1. Kapitel
Als der Jaguar X mit siebzig Meilen an Grace Morgan vorbeischoss, wo nur fünfundvierzig erlaubt waren, starrte sie ungläubig auf seine Rücklichter. Außerdem hatte er eine gelbe Doppellinie missachtet, als er wie ein roter Blitz an ihr vorbeigeprescht war, um sie auf der zweispurigen Straße zu überholen.
»So, du reiches Bürschchen«, sagte sie und beugte sich vor, um die Sirene und das Blaulicht ihres Streifenwagens einzuschalten, »das war nicht nur eine Übertretung, die du da begangen hast.«
Mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen gab sie Gas und griff nach ihrem Mikro, um den Funkspruch an die Polizeidienststelle von Tayanita County durchzugeben, dass sie einen Raser stoppen würde. Ihr Ford Crown Victoria beschleunigte mit einem zufriedenen Brummen, während das an- und abschwellende Heulen der Sirene den Wagen erfüllte. Grace’ Adrenalinausstoß schnellte hoch bei dieser polizeilichen Variante eines Kampfrufs, und ihr Herz begann zu rasen.
Das Verwarnen eines Typen, der die fehlende Größe seines Dings mit einem schnellen Wagen kompensiert, verschafft mir eine enorme Befriedigung – fast wie Sex. Was sagt das wohl über mein Liebesleben aus?
Die beiden Wagen jagten in einem Tempo durch die Dunkelheit, das Gesträuch und Bäume rechts und links verschwimmen ließ. Als Grace schon annahm, er versuchte, ihr zu entkommen, verringerte der Jaguar seine Geschwindigkeit.
Wenn überhaupt, nahm ihre Anspannung noch zu, als er auf den Seitenstreifen fuhr. Grace folgte ihm und parkte ihren Wagen hinter und ein wenig links von seinem, weil diese Position ihr einen gewissen Schutz bot, falls er zu schießen beginnen würde, sobald sie ausstieg. Der Typ hatte wahrscheinlich eine Verabredung und war nur spät dran, aber es war natürlich auch möglich, dass er einen Laden überfallen hatte und dachte, sie wolle ihn deswegen verhaften. Neunundneunzig Prozent der Verkehrsvergehen waren stinklangweilig, doch dieses eine restliche Prozent konnte einen umbringen. Was der Grund war, warum die Videokamera ihres Wagens so eingestellt war, dass sie sich automatisch einschaltete, wenn Grace das Blaulicht aktivierte.
Ohne den Blick von dem Jaguar abzuwenden, stellte sie die Sirene ab und griff nach ihrem Mikro. »Tayanita Bravo zehn. Ich bin draußen bei einem roten, zweitürigen neuen Jaguarmodell mit kalifornischer Zulassung Kilo-November-Indien-Golf-Hotel-Tango eins. KNIGHT1.« Und was machte ein reicher Junge aus Kalifornien überhaupt hier draußen im schwülen South Carolina?
Grace nahm ihren Stift, Hut und Strafzettelblock, während der diensthabende Beamte in der Zentrale seinen Computercheck begann, um festzustellen, ob der Jaguar mit einem Verbrechen in Verbindung stand. Leider würde Grace die Ergebnisse nicht bekommen, bevor sie mit dem Raser gesprochen hatte, und an diesem Punkt konnten die Dinge sehr schnell außer Kontrolle geraten.
Mit größter Wachsamkeit öffnete sie die Wagentür und trat auf den Asphalt hinaus. Der Nachtwind, der ihr ins Gesicht blies, brachte das Bellen eines fernen Hundes und den Duft des Geißblatts neben der Straße mit. Der Kühler des Streifenwagens tickte. Sie setzte ihren breitrandigen Deputy-Hut auf, zog ihn so tief in die Stirn, wie es die Vorschriften verlangten, und näherte sich dem Jaguar. Dabei hielt sie den Blick auf den Hinterkopf des Fahrers gerichtet. Mit dem instinktiven Misstrauen, das sie sich in fünf Jahren als Cop erworben hatte, glitt ihre Hand zu ihrem Holster. Doch trotz der Gefahr genoss ein Teil von ihr den Kick des Risikos und das Adrenalin, das wie verrückt in ihren Adern brodelte.
Der Raser machte jedoch keine verdächtigen Bewegungen.
Das Fenster des Jags fuhr leise summend herab, und Grace’ Blick glitt schnell über den Schoß des Fahrers und den Beifahrersitz neben ihm. Keine Waffen, nichts Verdächtiges. »Führerschein und …« Sie verstummte, als sie den Blick zu ihm erhob.
Die Zeit schien stehen zu bleiben, zumindest dehnte sie sich zwischen einem harten Herzschlag und dem nächsten geradezu endlos aus. Grace kannte den Mann, erkannte dieses gut geschnittene, kantige Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der schmalen Nase, die teuflisch verführerischen Lippen und die schön geschwungenen dunklen Augenbrauen. Etwas durch und durch Weibliches erwachte in Grace und durchströmte sie mit einer intensiven Wärme, als sie in hellbraune Augen blickte, die viel zu viel über ihre geheimen Träume wussten. Träume, die die großen, langfingrigen Hände, die auf dem Lenkrad des Jaguars lagen, sehr gut zu erfüllen imstande wären.
Sie ertappte sich bei der Frage, die sich schon so viele andere gestellt hatten – Männer mit Furcht und Frauen erwartungsvoll: Ist er meinetwegen hier? Es war eine zweischneidige Frage, da er ebenso mühelos töten wie verführen konnte. Sie hatte ihn dabei beobachtet.
»Hallo, Grace«, sagte er.
Trotz der Gefahr stieß die Sechzehnjährige in ihr, die sich an ihn erinnerte, einen entzückten kleinen Schrei aus. Grace fauchte sie im Stillen an, aber dann versteifte sie sich in aufrichtiger Bestürzung. Verdammt! Die Kamera! Sie filmte gehorsam alles mit, und das Mikro an Grace’ Schulter nahm jedes ihrer Worte auf. Und dummerweise ließ es sich nicht abstellen. »Führerschein und Fahrzeugpapiere«, begann Grace von Neuem, um einen kühlen, reservierten Ton bemüht, und formte mit den Lippen dann die Worte: »Wir werden gefilmt«, bevor sie laut fortfuhr: »Wissen Sie, wie schnell Sie gefahren sind, Sir?«
Seine Augen glitten zu dem Strafzettelblock in ihrer Hand. »Etwa siebzig Meilen, schätze ich.« Seine Stimme war wie Sünde und seidene Laken, tief und dunkel und verführerisch.
»Hier ist Tempo fünfundvierzig«, sagte sie.
Mit dem diabolischen Lächeln, an das sie sich so gut erinnerte, nahm er die Brieftasche heraus. »Ich darf wohl nicht annehmen, dass Sie mich mit einer Verwarnung davonkommen lassen?«
Unter der Krempe ihres Hutes bedachte sie ihn mit ihrem kältesten und gleichgültigsten Blick. »Nein, Sir.« Ich bin schließlich keine sechzehn mehr, verdammt!, fügte sie lautlos hinzu.
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Gut. Grace nahm den Ausweis aus diesen geschickten Fingern, wandte sich ab und ging zurück zu ihrem Wagen, um den Strafzettel auszufüllen.
Sie setzte sich hinter das Steuer und sah sich im schwachen Licht der Innenbeleuchtung den Führerschein genauer an. John Lance, 120 Avalon Way, Brentwood, Kalifornien. Unser Held war einfach unbeschreiblich gut aussehend.
Und Grandma wurde immer raffinierter.
Nicht, dass Grace etwa die Absicht hätte, den beiden zu geben, was sie wollten.
Was für ein Spiel trieb sie mit ihm?
Düster starrte der Mann, der sich John Lance nannte, die Hecklichter von Grace Morgans Crown Victoria an. Nachdem sie ihm den Hundertfünfzig-Dollar-Strafzettel verpasst hatte, war er überzeugt gewesen, dass sie ihren Wagen zu irgendeiner abgelegenen Stelle lenken würde, wo sie miteinander reden konnten. Stattdessen jedoch fuhr sie seelenruhig weiter Streife und ignorierte seine Scheinwerfer in ihrem Rückspiegel, obwohl er buchstäblich an ihrer Stoßstange klebte.
Warum?
Sie musste doch wissen, warum er hier war und was für eine Möglichkeit er ihr anbot – eine Chance, um die andere Frauen kämpften, bettelten und intrigierten. Man kehrte dieser Art von Macht nicht einfach so den Rücken zu.
Was war aus der Grace von vor zwölf Jahren geworden, die ihm mit solcher Verehrung in den Augen dafür gedankt hatte, dass er ihr das Leben gerettet hatte? Da war nicht einmal mehr eine Spur dieser jugendlichen Schwärmerei in diesem kühlen Blick heute Nacht gewesen. Oder auch nur Dankbarkeit.
Und jetzt ignorierte sie ihn auch noch.
Lance grinste, als er sich plötzlich seines gekränkten männlichen Egos bewusst wurde. Seit wann nehme ich mich so furchtbar ernst? Grace tat ihm wahrscheinlich sogar einen Gefallen damit, ihm einen Dämpfer zu verpassen.
Trotzdem musste sie wissen, dass die Jagd nicht eher enden würde, bis er bekam, was er wollte. Er gab nicht auf. Niemals. Das konnte er sich gar nicht leisten, und sie wusste das so gut wie er. Früher oder später würde sie nachgeben müssen.
Deshalb hielt er sich dicht hinter ihr und versuchte, sie mit schierer Willenskraft dazu zu bringen, rechts ranzufahren. Grace ließ sich jedoch nicht beirren; sie dachte offenbar gar nicht daran, ihr Tempo zu verringern.
Lance merkte, dass die Verfolgung ihm Spaß zu machen begann, als er sich ihre unvermeidliche erotische Kapitulation vorstellte. Sie würde das Warten wert sein; sein erfahrenes Auge hatte einige sehr verführerische Kurven unter dieser strengen schwarzen Uniform entdeckt. Das fohlenhaft schlaksige junge Mädchen, das er gekannt hatte, hatte sich zu einer hinreißenden Amazone entwickelt.
Das plötzliche Aufheulen der Sirene riss ihn aus seinen sinnlichen Betrachtungen. Gerade noch rechtzeitig blickte er auf, um Grace mit rotierendem Blaulicht davonjagen zu sehen. Oh, gut, dachte er grinsend, noch eine Jagd, und preschte hinter ihr her wie das hungrige Raubtier, das er ja auch war.
Sie waren höchstens ein, zwei Blocks weit gekommen, als der Streifenwagen mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz vor einem lang gestreckten, niedrigen Ziegelsteinbau einbog. Lance folgte Grace und zog eine dunkle Braue hoch, als er zu dem Schild über dem Eingang aufblickte. Eine kurvenreiche weibliche Figur aus pinkfarbenem Neon war in verführerischer Pose um das Wort HOTRODZ drapiert.
Kein Zweifel, seine kleine Grace war heute sehr erwachsen.
Sie hatte fantastische Beine, sogar in Polyester-Uniformhosen und schwarzen Polizistenschuhen. In einem Minirock und roten Stöckelschuhen würde sie brandgefährlich sein. Sie würde nicht einmal das große Waffenholster an ihrer Hüfte brauchen. Vielleicht sollte ich es dem Sheriff vorschlagen. Lance grinste bei dem Gedanken, dass selbst richtig schwere Jungs diesen endlosen Beinen wohin auch immer folgen würden – wahrscheinlich sogar ins Gefängnis. Seine Augen ruhten auf ihrem festen kleinen Po, als sie die Tür öffnete und das Lokal betrat. Wenn er es sich recht überlegte, würde es selbst ihn nicht stören, Grace die Führung übernehmen zu lassen.
Der Schrei einer Frau zerriss die Luft und wischte die Belustigung von Lance’ Gesicht. Grace! Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er stürmte ins Innere des Etablissements, um jeden Mann zu töten, der sie auch nur anzufassen wagte.
Lance entspannte sich ein wenig, als er sah, dass sie unverletzt war und sich durch eine dichte Menge Männerrücken drängte. Er war groß genug, um über sie hinweg zur anderen Seite des Raumes blicken zu können, wo ein großer, bulliger Kerl in einem weißen T-Shirt eine ängstlich zurückweichende, barbusige junge Frau gegen die Bühne drängte. Sie musste es gewesen sein, die geschrien hatte.
Automatisch atmete Lance tief ein und prüfte die Luft. Sie roch nach Alkohol und Blut. Das war nie eine gute Kombination. Bei näherem Hinsehen bemerkte er, dass die dunkelhaarige Frau eine aufgeplatzte Lippe hatte und ihr Kinn mit feucht glänzendem Blut bedeckt war. Mit zitternden Fingern berührte sie es. Lance ließ die Schultern rollen und kämpfte gegen einen vertrauten Anfall jähen Hungers an.
»Gib jetzt endlich Ruhe, und lass die Kleine tanzen!«, brüllte jemand.
»Halt die Klappe!«, fauchte der vierschrötige Mann mit schon etwas undeutlicher Stimme. »Sie ist meine Frau, und ich mach mit ihr, was ich will. Gib mir die verdammte Kohle, Jen!«
Er meinte offenbar die Geldscheine, die in dem G-String der Stripperin steckten. Lance verzog den Mund, doch bevor er sich einen Weg durch die Menge bahnen und dem Mistkerl zeigen konnte, wie Frauen behandelt werden sollten, löste Grace sich aus dem Pulk.
»Polizei!«, sagte sie mit kühler, beherrschter Stimme. »Was ist hier los?«
Der Mann fuhr zu ihr herum, und sein rotes Gesicht lief sogar noch dunkler an. »Hau ab, du Schlampe, oder du kriegst das Gleiche, was sie bekommen hat!«
»Deputy-Schlampe für Sie.« Grace bleckte die Zähne zu einem Ausdruck, den nicht mal ein Betrunkener als Lächeln missverstehen könnte. »Und Sie sind verhaftet.«
»Nein!«, widersprach die Stripperin schnell. »Es ist schon gut, ich gebe ihm das Geld.«
Grace beachtete sie nicht, sondern sagte zu dem Mann: »Legen Sie die Hände hinter den Kopf, Sir!« Trotz ihres ruhigen Tons stand sie da wie eine Duellantin, wachsam und mit leicht gespreizten Beinen. »Sie sind verhaftet.«
»Du kannst mich mal!«, knurrte der Betrunkene und ging mit erhobenen Fäusten auf sie zu.
Grace trat blitzschnell vor, packte sein Handgelenk und wirbelte ihn herum, drehte ihm den Arm auf den Rücken und benutzte den Schwung, um ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Bühnenrand zu stoßen. »Ich sagte, Sie sind verhaftet«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie nach den Handschellen griff.
Lance hätte fast applaudiert. Das ist mein Mädchen! Wenn er nicht schon wüsste, wer sie war, hätte diese kleine Vorstellung es ihm gezeigt. Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete er, wie es weiterging. Direkt hinter ihm in der Menge buhte jemand. Ohne sich umzusehen, rammte Lance einen Ellbogen nach hinten und traf auf etwas Bierbauchweiches. Dieselbe Stimme wie zuvor stieß einen erstickten Schmerzensschrei aus.
»Ist er schon einmal wegen häuslicher Gewalt verhaftet worden?«, fragte Grace die Stripperin, ohne auch nur schwer zu atmen. Der Gefangene zappelte und wehrte sich, worauf sie seinen Arm noch fester gegen seinen Rücken drückte.
»Ja, und er muss nicht noch mal eingebuchtet werden.« Die Frau ging einen Schritt zurück auf einen der Tische vor der Bühne zu, auf dem aufgereiht wie Schachfiguren leere Flaschen standen. »Sie werden’s nur noch schlimmer machen.«
Lance’ Instinkt schlug augenblicklich Alarm. Er trat vor. »Grace …«
»Lady, so wie ich die Sache sehe – zerren Sie nicht so an Ihrem Arm, Sir! –, wird eine Nacht in Haft Ihnen eine Nacht in der Notaufnahme ersparen. Sir, wenn Sie nicht aufhören …«
»Du sperrst ihn nicht ein, du Miststück!« Die Stripperin fuhr herum, schnappte sich eine Flasche und schwenkte sie direkt vor Grace’ Gesicht.
Schneller, als ihr sogar Lance zu Hilfe kommen konnte, ließ Grace den Betrunkenen los und wirbelte herum, um die Flasche mit der flachen Hand zurückzuschlagen. Sie glitt der Stripperin aus den Fingern und zerschellte klirrend auf dem Boden.
Die Faust des Betrunkenen, die auf Grace’ Kinn gezielt hatte, traf stattdessen Lance’ Hand. Eine Sekunde später lag der Schläger auf dem Boden, ausgeknockt von einem harten, sauberen Faustschlag gegen seine krumme Nase.
Lance drehte sich um, aber Grace hatte die Stripperin schon gepackt und legte ihr die Handschellen an, die für den Frauenmisshandler gedacht gewesen waren. Sie hatte ihren Hut verloren, und einige blonde Strähnen hatten sich aus ihrem strengen französischen Zopf gelöst. Ihr klassisch schönes Profil war kantig vor Zorn, und ihre blauen Augen glühten förmlich. »Lady, Sie haben soeben Grace Morgans Elftes Gebot gebrochen«, fuhr sie der wüst fluchenden Frau über den Mund. »›Du sollst die nette Deputy nicht niederschlagen.‹ Das heißt, dass Sie zunächst einmal ins Kittchen gehen. Als nächsten Schritt würde ich eine Therapie gegen Ihre Abhängigkeit von Mr. Wrong vorschlagen.« Grace sah sich in der Menge um. »Hey, jemand soll ihr was zum Anziehen bringen!«
Als sie die fluchende Stripperin zu einem Stuhl zog, stöckelte eine Rothaarige in einem hauchdünnen, geblümten Negligé heran, die ein Frotteebündel in den Händen hielt. »Ich hoffe, Sie buchten Darrell trotzdem ein«, sagte sie und schüttelte den weißen Bademantel aus, um ihn ihrer Freundin um die Schultern zu legen. »Er schlägt sie immer wieder. Er ist so ein Mistkerl!«
»Das habe ich gesehen. Und keine Bange, denn er geht auf jeden Fall in den Knast.« Grace griff nach dem Mikrofon an ihrer Schulter.
Während sie über Funk um Unterstützung bat, um die Gefangenen zu überführen, schlenderte Lance zu ihr hinüber, hob den Hut vom Boden auf und überreichte ihn ihr mit einer schwungvollen Bewegung. »Gute Arbeit.«
»Danke.« Sie setzte den Hut ordnungsgemäß auf, und nach einem Blick auf den bewusstlosen Schläger aktivierte sie wieder ihr Mikrofon. »Schickt uns auch einen Krankenwagen, ja? Wir haben hier einen Code acht.« Als sie den Sendeknopf wieder losließ, blickte Grace zu Lance auf. »Was ›bewusstlos‹ bedeutet. Das war übrigens ein guter Treffer. Siehst ganz so aus, als hättest du ihm die Nase gebrochen.«
Lance zuckte mit den Schultern. »Ihrer interessanten Krümmung nach zu urteilen war das vorher schon erledigt worden.«
Grace’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wahrscheinlich von der Hälfte der Leute, die ihn kennen. Und die andere Hälfte wird zumindest mal daran gedacht haben.«
»Und hätte dem Impuls auch ruhig nachgeben sollen.« Lance starrte ihren weichen, ungeschminkten Mund an und fragte sich, ob er sie küssen sollte. Er wollte wirklich gern herausfinden, wie sie sich anfühlte und schmeckte.
Wofür sie ihn wahrscheinlich niederschlagen würde.
Aber vielleicht wäre es das wert. Grace war schon als Teenager hübsch gewesen, doch als Frau war sie eine echte Schönheit. Ihr tougher, durchtrainierter Körper stand in einem reizvollen Kontrast zu ihrem Gesicht, das wie das einer Art-déco-Nymphe wirkte. Ihre Wangenknochen waren sanft gerundet, statt wie gemeißelt unter dieser makellosen cremefarbenen Haut, und ihre Nase war schmal und gerade, ihre Lippen hinreißend verführerisch. Die Augen waren von einem durchsichtigen, kristallinen Blau, das an Juwelen erinnerte. Lance fragte sich, wie lang ihr honigblondes Haar sein mochte, wenn man diesen strengen Zopf löste. Wie gern würde er mit den Händen hindurchfahren, um es herauszufinden …
Aber noch viel mehr reizte ihn der Gedanke, ihr diese schwarze Uniform aufzuknöpfen, denn trotz des dicken Stoffes konnte er erkennen, dass Grace sehr hübsche Brüste hatte.
»Wann ist deine Schicht beendet?« Lance räusperte sich, weil er nicht wollte, dass die Rauheit seiner Stimme Grace sein Verlangen offenbarte. »Ich würde mich gern mit dir unterhalten.«
»Ich mich aber nicht mit dir.« Sie schob ihr eigenwilliges kleines Kinn vor. »Ich weiß schon, was du sagen wirst, und bin nicht interessiert daran.«
Er hatte das Spiel schon viel zu lange gespielt, um ihr diese Lüge abzunehmen. Deshalb trat er einen Schritt vor, beugte sich über ihr Ohr und raunte: »Bist du sicher?«
Ihr Puls unter der seidigen Haut an ihrer Kehle begann zu pochen. Bevor Lance der Versuchung nachgeben konnte, wich sie einen Schritt zurück. »Ganz sicher. Und nun entschuldige mich – ich glaube, der Herzog von Budweiser kommt wieder zu sich.« Ohne einen weiteren Blick auf ihn entfernte sie sich, um sich neben den erwachenden Gefangenen zu knien.
Lance’ schmale Augen glitten von ihrem langen, zarten Nacken zu der verführerischen Rundung ihres Pos hinab. Langsam ging er auf sie zu …
»Verdammt, ›Xena‹, wen hast du diesmal verprügelt?«, fragte ein Deputy, der sich aus der Menge löste.
Lance blieb stehen, als der Cop auf Grace zumarschierte. Bei dem Gespräch, das er im Sinn hatte, konnte er definitiv keine Zeugen brauchen. Seine Muskeln verkrampften sich vor Frustration, als er sich zum Gehen wandte.
Zum Glück blieb ihm noch jede Menge Zeit, bevor es hell wurde.
Grace begleitete die inzwischen voll bekleidete Stripperin zu ihrem Streifenwagen. Rod Smith hatte seinen Wagen hinter ihrem geparkt, und der rotierende Lichtbalken über seiner Windschutzscheibe warf rotes, blaues und weißes Licht über die umstehenden Fahrzeuge. Smith und der Neuling, den er ausbildete, saßen vorn im Wagen, der Betrunkene hinten. Die Sanitäter mussten beschlossen haben, dass Sir Trinktzuviel doch einer Nacht im Knast gewachsen war.
Er hatte Glück gehabt. Lance hätte ihm den Schädel einschlagen können.
Mrs. Trinktzuviel war in mürrisches Schweigen verfallen. Als Grace die hintere Wagentür öffnete und der Frau hineinhalf, sagte sie: »Er wird mich grün und blau schlagen, wenn er morgen rauskommt.« Tränen hatten weiße Rinnsale in dem getrockneten Blut auf ihrem Gesicht hinterlassen.
»Wahrscheinlich. Und das ist der Grund, weshalb Sie diesen miesen Typen verlassen müssen. Sie können im Frauenhaus unterkommen, bis Sie etwas Eigenes gefunden haben.«
»Aber ich liebe ihn!«
Grace verdrehte die Augen und schlug die Tür zu. Die Leute dachten, Liebe rechtfertigte alles.
Sie starrte in veilchenblaue Augen, die loderten vor Zorn und Eifersucht, und spürte, wie lange Fingernägel sich in ihren Nacken bohrten. Wellen des Wahnsinns einer anderen Frau durchfluteten ihre Gedanken, und Grace wusste, dass sie kurz davor war, selbst den Verstand zu verlieren.
Dann legten sich Lance’ große Hände um den Kopf ihrer Angreiferin und …
Grace verdrängte die Erinnerung.
Als sie zur Fahrertür ging, hörte sie den Neuling sagen: »Mann, ist die heiß! Ist sie verheiratet?«
»Wer? Die Stripperin?« Die Fenster von Smith’ Streifenwagen wurden geschlossen, aber Grace’ übernatürlich scharfes Gehör bekam die Unterhaltung trotzdem mit.
»Nee, die Deputy. Wie heißt sie eigentlich?«
»Du meinst ›Xena‹?« Smith schnaubte. »Mit der willst du nichts zu tun haben, Junge, so machomäßig, wie die drauf ist. Nimmt Steroide und den ganzen Kram.«
Der Neuling schnaubte ebenfalls. »Du bist verrückt. Testosteron hatte nichts zu tun mit diesem Körper.«
Danke, Junge! Grace lächelte im Stillen, als sie die Tür ihres Wagens öffnete und den Hut auf den Beifahrersitz warf.
»Nee, Mann, wirklich. Ich hab sie im Fitnessraum der Wache zweimal fünfzig Kilo stemmen sehen. Das muss doppelt so viel wie ihr Körpergewicht sein. Das schafft keine normale Frau. Außerdem ist niemand so wie sie gebaut. Manchmal denke ich, dass sie die Operation hat machen lassen.«
»Was für eine Operation?«
»Mann, was bist du für ein Idiot! Vielleicht hat sie sich ihr Ding abschneiden lassen, du Genie. Weil sie mal ein Kerl war.«
»Was laberst du für einen …«
Grace verzog das Gesicht und schlug vor dem Rest des Gesprächs die Tür zu. »Ich wette, das sagst du über alle Frauen, die dich in deinen sexistischen Hintern treten, Rod«, murmelte sie. Er hatte sie einmal begrabscht, woraufhin sie ihn in einem Spind eingeschlossen hatte. Vielleicht hätte sie ihn stattdessen melden sollen, aber es gab nichts, was Cops mehr hassten, als eine Zuträgerin mit Dienstmarke.
»Was?«, fragte Mrs. Trinktzuviel vom Rücksitz.
»Nichts.« Grace ließ den Wagen an und malträtierte mit einem harten Schlag die Automatik. »Nur ein kleiner Cop-Insider-Witz, mehr nicht.«
Als sie sich umschaute, um zurückzusetzen, sah sie den Jaguar noch hinter sich auf dem Parkplatz stehen. Selbst durch die getönten Fenster konnte sie die Hitze von Lance’ Blicken spüren. Trotz ihrer Verärgerung über die Kollegen begann irgendetwas in ihr dahinzuschmelzen und durchlief sie heiß. Grace riss den Blick von Lance los und gab Gas. Du bist keine sechzehn mehr, verdammt noch mal!, schalt sie sich.
Aber die Hitze ließ nicht nach.
Das Haus stank nach Schimmel und menschlichen Exkrementen, und eine Kakerlake krabbelte an der Spitze des Polizeistiefels vorbei. Trotzdem zuckte Grace nicht zurück, sondern hielt den Blick höflich auf das zerfurchte Gesicht der alten Frau gerichtet, das nur von dem Strahl der Taschenlampe beleuchtet wurde. Der Strom im Haus war abgestellt.
»Andauernd, sage ich Ihnen«, klagte die Frau mit brüchiger Stimme. Sie hatte allem Anschein nach nur noch einen Zahn im Mund, und der war braun geworden von Jahren des Schnupftabakkonsums. »Alle paar Stunden spielen sie die Musik und leuchten mir ins Haus.« Tränen schimmerten in den verblassten blauen Augen. »Ich kann kein Auge zutun. Und das Einzige, was ich will, ist schlafen.«
»Ja, Ma’am. Haben Sie Kinder? Kommt irgendjemand Sie besuchen?« Grace trat durch eine Tür und folgte dem Geruch verdorbenen Essens. Wie nicht anders zu erwarten, führte die Geruchsspur in die Küche. Grace ging zu einem Schrank und öffnete ihn, aber der Strahl ihrer Taschenlampe erhellte nichts als einen verstaubten Stapel Teller und etwas, das blitzschnell davonflitzte. Grace schloss die Tür und öffnete die nächste, hinter der sie eine halb leere Tüte Reis und ein paar eingedellte Konservendosen entdeckte. »Wann haben Sie das letzte Mal Lebensmittel eingekauft?«
»Hören Sie das?« Die Stimme der Frau wurde schriller. »Da ist sie wieder, die Musik! Es vergeht keine Stunde ohne, sag ich Ihnen!«
Grace warf ihr einen scharfen Blick zu. Es war keine Musik zu hören. »Wie lange ist es her, seit Sie etwas gegessen haben, Mrs. Lacey?«
»Manchmal parkt er seinen Lastwagen auf meinem Haus. Einfach oben auf dem Dach! Und lässt die ganze Nacht den Motor laufen …«
Oh, verdammt, sie litt unter Wahnvorstellungen, die alte Frau! »Mrs. Lacey …«
»Ich verdiene was Besseres.« Sie straffte die bemitleidenswert schmalen Schultern und hob das eingesunkene Kinn. Ihr Südstaatenakzent verblasste und wich dem Anflug eines aristokratischen, der ein wenig hochmütig klang und Grace merkwürdig vertraut war. »Ich bin Lord Galahads Tochter. Ich habe auf dem Ball der Vampire getanzt. Diese Leute sollten nicht so mit mir umgehen.«
Vorsichtig schloss Grace die Tür des Küchenschrankes. Dabei musste sie gegen den Impuls ankämpfen, sie zuzuknallen. »Nein, Ma’am, das sollten sie nicht. Und wenn Sie einen Moment hier warten, werde ich etwas dagegen unternehmen.«
»Sie hätten mich als Debütantin sehen sollen.« Langsam begann die magere Gestalt, sich vor und zurück zu wiegen. »Ich trug ein wunderschönes Kleid. Ganz aus silberner Spitze, und ich tanzte … oh, wie ich tanzte!« Eine Träne rollte über ihr schmutziges Gesicht und glitzerte im Schein der Taschenlampe.
»Ja, Ma’am.« Grace schenkte ihr ein angespanntes Lächeln. »Sie waren sicher ganz bezaubernd. Aber wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden … da ist jemand, den ich Ihnen vorstellen möchte«, sagte sie und ging zur Eingangstür.
Wie erwartet, parkte der Jaguar draußen hinter dem Streifenwagen. Mit grimmig vorgeschobenem Kinn bahnte Grace sich einen Weg durch den verwilderten Vorgarten, den die alte, kranke Mrs. Lacey nicht mehr pflegen konnte.
Das Fenster an der Beifahrerseite glitt leise summend herab. Grace bückte sich und fauchte Lance, der fragend eine Braue hochzog, wütend an:
»Steig aus, und komm mit! Da in dem Haus ist jemand, den du sehen solltest.«
Ohne abzuwarten, ob er gehorchen würde, drehte sie sich wieder um und marschierte zur Eingangstür zurück. Aber seine Wagentür öffnete und schloss sich mit einem dezenten Klicken. Und jede verdammte Nervenzelle an Grace’ Nacken übermittelte Lance’ eindrucksvolle männliche Präsenz an ihr Gehirn. Hör auf damit! Vergiss es, Grace!, befahl sie sich.
Sie stieß die schiefe Moskitogittertür auf und ging voran.
Als Lance ihr folgte, richtete sie die Taschenlampe zur Decke und drehte sich um, um ihn in ihrem Licht zu mustern. Seine Nasenflügel bebten in aristokratischem Abscheu vor dem Gestank nach Alter und Verdorbenem. »Nett, was?«, sagte sie. »Erinnert mich an meine Kindheit.« Dann richtete sie den Lichtstrahl mit voller Absicht auf sein Gesicht und sah Mrs. Lacey an, die sie beide verwundert anblinzelte.
Plötzlich weiteten sich die Augen der alten Frau, und Grace wusste auf die Sekunde genau, wann Mrs. Lacey ihn erkannte. Erstaunen erschien in ihren alten Augen, dann Freude – und schließlich eine herzzerreißende Scham über ihre Umgebung. »Lord Lancelot!« Grace musste den Arm der Frau ergreifen, als sie schwankend versuchte, einen Knicks vor Lance zu machen. »Ich wusste nicht, dass Sie kommen würden!«
»Das ist Mrs. Ruth Ann Lacey.« Mit einem höflichen, etwas angespannten Lächeln blickte Grace in Lance’ erstaunte Augen, während sie die hinfällige alte Dame stützte. »Sie ist Galahads Tochter – und deine Enkelin.«
Es sprach für Lance, dass er nicht zögerte, sogleich etwas zu unternehmen. Sowie Grace ihm Mrs. Laceys Situation geschildert hatte – dass sie weder ausreichend zu essen noch Hilfe hatte und wie schwach und krank sie war –, zog er etwas aus der Manteltasche, was wie ein Handy aussah, und drückte eine Taste.
Dass das Gerät weit mehr als ein Telefon war, wurde augenblicklich offensichtlich, als sich mitten in Mrs. Laceys schäbigem Wohnzimmer ein stilvoller, hell erleuchteter Durchgang öffnete.
Hinter dieser Tür blickte eine schlanke Frau in eisblauer Seide von einem massiven Ebenholzsekretär und einem dicken Buch auf, das aufgeschlagen vor ihr lag. Die Dame runzelte die Stirn, als sie sich das dunkle Haar aus dem Gesicht strich. Sie sah nicht älter aus als dreißig. »Bist du das, Lance? Wo warst du überhaupt? Und wer ist die Frau?«
Er legte eine Hand auf Mrs. Laceys Schulter. Die alte Frau zitterte am ganzen Körper, doch sie blickte hingerissen zu ihm auf, und Tränen liefen unaufhörlich über ihre schmalen Wangen. »Ich bitte um Transport für mich und eine meiner Angehörigen zum Elysium-Sanktuarium«, sagte er.
»Und was ist mit meiner Enkeltochter?«, fragte die Frau in eisblauer Robe. »Wo ist sie?«
Grace trat in den Empfangsbereich des Telefons. »Hier, Morgana«, sagte sie mit grimmiger Miene. »Und ich bin immer noch nicht interessiert an dem, was du zu bieten hast.« Dann richtete sie den gleichen bösen Blick auf Lancelot. »Dasselbe gilt für dich.«
Und falls dieser letzte Satz eine Lüge sein sollte, war Grace fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass Lance es nie herausfinden würde.