicht wieder bei Kräften, und das Gift war sicher furchtbar schmerzhaft. Angesichts ihrer anderen Denkweise und der Stärke ihrer schützenden Barrieren gab er es auf, in ihren Geist eindringen zu wollen, und wartete auf ihre Antwort. »Als ich noch ein Kind war, verbrachten wir oft lange Zeitspannen im Dschungel. Nachts zündete meine Mutter ein Lagerfeuer an, und wir saßen darum herum und erzählten uns Geschichten. Unter anderem erzählte sie uns von einem großartigen Volk aus den Karpaten, einem europäischen Gebirge, die sich ›Karpatianer‹ nannten und über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügten. Und diese Leute tranken Blut, sagte unsere Mutter.«

»Woher wusste sie von ihnen?«

»Unsere Familie geht Hunderte von Jahren zurück. Offenbar begegnete einer meiner Vorfahren einer kleinen Gruppe von Karpatianern hier im Dschungel.« Ruhig schaute sie ihn an. »Fünf Brüdern, die, wie es hieß, eine große Rinderranch und sehr viel Land besaßen, das von einer menschlichen Familie bestellt wurde, während die Brüder bei Tageslicht unter der Erde schliefen.«

Juliette wartete auf eine Antwort auf ihre Schilderung. Aber Riordan starrte sie nur einen Moment lang schweigend an. Dann löste er sich von ihr und zog sich in sich selbst zurück, verließ seinen Körper und nahm sich zu einem Ball aus purer Energie zusammen. Seine Fähigkeit, sich selbst zu heilen, war faszinierend zu beobachten. Juliette blieb mit seinem Geist verbunden und sah ihn nicht nur die chemische Verbindung aufgliedern, um jedes einzelne Element untersuchen und identifizieren zu können. Sie erlebte auch mit, wie er die Informationen an jemanden weiterleitete, mit einer Warnung, sie unverzüglich dem Prinzen ihres Volkes und so vielen ihrer Jäger wie nur möglich zugänglich zu machen.

Die Information über eine gewisse Entfernung zu versenden war jedoch offenbar so anstrengend, dass Riordan stockte.

Wo bist du? Es war eine männliche Stimme, die Juliette über ihre Verbindung zu Riordan vernahm; diese Stimme war fordernd, Furcht einflößend und mit einem hypnotischen Zwang unterlegt, der so machtvoll war, dass er Juliette einen kalten Schauder der Furcht über den Rücken sandte. Riordan. Ich spüre deinen Schmerz.

Er zögerte. Komm nicht her! Ich kann das Gift allein neutralisieren und meine Kräfte wiederherstellen.

Juliette merkte, dass sie den Atem anhielt. Dem Mann, dem diese Stimme gehörte, wollte sie nicht begegnen, denn sie hatte etwas Gnadenloses, Rücksichtsloses und Beängstigendes, diese Stimme.

Doch dann spürte sie, wie Riordan sehr behutsam und beruhigend an ihr Bewusstsein rührte.

Ich werde nicht zulassen, dass du erneut gefangen genommen wirst. Du hattest den Auftrag, das Forschungslabor zu überprüfen, um zu sehen, was dort vor sich geht, hörte sie die fremde Stimme wieder.

Das Morrison Research Laboratory war nur eine Fassade für einen Vampir, der die Kontrolle über die Menschen hat, die unsere Leute jagen. Ich habe das Gebäude zerstört. Die Tiere, die sie zur Tarnung gefangen hielten, wurden befreit. Ich werde heimkehren, sowie ich wieder ganz bei Kräften bin, antwortete Riordan.

Und wo ist der Vampir?

Auf der Jagd nach uns. Riordan brach die Verbindung ab und warf Juliette einen Blick zu. »Meinem ältesten Bruder ist sehr viel daran gelegen, dass wir am Leben bleiben.«

»So ist das nun mal bei Familien. Meine Schwester wird sich auch schon große Sorgen um mich machen. Ich muss nach Hause.« Juliette blickte ihm prüfend ins Gesicht, in der Hoffnung, eine Reaktion zu sehen, aber seine gut geschnittenen Züge blieben völlig unbewegt.

Dann senkte er den Blick auf seine Arme, und sie konnte spüren, wie er seine Kräfte sammelte. Sehr langsam nur begann das Gift zu reagieren und setzte sich widerwillig in Bewegung, als er den schädlichen Wirkstoff zu seinen Poren dirigierte. Ein paar Tropfen drangen durch seine Haut, eine zähe goldene Flüssigkeit, die die Eigenschaft besaß, die Angehörigen seiner Spezies zu lähmen.

Juliette nahm einen kleinen Plastikbehälter aus der Tasche, die sie um die Taille trug, beugte sich vor und drückte den Rand der Dose an seinen Arm, um so viel wie möglich von der Flüssigkeit aufzufangen, bevor sie den Deckel wieder schloss. »Das könnte nützlich sein, falls deine Leute diesen Wirkstoff untersuchen wollen.«

Schwer atmend lehnte Riordan sich wieder an den Felsen, und kraftlos sank sein Kopf zurück. Juliette öffnete ihm augenblicklich ihr Bewusstsein und übermittelte ihm so viel von ihrer letzten Kraft, wie sie nur konnte. Sie kannte den Dschungel besser als die meisten, kannte jedes Rascheln im Unterholz, jedes Geräusch, das Vögel oder andere Tiere verursachten. Etwas Böses verfolgte sie, und der ganze Dschungel brummte von den Neuigkeiten. In ihrem geschwächten Zustand konnte sie nicht fliehen, aber sie zweifelte nicht daran, dass Riordan kämpfen würde, wenn er die nötige Kraft dazu besaß.

Er verlor keine Zeit, um auch den letzten Tropfen der giftigen Flüssigkeit so schnell wie möglich auszuscheiden. Sowie er sicher war, sich vollkommen davon befreit zu haben, tauchte er den Kopf in den Bach und wusch sich mit dem kalten Wasser die zähflüssigen, klebrigen Reste von den Armen ab. Als er sich danach wieder zu Juliette umdrehte, griff er nach ihr und zog sie auf seinen Schoß, um sie an seine Brust zu drücken.

Ihr war, als durchzuckte sie ein elektrischer Schlag, als ihre Körper sich berührten; ihr Mund war plötzlich wie ausgetrocknet, und ihr Puls begann zu rasen. »Was soll das, Riordan?«

»Ich werde einen Blutaustausch vornehmen. Dein Blut wird mir helfen, uns an einen sicheren Ort zu bringen, wo ich mich erholen kann, und mein uraltes Blut wird deine Kraft wiederherstellen, die du mir so großzügig gespendet hast.«

»Wird uns das aneinander binden?« Ihre Stimme klang vielleicht wie eine Einladung, aber sie hob in einer abwehrenden Geste die Hand und legte sie mit weit gespreizten Fingern an Riordans Brust.

»Ja.« Seine starken Finger glitten über ihre Wange und strichen ihr das Haar über die Schulter. »Obwohl wir auch so schon aneinander gebunden sind.« Und damit senkte er den Kopf und drückte das Gesicht an ihren warmen, verwundbaren Nacken. Das Wasser aus dem kleinen Bach, das von Riordan auf ihre Haut tropfte, war kalt und erfrischend in der schwülen Dschungelhitze.

Ein lustvoller kleiner Laut entrang sich ihr, als seine Zähne sich in ihre Schulter bohrten. Sie schmiegte sich noch fester an seinen harten Körper und bewegte sich unruhig, als ihr Blut mit einem Mal ganz ungewöhnlich heiß durch ihre Adern rauschte. Ihre Augen schlossen sich, ihre Hände sanken kraftlos auf ihren Schoß.

»Ich beanspruche dich als meine Gefährtin. Ich gehöre zu dir. Ich gebe mein Leben für dich. Ich biete dir meinen Schutz, meine Treue, mein Herz, meine Seele und meinen Körper. Dein Leben, Glück und Wohlergehen werden für mich immer an erster Stelle stehen. Du bist meine Seelengefährtin, in alle Ewigkeit an mich gebunden und immerdar in meiner Obhut«, sagte Riordan mit samtener dunkler Stimme.

Juliette spürte, wie diese Stimme durch ihren Körper vibrierte und sie im tiefsten Inneren berührte. Irgendwie brachten seine Worte sie so inniglich zusammen, dass sie buchstäblich mit einer Lunge atmeten und einen Herzschlag und eine Seele teilten. Riordan durchflutete sie wie eine dunkle Verlockung, erfuhr ihre Geheimnisse und gab ihr Einblick in die seinen. Er küsste sie, bis Flammen auf ihrer Haut zu tanzen schienen und ihr Körper Feuer fing und sich nach dem seinen sehnte. Juliette schüttelte den Kopf, plötzlich überrascht von dem rituellen Charakter des Ganzen – so konnte nur eine Zeremonie sein, die so alt war wie die Zeit.