4. Kapitel

Vorsichtig öffnete Juliette die Augen, halb in der Hoffnung, dass keines ihrer jüngsten Erlebnisse real gewesen war und sie einfach nur Albträume gehabt hatte. Sie hatte an dem Blutaustausch nur allzu bereitwillig teilgenommen, und nicht weniger bereitwillig hatte sie sich von diesem Fremden küssen lassen. »Verdammt, verdammt, verdammt«, murmelte sie und setzte sich auf dem Bett aus Blattwerk auf, auf dem sie lag.

Sie konnte das stete Tropfen von Wasser hören und sah, dass sie sich in einer Höhle befand. Das Bett aus Blättern und Zweigen, auf dem sie saß, war nichts Natürliches, sondern etwas von Menschenhand Geschaffenes. Riordan hatte ihr also einen sicheren Unterschlupf und ein weiches Bett beschafft, bevor er sich »unter die Erde«, begeben hatte. Juliette vermied es ganz bewusst, zu der Stelle hinüberzugehen, von der sie sicher war, dass er dort in einem Bett aus fruchtbarer schwarzer Erde ruhte. Sie konnte seine Nähe spüren, obwohl er tief unter dem Erdreich und dem Laub vergraben war, völlig reglos dalag und nicht einmal mehr atmete.

Juliette holte tief Luft, um ihre brennende Lunge mit Sauerstoff zu füllen, und trat noch weiter von dem Fleck zurück, um nicht dem verrückten Impuls zu erliegen, sich auf den Boden zu werfen und die Erde mit ihren Händen wegzuschaufeln, um zu Riordan zu gelangen. Deshalb entfernte sie sich noch etwas weiter. »Es war eine Art Zeremonie, nicht wahr?«, flüsterte sie. »Aber meine Leute heiraten nicht.« Wieder trat sie zurück, doch diesmal waren ihre Schritte widerstrebender. »Du bist ein außergewöhnlicher Mann, Riordan, aber ich bin nicht, was du denkst, und ich könnte es auch niemals sein.«

Sie hatte keine Wahl; sie musste nach Hause zu ihrer Schwester. Juliette zog ihre Stiefel aus und band sie an den Schnürsenkeln zusammen, schlüpfte aus ihrer Bluse und den Jeans und band auch diese beiden Kleidungsstücke an die Stiefel. Völlig nackt stand sie da und drückte eine Hand an ihren pochenden Nacken. Ihr Körper rief nach Riordan, ihr Geist suchte die Verbindung mit ihm und ihr Herz den Schlag des seinen. Schnell, bevor sie dem Schmerz und der in ihr erwachenden Unvernunft erlag, hängte Juliette sich die zusammengebundenen Kleider um den Nacken.

Dann schloss sie die Augen, um alle visuellen Ablenkungen auszuschließen und ihre Nerven zu beruhigen. Sie würde ihre ganze Kraft aufwenden müssen, um Riordan zu verlassen. Nachdem er die rituellen Worte gesprochen hatte, hatte er ihr genauestens erklärt, dass sie von nun an aneinander gebunden waren. Sollte sie je ohne ihn erwachen, würde sie die Trennung als intensiven Schmerz empfinden. »Und du hast mir nichts vorgemacht«, sagte sie laut. »Mir ist tatsächlich so, als zerrisse es mir das Herz. Was auch immer du sein magst, was auch immer du getan hast, es funktioniert ganz eindeutig bei mir.«

Was hast du vor? Besorgnis schwang in Riordans Stimme mit. Juliette glaubte zu spüren, wie seine Finger über ihr Gesicht glitten, an ihrem Hals hinunterwanderten und über ihre Brüste strichen. Und ihr Körper, der seine Berührung erkannte, reagierte mit Hitze und Verlangen.

Ihre Augen weiteten sich, und sie schaute sich verwundert um. Wo bist du? Warum kann ich dich nicht sehen? Wie kannst du mich berühren, obwohl du gar nicht hier bist?

Ich bin unter der Erde, bis die Sonne untergeht. Du kannst mich nicht verlassen, Juliette. Du weißt, dass du das nicht tun darfst.

Noch ein Geschenk? Du kannst mich berühren, aber ich kann dich nicht erreichen? Es war schockierend, dass seine Berührung ihr so real erschien, dass sie ihren Körper in Erregung versetze und ihr Herz bewegen konnte, obwohl er nicht einmal in ihrer Nähe war.

Sag mir, was du vorhast. Warum willst du mich verlassen, obwohl du spürst, dass wir zusammengehören?

Du kennst mich nicht. Nicht nur er hatte Geheimnisse, sie auch.

Du lässt mich ja auch nicht in deinen Geist und in dein Herz hinein.

Das kann ich nicht. Juliettes Hand glitt zu ihrer plötzlich rauen Kehle. Ihn zu verlassen war ein schmerzlicher Gedanke. Seine Stimme zu hören vergrößerte die Qual nur noch, aber sie hatte Verpflichtungen, die sie nicht außer Acht lassen konnte, nur weil ihr Herz, ihre Seele und ihr Körper nach Riordans schrien.

Du kannst mir nicht entkommen. Dein Blut fließt in mir und meins in dir. Er seufzte. Aber leider kann ich sehen, dass du fest entschlossen bist. Wenn es zu schwierig wird, dann ruf nach mir, und ich werde antworten. Und versuch, dich bis dahin nicht in allzu große Schwierigkeiten zu bringen. Und damit unterbrach er die Verbindung zwischen ihnen abrupt.

Der Verlust war wie ein harter Schlag für Juliette. Tief holte sie Atem und ließ ihn langsam wieder aus, während sie ihr anderes Ich aufrief, das ihr die Kraft geben konnte zurückzukehren, wohin sie gehörte. Dabei wollte sie eigentlich nichts anderes, als zu Riordan unter die Erde zu kriechen.

Die Verwandlung vollzog sich langsam, zögernd fast, als kämpfte ein Teil ihres Bewusstseins dagegen an. Ihr Körper zog sich zusammen, geflecktes Fell überzog nach und nach ihre Haut, Muskeln und Sehnen dehnten und verlängerten sich, und messerscharfe Krallen entsprangen ihren gekrümmten Händen. Wie immer landete sie auf allen vieren, als ihr Körper die Verwandlung durchmachte. Es war stets ein langsamer und irgendwie auch schmerzhafter Prozess, aber nie so sehr wie dieses Mal. Juliette weinte, als der Jaguar sie übernahm.

Die Raubkatze war klein und stämmig. Dicke Muskelstränge und ein äußerst biegsames Rückgrat ermöglichten es ihr, blitzschnell über den Höhlenboden zu sprinten und einen Weg hinaus in den heimischen Dschungel zu suchen. Ein sanfter Regen fiel, als sie aus der feuchten Höhle kam. Sie blieb stehen, um sich zu orientieren, bevor sie sich in die Bäume flüchtete und auf den von Ästen und Blattwerk erzeugten Pfaden hoch über dem Dschungelboden weiterlief. Da sie die tierische Gestalt nicht allzu lange beibehalten konnte, musste sie sie nutzen, um größtmögliche Entfernungen zurückzulegen, bevor sie sie wieder ablegte. Deshalb lief sie so schnell wie möglich und bahnte sich geschickt einen Weg durch dichtes Blattwerk und Lianen.

Der Regen vermochte das Blätterdach kaum zu durchdringen, sodass nur selten ein Tropfen ihr Fell berührte. Dampf stieg vom Urwaldboden auf, aber der Jaguar empfand die Hitze nicht so stark, wie Juliette sie empfunden hätte. Die Stiefel und Kleider, die sie um den Hals trug, schlugen gegen ihren Nacken und ihre Brust, als sie von Baumkrone zu Baumkrone sprang und sich einen Weg durch das dichte Blattwerk bahnte. Vögel schrien warnend bei ihrem Herannahen, und Affen kreischten und bewarfen sie mit Zweigen und Blättern. Sie fauchte sie an, eilte aber weiter, ohne sich damit aufzuhalten, den frechen kleinen Kerlen Manieren beizubringen.

Nach einer Weile begann sie zu zittern, und ihre Beine verloren ihre Kraft. Nachdem sie zweimal gestrauchelt und einmal über einen Ast gestolpert war, sprang sie schnell zu Boden. Sie war meilenweit von der Höhle entfernt; die Sonne ging schon unter, und Riordan würde sich jeden Augenblick erheben. Mit etwas Glück würde er nur die Witterung einer Raubkatze aufnehmen und sie nicht mehr finden.

Ihre Glieder zitterten, und ihre Lunge brannte, als ihr Körper wieder seine menschliche Gestalt annahm, und sofort zerkratzten Blätter und Zweige ihre nackte Haut. Schnell blickte sie sich um, um sicherzugehen, dass sie nicht in irgendetwas Giftigem hockte. Das Letzte, was sie wollte, waren Blasen auf ihrer Haut. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich im denkbar ungünstigsten Augenblick verwandelte. Leider hatte sie wenig Kontrolle darüber, wann die Gestalt des Jaguars sich nicht länger aufrechterhalten ließ.

Seufzend zog sie die Kleider wieder an. Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass der Stoff an ihrer Haut klebte. Juliette kam gut zurecht im Dschungel, doch ohne das Fell und die Krallen des Jaguars war es natürlich viel schwieriger, hoch oben in den Baumkronen voranzukommen. Das dichte Blattwerk hielt viel Licht ab, und da nun auch die Sonne unterging, wurde es im Dschungel sehr schnell dunkel. Juliette verfügte zwar über eine exzellente Nachtsicht, aber die würde ihr keine große Hilfe sein bei Raubtieren, die sich bei Nacht auf die Jagd begaben.

Die nächsten Meilen brachte sie hinter sich, indem sie abwechselnd rannte oder ging. Sie versuchte, auf den stetigen Rhythmus des Regens zu lauschen, doch in ihren Ohren klang er wie ein Herzschlag. Juliette versuchte, Riordans Geruch aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen, aber er hing an ihrem Körper und war nicht zu ignorieren. Tränen rannen ihr unaufhörlich über das Gesicht und ließen ihre Sicht verschwimmen. Ihr Kummer war wie ein bleiernes Gewicht, das ihre Schritte verlangsamte und ihr den Atem raubte.

Jeder Schritt war ein Kampf, sich weiterzubewegen, nicht umzukehren und zurückzulaufen, um Riordan zu suchen. Noch schlimmer war, dass ihr Geist schier unentwegt versuchte, Verbindung zu Riordans aufzunehmen. Gegen sich selbst anzukämpfen war aufreibender, als es mit dem Dschungel aufzunehmen. Juliette brauchte einen Ort, an dem sie sich ausruhen konnte. Nach einer Weile fand sie einen kleinen Kreis aus Felsbrocken, der nahezu vollständig von hohen Farnen verborgen war. Innerhalb des Steinkreises, der wie eine natürliche Grotte war, lag ein im Mondlicht schimmernder, von einem kleinen Wasserlauf gespeister Teich. Juliette setzte sich und erhob ihr Gesicht zu den Baumkronen, um die dunstähnlichen Tröpfchen aufzufangen, die es durch das dichte Blattwerk schafften. Donner grollte, und Blitze erhellten den Rand der Wolken; ein Brüllen erschütterte die Erde und die Bäume und kräuselte das Wasser auf dem bis dahin stillen Teich. Juliettes Hand flog zu ihrem Herzen. Riordan war erwacht und aus der Erde hervorgekommen.

Juliette war nicht mehr da. Riordans erste Reaktion war, aufzubrüllen vor Schmerz und Enttäuschung, und dann stieß er in einem langen, ärgerlichen Zischlaut den Atem aus. Am liebsten hätte er Juliette einmal kräftig durchgeschüttelt. Die körperliche Anziehung zwischen ihnen war wie ein durch nichts mehr aufzuhaltendes Feuer, und das allein hätte schon genügen müssen, um sie an ihn zu binden. Sie konnte sich auf eine lange, schwere Zeit gefasst machen, ohne ihn und ganz allein dort draußen. Die während des Bindungsrituals gesprochenen Worte würden ihr Bewusstsein zwingen zu versuchen, den Kontakt mit seinem herzustellen. Er hatte es ihr erklärt, um ihr die Qualen zu ersparen, die sie zweifellos jetzt erlitt. Auch er konnte schon die Auswirkungen ihrer Trennung spüren. Noch schlimmer war jedoch, dass er ihren Kummer ebenfalls empfand, einen Sturzbach von Gefühlen, die mindestens so tief waren wie diese Quelle der Leidenschaft, die er in ihr entdeckt hatte. Juliette empfand alles sehr, sehr intensiv. Riordan fuhr sich mit den Fingern durch das lange Haar. Er musste schnellstens Beute suchen. Eigentlich benötigte er mehr Zeit in der Erde, um zu gesunden, aber mehr als alles andere brauchte er Juliette. Er blickte zum Himmel auf und brüllte wieder seinen Schmerz heraus. Sie hatte den Damm um seine Gefühle gebrochen. Er erinnerte sich nicht, jemals Zorn, Eifersucht oder Furcht empfunden zu haben, doch all diese Gefühle, vermischt mit Kummer, bestürmten jetzt auf einmal seinen Geist. Es war eine gefährliche Mischung.

Riordan fand die Spuren einer großen Raubkatze, aber nicht die Fußabdrücke einer Frau. Sein Herz klopfte zum Zerspringen aus Furcht um Juliette und Sehnsucht nach ihr. Es war ihr gelungen, sich zu tarnen und keine Spuren zurückzulassen, doch der Ruf des Blutes und die Bande, die sie einten, waren viel zu stark, um je zu brechen. Riordan durchquerte schnell die Höhle, verwandelte sich noch im Laufen und erhob sich als dichte weiße Nebelsäule in die Luft. Der Himmel war in Orange- und Rottöne getaucht, grell und fast zu blendend für einen Mann, der so lange nur Schattierungen von Grau gesehen hatte. Selbst mit dem dichten Nebel zum Schutz platzte ihm fast der Kopf von der schier unerträglichen Intensität und Helligkeit der Farben. Riordan jagte zwischen den Bäumen hindurch und blieb unterhalb der Baumkronen, wo er den Schutz des Blattwerks nutzte, während er sich an seine neue Sicht gewöhnte.

Das Kreischen eines Vogels war das Einzige, was ihn warnte, als er plötzlich gegen etwas stieß und zurücktaumelte. Regentröpfchen glitzerten für einen Moment auf einem silbernen Netz, das über ihm herabfiel. Instinktiv schoss er nach oben, durch das silberne Netz hindurch und darüber hinweg. In seiner gegenwärtigen Form konnte er durch die Maschen hindurchschlüpfen, aber trotzdem spürte er die rasiermesserscharfen dünnen Klingen, die ihm die Haut zerschnitten.

Riordan! Angst, ja Panik schwang in Juliettes Stimme mit.

Die Falle war eigens für ihn errichtet worden. Juliette hatte gewusst, dass er ihr folgen würde. Aber er konnte die Barrieren in ihrem Geist nicht ganz durchdringen. Könnte sie ihn verraten haben? War es überhaupt möglich, dass ein Seelengefährte seine andere Hälfte verriet? Riordan bezweifelte es, doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, und so antwortete er einfach nicht und zog sich aus Juliettes Geist zurück. Das Echo ihres entsetzten Aufschreis zerriss ihm das Herz, aber er ließ sich davon nicht umstimmen, als er zu den Baumkronen hinaufflog und sich in einen Vogel verwandelte. Dann verhielt er sich ganz still, versteckte sich zwischen den anderen Vögeln in dem Baum und besah sich aufmerksam die Falle, die für ihn errichtet worden war.

Sie war herabgeschnellt, ohne von jemandem bedient worden zu sein; er war einfach nur hineingeflogen. Das bedeutete, dass dort draußen noch andere Fallen auf ihn warten könnten. Blut lief an seinem Schnabel herab und sickerte durch sein Gefieder. Tief unten auf dem Dschungelboden lag das silberne Netz, an dessen dünnen Drähten Riordan Spuren seines Blutes sehen konnte.

Menschen, Marionetten eines Vampirs, hatten die Falle aufgebaut, und nur ein Meistervampir konnte seine Gegenwart vor Riordan verborgen haben. Er hatte es mit etwas äußerst Mächtigem und Unheilvollem zu tun. Mit etwas, das bereit war, sich mit Menschen zusammenzuschließen und sie für seine eigenen skrupellosen Zwecke zu benutzen.

Furcht um seine Gefährtin erfasste Riordan. Juliette war irgendwo allein und schutzlos. Die Sache mit der Falle konnte nichts mit ihr zu tun haben. Was für einen Sinn hätte es, ihn zuerst zu retten, um ihn dann in eine Falle zu locken? Er rührte an ihr Bewusstsein und hörte sie weinen, was ihm wieder fast das Herz zerriss. Für einen Moment wurde seine Kehle so eng, dass er keine Luft bekam und zu ersticken glaubte. Wie konnte ihr leises Weinen ihn derart aufwühlen?

Juliette? Es ist nichts passiert, es war nur eine Falle, die aber versagt hat.

Ein kurzes Schweigen folgte. Er stellte sich vor, wie Juliette ihre Tränen abwischte, und spürte den Ärger, der sich in ihr regte. Ich finde es abscheulich von dir, dass du uns das angetan hast! Uns aneinander zu binden, bis wir ohne den anderen nicht mehr atmen können!

Das Schicksal hat uns aneinander gebunden, Juliette.

Du hattest eine Wahl.

Nein, die hatte ich nicht. Ich war aufrichtig schockiert darüber, dich zu finden. Ich hatte nie damit gerechnet, dir zu begegnen. Sag mir, warum du so widerspenstig bist! Ich kann dir helfen, egal, welche Aufgabe du dir vorgenommen hast. Du bist gar nicht so sehr gegen unsere Verbindung, wie du es mich glauben machen willst.

Er spürte ihren Schreck darüber, dass er ihre Schutzbarrieren in einem solchem Maß durchdrungen hatte, fühlte, wie es sie verletzte, dass er auch nur überlegte, ob sie Teil einer Verschwörung gegen ihn sein könnte, obwohl sie ihr Leben riskiert hatte, um ihn aus dem Laboratorium zu befreien. Auch dass sie sich von ihm zurückzog, spürte er, aber das durfte er nicht so wichtig nehmen. Er würde sie finden. Ihm blieb gar keine andere Wahl.

Karpatianer reisten häufig in Gestalt einer Eule. Der Vampir hatte jedoch eine Falle konstruiert, um Riordan in Form von Nebel zu erwischen, da er wusste, dass karpatianische Jäger ihn oft zur Fortbewegung nutzten. Ebenso gut könnte er aber auch eine Falle für einen Vogel vorbereitet haben, und deshalb nahm Riordan nun die Gestalt einer flinken kleinen Zibetkatze an, um sich schnell durch das Gewirr der Baumkronen bewegen zu können. Jede andere Falle für ein Tier wäre für einen Wolf oder den viel schwereren Leopard gedacht, deren Gestalt Karpatianer üblicherweise für schnelles Vorankommen benutzten.

Riordan war jetzt viel vorsichtiger, als er sich von Ast zu Ast bewegte, und immer wieder suchte sein Geist die Verbindung zu Juliettes. Er war es gewohnt, sich vollkommen im Griff zu haben, ohne die Gefahr intensiver Emotionen, und seine neu erwachten Gefühle brachten ihn spürbar aus dem Gleichgewicht. Er seufzte. Ich bin ebenso gefangen wie du, Juliette.

Das darauf folgende Schweigen war so lang, dass er schon befürchtete, keine Antwort mehr zu bekommen. Ich würde es nicht ›gefangen‹ nennen. Ich bin nur wie besessen, was ich sehr beunruhigend finde.

Ich habe nichts dagegen, der Gegenstand deiner Besessenheit zu sein.

Ich schon. Ich will nicht von irgendwas oder irgendwem besessen sein, und schon gar nicht von einem Mann.

Er spürte die Angespanntheit ihrer Stimme und das nur mühsam unterdrückte Verlangen, das in ihr mitschwang. Irgendwo in diesem Dschungel dachte Juliette an ihn und sehnte sich nach ihm. Schweigen folgte wieder, und er erhielt einen kurzen Eindruck von den Bildern in Juliettes Kopf: ihre Münder, die sich fanden, ihre Hände, die ihn streichelten, ihre Lippen, die über die hässlichen Brandmale auf seiner Brust glitten. Riordans Temperatur stieg an. Sein Kopf dröhnte, sein Körper wurde hart, und ein fast schmerzhaftes Ziehen ging durch seine Lenden. Die kleine Katze strauchelte, als der Sexualtrieb sie erfasste.

Das kannst du mir nicht antun. Riordan wusste, dass seine Stimme heiser und ein wenig schroff war, aber das ließ sich nicht ändern. Sein Körper brannte, eine schmerzhafte Erregung beherrschte ihn, die jeden Schritt zur Qual machte und, von den animalischen Gelüsten der Katze angetrieben, auch das Tier in ihm nach seiner Gefährtin brüllen ließ.

Warum nicht? Es ist deine Schuld. Ich glaube nicht, dass meine erotischen Fantasien von dir auch nur halb so schlimm sind, wie von dir berührt zu werden, ohne dass du einen Finger an mich legst.

Die kleine Zibetkatze machte einen Satz über einen dicht belaubten Ast, war aber nicht schnell genug und prallte fast mit einer dicken, um einen Ast gerollten Schlange zusammen. Die Katze fauchte und zischte, als sie einen großen Bogen um das Reptil machte.

Riordan stöhnte fast, denn Juliettes Fantasie endete keineswegs damit, dass sie ihn nur streichelte oder küsste. Sie stellte auch noch herrlich sündige Dinge mit ihren Lippen an, ließ sie quälend langsam an seinem Körper hinuntergleiten, um ihn dann mit der heißen Seide ihres Mundes zu umfangen. Er stöhnte laut, und ein Erschauern durchlief die kleine Katze. Es fiel ihm zunehmend schwer, die Gestalt der Zibetkatze beizubehalten, als hemmungsloses sexuelles Verlangen ihn überschwemmte. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, seine vollständige Genesung abzuwarten, und wenn er seine Kraft wiedergewinnen wollte, brauchte er jetzt unbedingt Nahrung.

Sein dringlichstes Bedürfnis war jedoch, Juliette zu finden, sie in die Arme zu schließen und mit ihr zu verschmelzen, um den Druck zu lindern, der sich mit erbarmungsloser Heftigkeit in ihm aufbaute und ihm schier den Verstand zu rauben drohte. Fast konnte er schon die sanfte Berührung ihrer Lippen an seinem Körper spüren, ihren Geschmack und ihre Hitze kosten und ihre weiche Haut unter seinen Fingern fühlen.

Ein Geräusch schreckte ihn aus seinen Träumereien auf, und sofort kauerte sich die kleine Katze in das Blattwerk und verhielt sich völlig still. In der Ferne nahm er einen leisen, von den üblichen nächtlichen Geräuschen gedämpften Laut wahr. Insekten summten, Fledermäuse zogen flatternd ihre Kreise, und Blätter raschelten, als kleinere Nagetiere sich Schutz suchend in die Büsche schlugen. Größere Raubtiere jagten auf leisen Pfoten. Aber das Geräusch, das Riordan zwischen alldem hörte, war menschlicher Natur – und schien von einer Frau herzurühren.

Riordan verharrte regungslos, sandte seine Sinne in die Nacht aus und ließ sie die Umgebung nach Eindringlingen absuchen, nach weiteren Fallen und vor allem der Identität des ein paar Meilen weit entfernten Menschen.

Es war Juliette. Riordans Herz begann in seiner Brust zu hämmern, als er wieder seine natürliche Gestalt annahm und seine Zähne sich erwartungsvoll verlängerten. Sie war in der Nähe, nah bei einem Bach. Er konnte das Wasser über Felsen plätschern und in irgendeine Art von Teich hinunterfallen hören. Juliette musste dort gerastet haben, um sich von der Hitze des Dschungels und dem außer Kontrolle geratenen Feuer zwischen ihnen abzukühlen. Als Riordan völlig sicher war, dass sie allein waren und meilenweit kein anderer in der Nähe war, näherte er sich ihr im Schutz des üppigen Blattwerks.

Ich will dich, raunte er in ihrem Kopf, und das war die reine Wahrheit, denn er wollte sie und brauchte sie.

Juliette zögerte nur kurz. Nun ja, vielleicht will ich dich ja auch, aber ich habe Dinge zu erledigen und Verpflichtungen zu erfüllen. Ich kann nicht einfach deinetwegen mein Leben ändern.

Ihre Stimme war atemlos und rau vor Sinnlichkeit. Sie war beherrscht von der gleichen Hitze, den gleichen Sehnsüchten wie er. Riordan begann zu verstehen, was Seelengefährten waren. Er war zu lange von seinen Leuten fort gewesen und hatte vergessen, wie eng die Bande waren. Er hatte nicht mehr gewusst, dass Gefährten alle Gefühle teilten – und dass die Beziehungen zwischen ihnen stets sehr intensiv und überaus erotisch waren.

Riordan fand den kleinen Steinkreis, in dem Juliette sich erholte. Er blieb über ihr in den Bäumen hocken, und eine überschäumende Freude erfasste ihn schon allein bei ihrem Anblick. Sie war so schön, dass sie ihm den Atem, ja sogar die Sprache raubte. Er könnte Juliette eine Ewigkeit lang ansehen und dessen niemals müde werden.