9. Kapitel

Woran arbeiten Sie?«

Die Stimme, die so dicht hinter ihr erklang, erschreckte Jenny so sehr, dass ihr Bleistift über den Zeichenblock flog. Schnell hob sie den Stift auf, drückte den Block beschützend an die Brust und warf einen Blick über die Schulter. »Professor Hinkle. Was tun Sie hier?«

»Ich bin der Projektinspizient, Professor Rose, und inspiziere.« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf ihren Zeichenblock. »Und den brauchen Sie gar nicht zu verstecken, denn ich habe ihn schon gesehen.« Dann nahm er ihn ihr aus der Hand und sah ihn sich genauer an.

»Meine Tür war abgeschlossen, Professor Hinkle.«

»Ich habe Schlüssel zu jeder Tür in diesem Haus.« Er starrte die Seite an, auf der Jenny aus dem Gedächtnis festgehalten hatte, wie Samuel bei der Verwandlung ausgesehen hatte. Sie war nicht sicher, warum sie ihn gezeichnet hatte; sie hatte das Bild einfach zu Papier bringen müssen, um es aus ihrem Kopf zu vertreiben und zu versuchen, aus alldem schlau zu werden.

»Sie haben ihn gestern Abend also wiedergesehen?«, fragte Hinkle.

»Ich habe gar nichts gesehen. Das sind nur Kritzeleien.« Jenny nahm ihm den Zeichenblock wieder ab. »Und ich dachte, ich hätte klargestellt, dass ich Sie nicht in meinen Zimmern sehen will.«

»Stützt die Zeichnung sich auf irgendjemanden, den Sie kennen?«

»Sie wechseln das Thema. Ich werde eine Beschwerde an der Universität einreichen, wenn sie sich nicht aus meinen Zimmern fernhalten.«

»Die Zeichnung weist eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Arzt der Stadt auf«, fuhr Hinkle ungerührt fort. »Wie ist doch noch sein Name? La Roque?«

»Machen Sie sich nicht lächerlich, Professor Hinkle!«

Er zuckte die Schultern. »Laut Toby waren Sie gestern Abend mit diesem Mann zum Dinner aus. Haben Sie die Nacht mit ihm verbracht, Professor?«

»Was reden Sie da?«, sagte Jenny empört. »Ich bin gestern Nacht nach Hause gekommen.«

»Ja, nach Ihrem Date.«

»Das war kein Date, sondern Recherche. Ich wollte wissen, ob Doktor La Roque irgendwelche Patienten mit unerklärlichen Verletzungen gesehen hatte.«

»Und? Gab es welche?«

»Nein. Nicht einen einzigen.«

Hinkle nickte. »Ich habe nicht gesehen, dass er Sie nach Hause gebracht hat.«

»Mir war nach einem Spaziergang.« Mist, er beginnt Verdacht zu schöpfen!, dachte sie. Mehr als zuvor erkannte sie, dass Samuel recht hatte. Wenn sie mit ihren Studien weitermachte, würde es unmöglich sein, Samuels Identität noch viel länger zu schützen. Und sie war sich zwar nicht sicher, warum, aber eine instinktive Angst erfasste sie bei dem Gedanken, dass Professor Hinkle die Wahrheit erfahren könnte.

»Und dann sind Sie wieder weggegangen«, fuhr er fort. »Ich habe später nachgesehen. Sie haben nicht hier geschlafen.«

»Sie haben also mitten in der Nacht in meinem Schlafzimmer herumgeschnüffelt, als Sie glaubten, ich schliefe? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Hinkle?«

»Wo haben Sie die Nacht verbracht, Jenny?«

Sie unterdrückte ihren Ärger, weil der ihn nicht vom Thema abbringen würde. »Ich bin noch mal in den Wald gegangen. Nach allem, was wir bisher wissen, ist dieses Wesen – falls es überhaupt existiert, was ich zu bezweifeln beginne – ein Nachttier. Ich hatte gehofft, es zu entdecken.« Sie zuckte mit den Schultern und seufzte schwer. »Aber ich fand keine Spur von ihm. Ich sage es nur ungern, Professor Hinkle, doch ich bin fast so weit, Ihnen zuzugestehen, dass Sie recht haben könnten. Möglicherweise vergeuden wir nur unsere Zeit hier unten.«

Er zuckte die Schultern. »Wir haben noch eine weitere Nacht, um Ergebnisse zu erzielen. Es ist schließlich noch immer Vollmond, wissen Sie.«

»Natürlich weiß ich das.«

»Falls wir auch danach noch keine Ergebnisse haben, drehe ich dem Projekt den Hahn zu. Dann werden wir morgen packen und zur Universität zurückkehren.«

Jenny nickte zu seinen Worten und versuchte, die Erleichterung darüber zu verbergen. Wenn er etwas wüsste – wenn er auch nur die leiseste Ahnung hätte –, würde er bestimmt nicht in Erwägung ziehen, das Projekt zu beenden. Aber welcher vernünftige Mann würde auch glauben, dass ein Mensch zu einem Wolf werden konnte? »Vielleicht wäre es das Beste.« Jenny hätte weinen können. All die Arbeit, all die Forschung – und nun, da sie dem Erfolg so nahe war, warf sie alles weg. Doch sie konnte ihren persönlichen Erfolg nicht auf der Zerstörung von Samuels Leben begründen. Das wäre unfair. Außerdem – so unvernünftig es ihr auch erschien – empfand sie etwas für diesen Mann. Etwas Starkes, sehr, sehr Machtvolles.

»Ich muss schon sagen, Professor Rose, ich bin überrascht. Normalerweise geben Sie nicht so einfach auf.«

Sie zuckte mit den Schultern und versuchte, sich zumindest einen gewissen Enthusiasmus anmerken zu lassen. »Wie kommen Sie darauf, dass ich aufgebe? Wie Sie schon ganz richtig sagten, haben wir noch immer eine Nacht.«

»Ja. Wir haben noch immer eine Nacht.«

Bei diesen Worten war etwas in Hinkles Augen, das ihr plötzlich Angst einjagte.

Sowie er das Zimmer verlassen hatte, rief Jenny die passwortgeschützten Dateien auf und löschte alle. Sie hatte ihren Entschluss gefasst: Sie würde sich einen Namen machen, indem sie irgendeine vertretbare unbekannte Tierspezies entdeckte, jedoch nicht, indem sie einen Mann benutzte, der sich nach Kräften bemühte, sein Leben unter der schweren Last eines Fluches weiterführen zu können.

Jenny war nicht einmal sicher, dass sie an Flüche glaubte, aber sie wusste, mit wem sie über dieses Thema sprechen konnte. Und auch wenn sie sich dazu entschieden hatte, ihre Untersuchungen nicht mit Samuel als Studienobjekt fortzusetzen, hatte sie doch keineswegs beschlossen, den Kontakt zu ihm ganz abzubrechen.

Vielleicht kann ich ihm sogar helfen, dachte sie.

Diesmal steckte sie den Laptop in ihre Schultertasche, um ihn mitzunehmen. Sie würde das Ding nicht mehr aus den Augen lassen, bis sie eine neue Festplatte einbauen und die alte vernichten lassen konnte. Denn selbst wenn sie ihre Dateien löschte, würden sich Spuren von ihnen wiederherstellen lassen, falls sich jemand die Mühe machte. Die Tasche über der Schulter, ging sie in die Küche, wo Mamma Louisa Brotteig knetete.

Ohne aufzublicken, sagte die ältere Frau: »Hallo, ma chère. Ich nehme an, Sie suchen mich?«

»Ja.«

»Weiß er, dass Sie mit mir reden?«

Es war überflüssig zu fragen, wen sie meinte. Jenny war inzwischen sehr wohl bewusst, dass Mamma Louisa die Identität des loup garou bekannt war. »Nein. Er sagt, es hätte keinen Zweck, mit Ihnen zu sprechen, Sie hätten sich bereits geweigert, ihm zu helfen.«

Kopf und Augenbrauen der Haushälterin fuhren in die Höhe. »Das waren seine Worte?«

Jenny nickte.

»Pah! Dieser arrogante, besserwisserische Doktor!« Sie ballte die Hände zu Fäusten und stieß sie in den Teig.

»Sie meinen, Sie haben sich gar nicht geweigert?«

»Ich habe ihm die Wahrheit gesagt: Ich kann den Fluch nicht aufheben. Das kann nur der, der ihn damit belegt hat. Und wie Sie sich denken könnten, ist meine Urgroßmutter Celeste schon lange tot.«

»Dann gibt es also keine Hoffnung mehr für ihn?«

Mamma Louisa legte ein Küchentuch über die Keramikschüssel mit dem Brotteig und stellte sie an ein Fenster, durch das die Sonne hereinschien. Dann wusch sie sich Mehl und Teig von den Händen und trocknete sie ab. »Hoffnung gibt es immer, ma chère. Ihr Doktor ist leider wütend fortgestürmt, als ich ihm sagte, dass ich den Fluch nicht aufheben kann. Er hat nicht gefragt, ob ich ihm anders helfen könnte. Ich denke, er will meine Hilfe nicht – und vielleicht verdient er sie auch nicht.«

Ein Hoffnungsschimmer erwachte in Jenny. »Es gibt also etwas, das Sie tun könnten?«

»Das kann ich nicht sagen, bevor ich es versuche. Doch das werde ich nicht, solange er sich nicht entschuldigt und mich anständig darum bittet.«

»Das klingt vernünftig, finde ich.«

»Dieser sture Mann ist aber offensichtlich anderer Meinung«, entgegnete sie schulterzuckend. »Und selbst wenn er es täte, weiß ich nicht, ob ich ihm helfen kann.«

»Doch Sie würden es versuchen?«

»Wenn er sich entschuldigt, ja. Mehr kann ich nicht tun.«

»Das genügt. Das muss es«, sagte Jenny.

Jenny versuchte dreimal, Samuel anzurufen, erhielt von der Sprechstundenhilfe aber immer nur die Antwort, er sei mit Patienten beschäftigt und könne den Anruf nicht entgegennehmen. Schließlich fuhr sie zu seiner Praxis, doch ein Blick in das überfüllte Wartezimmer genügte, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Es war gerammelt voll mit schniefenden Kindern und hustenden und schnaufenden Erwachsenen. Sie wollte gerade wieder gehen, als Samuel aus dem Untersuchungszimmer kam, sie entdeckte und sie zu sich winkte.

Durch die bis zur Tür stehenden Patienten bahnte sie sich einen Weg zu ihm und fragte sich, warum es sie mit solch freudiger Erregung erfüllte, Samuel wiederzusehen. »Ich kann sehen, dass du beschäftigt bist«, sagte sie, »und will nicht stören.«

»Ein paar Minuten kann ich mir nehmen«, entgegnete er lächelnd. »Ich wusste, dass du hier warst – ich habe dich gespürt. Deshalb bin ich herausgekommen.« Er wandte sich an die Sprechstundenhilfe. »Eine Sekunde nur«, bat er. »Sally, bring Mrs. Finny in Raum eins und sag ihr, dass ich gleich bei ihr sein werde.« Dann nahm er Jennys Arm und führte sie auf einen Gang hinaus, an dessen Ende sich ein kleiner Raum befand, in dem der Schreibtisch fast wie ein nachträglicher Einfall wirkte neben den bequemen Sesseln, dem Tisch und der Kaffeemaschine.

Jenny trat vor Samuel ein, setzte sich aber nicht, sondern drehte sich zu ihm herum. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, sagte sie: »Ich habe all meine Dateien gelöscht und werde … der Sache nicht weiter nachgehen. Nicht auf wissenschaftlicher Ebene jedenfalls.«

Samuel runzelte die Stirn und sah ihr prüfend und ein bisschen misstrauisch ins Gesicht. »Aber weitermachen wirst du.«

»Nicht, wenn du Nein sagst. Doch ich glaube, ich kann dir helfen, Samuel. Ich habe mit Mamma Louisa gesprochen, und sie …«

»Mamma Louisa wird mir nicht helfen. Das habe ich dir doch schon gesagt.«

Jenny schüttelte den Kopf. »Du hast sie gebeten, dich von dem Fluch zu befreien, nicht, dir zu helfen. Und sie hat dir gesagt, dass sie es nicht kann, aber nicht, dass sie es nicht versuchen würde.«

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Hat sie sich dir gegenüber anders geäußert?«

»Ja. Sie sagte, den Fluch hätte nur Celeste aufheben können, doch vielleicht könnte sie etwas tun, um dir zu helfen.«

»In welcher Weise helfen?«

»Das weiß ich nicht, Mamma Louisa ist nicht genauer geworden. Sie ist sich nicht mal sicher, dass sie es kann, aber sie ist bereit, es zu versuchen.« Jenny zuckte mit den Schultern. »Vorausgesetzt, du entschuldigst dich bei ihr für deinen Wutausbruch und bittest sie sehr nett darum.«

Für einen Moment wirkte er verärgert, und Jenny legte schnell beruhigend die Hand auf seine Schulter. »Nicht sie war es, die deine Familie mit dem Fluch belegt hat. Du kannst ihr genauso wenig die Schuld daran geben, wie sie dich verantwortlich machen kann für das, was dein Urgroßvater Alana DuVal angetan hat.«

Seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. »Ja. Du hast recht. Und ich bin tatsächlich eingeschnappt davongestürmt, als sie sagte, sie könne mir nicht helfen. Seitdem habe ich nie wieder mit ihr gesprochen.« Er verzog das Gesicht. »Seit zwei Jahren nicht mehr, Jenny.«

»Dann wird es Zeit, damit wieder anzufangen und euch zumindest wieder zu vertragen.«

»Na schön.« Samuel seufzte. »Ich habe nachgedacht … vor allem darüber, dass ich dir gesagt habe, ich wolle keine Heilung.« Er wandte sich ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich möchte dich auch weiter sehen, Jenny. Ich … ich will dich in meinem Leben haben. Irgendwie. Und wenn ich diese … Sache aufgeben muss, damit es möglich ist, dann bin ich dazu bereit.«

Jenny lächelte ein wenig. »Du würdest das für mich tun?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich würde es vermissen, mit Mojo die Wälder zu durchstreifen und den Mond anzuheulen«, sagte er mit einem verschmitzten Blick. »Aber dich würde ich sehr viel mehr vermissen. Ich wäre immer traurig, nie erfahren zu haben, was sich zwischen uns hätte entwickeln können.« Ein wenig verlegen senkte er den Blick. »Weil ich glaube, dass du die Richtige sein könntest, Jenny.«

Die Worte wärmten ihr das Herz wie goldene Sonnenstrahlen. Ihre Kehle wurde so eng, dass sie kaum noch Luft bekam, und als sie endlich etwas sagen konnte, war ihre Stimme rau vor Emotionen. »Ich würde dich nicht bitten, dein Leben für mich zu ändern, Samuel. Es muss deine Entscheidung sein, nicht meine.«

»Aber …«

»Ich glaube auch, dass du der Richtige sein könntest, und ich werde nicht aus deinem Leben verschwinden, nur weil du bist, was du bist. Himmel, was du bist … das ist es doch, worin ich mich verliebt habe, oder nicht?«

Er sah ungemein erleichtert aus. »Meinst du das wirklich ernst?«

In dem Moment klopfte es an der Tür. »Doktor, Ihre Patientin wartet.«

Samuel befeuchtete seine Lippen. »Ich muss …«

»Ich weiß. Aber tu mir den Gefallen und triff dich wenigstens mit Mamma Louisa. Ihr müsst euch vertragen, unabhängig davon, ob sie dir helfen kann oder nicht oder ob du beschließt, ihre Hilfe anzunehmen oder nicht. Rede wenigstens mit ihr.«

Er nickte. »Das werde ich.«

»Doch für dieses Gespräch werden wir Ungestörtheit brauchen«, fügte Jenny schnell zu. »Komm zur selben Stelle, an der wir gestern Nacht waren. Zu dem Gehölz, in dem sich die Voodoo-Anhänger versammelt hatten. Ich bringe Mamma Louisa mit, und wir treffen uns dann dort.«

»Nicht später als acht«, sagte Samuel warnend. »Bevor der Mond aufgeht.«

»Einverstanden. Um acht also.« Sie wollte zur Tür gehen, doch er hielt sie zurück, zog sie an sich, bis sein Körper sich an ihren presste, und küsste sie. Es war ein hungriger Kuss, sinnlich und berauschend, und Jenny schlang die Arme um Samuels Nacken und erwiderte den Kuss mit gleicher Leidenschaft.

Doch dann klopfte es schon wieder an der Tür, und widerstrebend ließ Samuel Jenny gehen.

Jenny war nervöser als je zuvor in ihrem Leben, als sie zu der Plantage zurückkehrte. Sie dachte sich Aufgaben aus, um Mike und Toby zu beschäftigen, setzte Carrie an noch mehr Recherchen und gab sich die größte Mühe, ihre Unruhe vor Professor Hinkle zu verbergen, der den ganzen Nachmittag wie ein Schatten an ihren Fersen hing.

Er argwöhnte irgendetwas – daran gab es keinen Zweifel –, und die Hartnäckigkeit, mit der er den ganzen Tag an ihr klebte, ließ sie sich fragen, wie es ihr gelingen sollte, ihm am Abend zu entkommen.

Am späten Nachmittag, als Mamma Louisa das Essen im Speisezimmer auftrug, war Jenny so weit, dass sie die Wände hätte hochgehen können. Sie hatte die Haushälterin nicht einmal über ihr abendliches Vorhaben informieren können. Wann immer sie Mamma Louisa einen Moment allein erwischte und mit ihr zu reden begann, erschien Professor Hinkle wie ein im Verborgenen lauernder Dämon. Jenny sah ihn aus den Augenwinkeln oder spürte plötzlich, wie es ihr kalt über den Rücken lief, und wenn sie sich umdrehte, entdeckte sie ihn nie sehr weit entfernt.

Während des Essens gelang es ihr jedoch, Mamma Louisas scharfen Augen zu begegnen, und sie versuchte, ihr durch einen vielsagenden Blick auf Professor Hinkle eine Botschaft zu vermitteln. Einen Augenblick später wusste sie, dass die Botschaft angekommen war. Die große Frau beugte sich vor, um eine weitere Karaffe mit Eiswasser auf den Tisch zu stellen, und kippte das Wasser »versehentlich« auf Hinkles Schoß.

Er stieß einen Schrei aus und sprang auf; die Hose war vollkommen durchnässt. »Verdammt noch mal, Frau, können Sie nicht aufpassen?«

»Oje! Das tut mir aber leid, Mister! Eva Lynn, Liebes, bring Handtücher für Professor Hinkle!«

Eva Lynn kam mit einem Stapel weißer Tücher aus der Küche herbeigeeilt. Hinkle riss ihr eines aus der Hand und stapfte auf die Treppe zu, gefolgt von der jungen Frau, die den hinteren Teil seiner Hosenbeine betupfte, während Mamma Louisa Jenny einen Blick zuwarf und nickte.

»Ich helfe Ihnen, bis Eva Lynn zurückkommt«, sagte Jenny der anderen drei am Tisch wegen, bevor sie in die Küche eilte.

»Sie wollten mit mir sprechen, nicht?«, fragte Mama Louisa. »Ohne dass der alte Herr zuhört.«

»Ja.« Jenny blickte sich zu der geschlossenen Tür um. »Ich habe mit Samuel geredet, und er hat zugegeben, dass es falsch war, wie er Sie behandelt hat. Er möchte sich entschuldigen, und er wäre dankbar, wenn Sie ihm in irgendeiner Form bei seinem … Problem behilflich sein könnten.«

»Mm. Ich bin überrascht, dass dieser Dickschädel so schnell nachgegeben hat«, sagte sie und blickte Jenny prüfend in die Augen. »Sie tun ihm gut, glaube ich. Also? Wann sehen wir ihn?«

Die Intuition der Frau war ganz erstaunlich. »Heute Abend um acht, in dem Gehölz, wo ich Sie gestern sah.«

Mamma Louisas Augen verengten sich. »Halten Sie es nicht für zu riskant, ihm bei Nacht so nahe zu sein? Wir haben schließlich noch immer Vollmond.«

»Er wird kein Problem sein bis zum Mondaufgang. Und der beginnt erst nach neun Uhr. Wäre eine Stunde genügend Zeit für Sie? Um ihm zu helfen, meine ich?«

»Wenn ich ihm innerhalb einer Stunde nicht helfen kann, kann ich ihm überhaupt nicht helfen. Ich werde Sie begleiten, Kind. Und nun setzen Sie sich wieder an den Tisch, bevor dieser neugierige alte Mann erneut herumzuschnüffeln beginnt. Er hat Sie den ganzen Tag mit Argusaugen beobachtet.«

»Ich weiß.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben ihn abgeschüttelt. Puh, wie der zusammengezuckt ist, als das Eiswasser seinen kleinen Mann getroffen hat!« Sie grinste von einem Ohr zum anderen.

Auch Jenny schmunzelte, verkniff es sich aber schnell wieder, als sie zu ihrem Platz am Tisch zurückging und sich wieder ihrem Abendessen widmete.

Um halb acht war sie in ihrem Zimmer und bereitete sich auf den Aufbruch vor, als jemand an ihre Tür klopfte. In der Befürchtung, dass es Professor Hinkle wäre, hätte Jenny fast nicht geöffnet, sah dann aber ein, dass ihr nichts anderes übrig blieb. Als sie die Tür aufzog, stand Carrie auf dem Gang.

»Schon fertig mit der Recherche?«, fragte Jenny.

»Ähm … nein. Ich … ich wollte Ihnen nur etwas sagen, das Sie wissen sollten.«

Stirnrunzelnd ließ Jenny sie herein. Carrie wirkte sehr nervös, als sie die Tür schloss. »Und was ist das, Carrie?«

Das Mädchen räusperte sich. »Als Sie vorhin mit Mamma Louisa in die Küche gegangen sind, hat auch Toby den Tisch verlassen.«

»Und wohin ist er gegangen?«

»Ich weiß es nicht genau«, antwortete Carrie. »Aber er könnte ganz bewusst zur Küche gegangen sein, denn als ich kurz darauf noch ein Tuch holen wollte, um das Wasser auf Professor Hinkles Stuhl aufzuwischen, schien er … an der Tür zu lauschen. Aber wie gesagt, ich kann mir nicht ganz sicher sein. Als er mich sah, ging er schnell ins Esszimmer zurück, und als ich ebenfalls wieder an den Tisch trat, saß er bereits auf seinem Platz.«

Jenny schloss die Augen. Das waren keine guten Neuigkeiten. »Wo ist er jetzt?«

»Er sitzt unten an seinem Computer.«

»Und Professor Hinkle?«

Carrie zuckte mit den Schultern. »Der ist vor ein paar Minuten aus dem Haus gegangen. Ich traute mich nicht, zu Ihnen heraufzukommen, bevor er fort war, nachdem er Sie den ganzen Tag belauert hatte.«

»Und jetzt hat er auf einmal damit aufgehört.«

»Der gleiche Gedanke kam mir auch«, gab Carrie zu. »Ich glaube, Toby hat ihm erzählt, was er in der Küche belauscht hat. Ich habe sie vor einer Weile zusammen gesehen, als sie in einer Ecke hockten und miteinander tuschelten. Sind Sie in Schwierigkeiten, Professor Rose? Denn falls ich Ihnen helfen kann …«

Jenny blickte auf die Uhr. »Du könntest in den nächsten zehn Minuten die Zwillinge beschäftigen und dafür sorgen, dass sie unten bleiben. Glaubst du, du schaffst das, Carrie?«

Das junge Mädchen nickte eifrig. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was hier los ist?«

»Nein. Tut mir leid, aber es ist nicht mein Geheimnis, und darum kann ich dir nichts sagen.«

»Geht es … um den Werwolf?«

Jenny lächelte und strich Carrie übers Haar wie einem Kind. »Sei nicht albern, Liebes. Es gibt keine Werwölfe.«

Carrie machte ein verwirrtes Gesicht, fragte jedoch nicht weiter, sondern eilte wieder hinunter, um die Zwillinge zu suchen. Jenny lief derweil die Hintertreppe in den zweiten Stock hinauf und klopfte an Mamma Louisas Tür.

Die Frau öffnete und fragte sogleich: »Kann’s losgehen?«

»Noch nicht. Ich muss mich vorher noch kurz in Professor Hinkles Zimmer umsehen. Aber wir werden uns beeilen müssen.«

»Ich kann diesen Mann sowieso nicht leiden.« Mamma Louisa griff in eine Tasche und zog einen Schlüsselbund hervor. »Kommen Sie, und lassen Sie uns sehen, was für Geheimnisse der Professor hat!«