7. Kapitel
Ich brauche Blut, Juliette. Bis Tagesanbruch ist es nicht mehr lange, und wir müssen mit voller Kraft zu deiner Familie zurückkehren. Ich würde liebend gern den Rest meiner Tage hier verbringen, dich lieben und die Geheimnisse meiner Seelengefährtin erkunden, aber ich brauche Nahrung, um meine Kräfte wiederherzustellen.« Riordan watete aus dem Teich und streckte ihr die Hand hin.
Juliette nahm sich jedoch die Zeit, ihn ausgiebig zu betrachten. »Ich hatte mir geschworen, niemals etwas Dauerhaftes mit einem Mann anzufangen. Die Männer, die ich gekannt habe, verstehen nichts von Zuneigung und Liebe.« Sie senkte den Blick. »Es ist schrecklich, aufzuwachsen und sich seiner Rasse zu schämen. Von jeher ist mir der Gedanke unerträglich, dass ich ein männliches Kind meiner Spezies zur Welt bringen könnte, dessen Natur es immer daran hindern wird, meine Liebe zu erwidern, egal, was ich auch tue, wie sehr ich dieses Kind auch liebe oder wie ich es erziehe.«
Riordan griff nach ihrer Hand und zog Juliette zu sich heran. »Ich habe lange genug gelebt, um die Erfahrung zu machen, dass jede Spezies sowohl Schwächen als auch Stärken hat. Die Männer der Jaguarrasse sind Nomaden, doch die, die mir begegnet sind, haben ihre Frauen geliebt. Sie konnten nur nicht sesshaft werden, und der ständige Drang, ihre Rasse zu erhalten, wurde ihnen zum Verhängnis. Darum blieben sie nicht bei einer Frau, obwohl ich glaube, dass viele es versuchten und sehr darunter litten, dass sie es nicht konnten.« Er nahm Juliette tröstend in die Arme. »Der Regenwald hier in Südamerika ist sehr groß, und innerhalb des Dschungels gibt es keine Grenzen. Wir haben uns in Brasilien angesiedelt, am Rand des Waldes, aber wir reisen von Land zu Land, um für die Sicherheit der Einwohner zu sorgen. Bei unseren Reisen begegnen wir häufig männlichen Jaguarmenschen, die alle sehr einsiedlerische Geschöpfe zu sein scheinen. Wir sind von unserem Prinzen angewiesen worden, ihnen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen, doch wir sprechen trotzdem oft mit ihnen. Jaguarmenschen sind, genau wie unsere Spezies, vom Aussterben bedroht. Sie sind intelligent und wissen, dass sie zu ihrem eigenen Untergang beigetragen haben, aber sie konnten nicht aufhören mit dem, was ihre Natur ihnen diktierte.« Und in gewisser Weise war Riordan sogar der Ansicht, dass sie ihr Schicksal verdienten, wenn sie nicht bereit waren, ihre Frauen und Kinder in Ehren zu halten und zu schätzen.
»Du sagst, es sei nicht ihre Schuld.« Juliette entzog sich ihm und wandte das Gesicht ab, bevor sie mit zitternden Händen ihre Kleider aufhob. Blinzelnd, um das jähe Brennen in ihren Augen zu verdrängen, stieg sie in ihre Jeans und zog sie über ihre nackte Haut. Dies war schon das zweite Mal, dass sie beinahe vor ihm in Tränen ausbrach. Aber sie war keine Frau, die weinte – schon gar nicht eines Mannes wegen.
»Wir sprechen nicht von den Wüstlingen unter den männlichen Jaguarmenschen, die außer Kontrolle sind und ihre Frauen misshandeln. Sie sollten vor Gericht gestellt werden, statt Frauen entführen und vergewaltigen zu dürfen, um sie als Gebärmaschinen zu missbrauchen.« Er nahm Juliette das Oberteil aus der Hand, drehte sie zu sich herum und hob ihr Kinn ein wenig an, um ihr ins Gesicht sehen zu können. »Ich mag ein bisschen ruppig sein, Juliette, und ich gebe zu, dass ich schon lange vergessen habe, sanft zu sein, doch ich würde einer Frau nie etwas zuleide tun, sofern sie nicht mein Leben oder das meiner Leute bedroht. Das macht man einfach nicht.«
Sie legte die Hände an seine leicht mit Bartstoppeln bedeckten Wangen. »Für mich bist du sanft genug.« Und das war er wirklich. Er bewegte sie, wie kein anderer Mann es je vermocht hatte – oder es jemals könnte. Sie waren in hemmungsloser Leidenschaft zusammengekommen, in einem außer Kontrolle geratenen Feuer, das ihnen schier den Verstand geraubt hatte, aber dann hatte er sie mit Zärtlichkeiten überhäuft, sie mit zitternder Hand gestreichelt, sie auf seinen Schoß gesetzt und beinahe ehrfürchtig seine Hände um ihre Brüste gelegt.
Auch jetzt beugte er sich vor, um ihr erhobenes Gesicht zu küssen, und nahm sich alle Zeit der Welt dafür. Sogar sein Herz schlug im gleichen Rhythmus wie das ihre. »Du bist ein unerwartetes Geschenk, Juliette, und ich bin kein Mann, der etwas so Wertvolles wegwirft.«
Sie nahm ihm ihre Bluse ab und streifte sie über.
Riordan griff nach dem Saum und zog sie über ihre vollen Brüste. »Selbst angezogen siehst du so sexy aus, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich meine Hände von dir lassen kann.« Zärtlich fuhr er unter den Stoff, hob ihre Brüste ein wenig an und strich mit den Daumen über ihre zarte, glatte Haut. »Du fühlst dich unglaublich weich und warm und einladend an«, murmelte er und nahm, weil er der Versuchung nicht mehr widerstehen konnte, eine ihrer zarten Knospen zwischen seine Lippen.
Mit geschlossenen Augen schmiegte Juliette sich an ihn, schlang ihm die Arme um den Nacken und drückte ihn an sich, während eine wundervolle träge Hitze sie durchflutete und ganz und gar gefangen nahm. Sie liebte es, wie er mit ihrem Körper spielte und wie er sich geradezu an ihr berauschte. Er wollte offensichtlich, dass es ihr bei ihm nicht anders ging. »Wir werden nie hier wegkommen, wenn wir so weitermachen«, flüsterte sie, obwohl sie ihre Jeans am liebsten wieder ausgezogen hätte, um ihre Beine um Riordans Taille zu schlingen. »Ich glaube, Sex mit dir macht süchtig.«
»Ich bin machtlos dagegen.« Noch einmal strich er mit der Zunge über eine ihrer Brustspitzen, bevor er sie widerwillig losließ. »Dein Körper ist so ungemein verlockend.«
Sie lächelte und strich mit den Fingern über seine Erektion. »Siehst du, jetzt gibst du schon wieder mir die Schuld. Aber wenn ich dich so sehe, hart und heiß und voller Verlangen, muss ich doch etwas dagegen unternehmen.«
Riordan stöhnte. »Ich habe einfach keine Disziplin bei dir«, erklärte er und zog an den Jeans, bis sie um ihre Knöchel lagen und sie hinaussteigen konnte. »Wenn ich keine Erleichterung finde, werde ich wahrscheinlich nicht mal laufen, geschweige denn gegen Vampire kämpfen können. Was wirst du also dagegen unternehmen?«
Statt einer Antwort schlang sie die Arme um seinen Nacken, zog sich an ihm hoch und legte die Beine um seine Taille. »Was hältst du davon?«, raunte sie und biss ihn spielerisch ins Ohrläppchen, während sie sich beinahe quälend langsam auf sein Glied hinunterließ. Als er mit einer ungeduldigen, kraftvollen Bewegung in sie eindrang, erschauerte sie in lustvoller Erwartung. »Es ist immer so … perfekt mit dir«, murmelte sie und verhielt sich still, bis er sie vollkommen in Besitz genommen hatte und das Gefühl eine wahre Flutwelle glühender Schauer über ihre Nervenenden sandte.
Riordan legte ihr fest die Hände um die Hüften und stützte sie, bevor er sich mit langen, tiefen, drängenden Stößen zu bewegen begann. Er liebte es, wie ihre Brüste sich an seinem Oberkörper rieben, wie sie den Kopf zurückwarf und in sinnlicher Verzückung die Augen schloss. Sie schnurrte wie eine Katze und passte sich, ebenso enthemmt und wild wie er, in perfekter Harmonie seinem Rhythmus an. Inzwischen war er geistig schon so auf sie eingestellt, dass er mit jeder seiner Bewegungen darauf abzielen konnte, ihr noch größere Lust zu bereiten. Er wusste, wann sie es tief und langsam wollte, oder wann sie die schnellen, harten Stöße brauchte, die den berauschenden Kontakt noch steigerten.
Nächtliche Schatten verbargen sie in der kleinen Grotte, in den Baumkronen über ihnen flüsterte der Wind, und Fledermäuse flatterten über dem Wasser und erbeuteten die Insekten dicht über der Oberfläche. Regentropfen fielen leise plätschernd in den Teich. Juliette atmete die Gerüche der Nacht ein, die sich mit dem ganz speziellen Duft von Mann und Frau vermischten. Ihre Nägel bohrten sich in Riordans Schultern, als Welle um Welle lustvollster Empfindungen sie durchströmten. Riordan, der die Erfahrung auf geistigem Wege mit ihr teilte, wurde von den Schauern ihres Orgasmus mitgerissen und konnte einen heiseren Aufschrei nicht mehr unterdrücken. Juliette, die so vollkommen mit ihm verschmolzen war, spürte den sich aufbauenden Druck in ihm und die glühenden Blitze, die ihn explosionsartig durchzuckten und auf sie übersprangen. Und noch immer steigerten sie des anderen Leidenschaft und Hitze, diesen Feuersturm der Lust, der sie mit sich riss und überschwemmte, ihnen den Atem raubte und sie sich in hilfloser Verzückung aneinanderklammern ließ.
Juliette presste den Mund hungrig auf Riordans, als könnte sie noch immer nicht genug von ihm bekommen. Sie versuchte buchstäblich, in ihn hineinzukriechen, den gleichen Körper und den gleichen Geist mit ihm zu teilen. Dann veränderten sich ihre Küsse, waren nicht länger verlangend und gierig, sondern wurden langsam, erkundend und grenzenlos zärtlich. Schließlich blickte Juliette auf und schaute ihm in die Augen. Lange starrten sie einander an, nahmen den Anblick des anderen in sich auf und verloren sich in den geheimnisvollen Tiefen. »Ich sehe dich an, und alles findet sich, Riordan. Ich weiß nicht, warum, und ich glaube, ich will das auch gar nicht zu genau ergründen. Ich werde einfach nehmen, was das Schicksal mir geboten hat, und es mit beiden Händen festhalten.«
»Du wirst es nie bereuen, Juliette«, versprach er ihr und bedeckte ihr Gesicht, ihre Augen, ihren Nacken und ihren Hals mit unbeschreiblich süßen Küssen. »Es wird dir niemals leid tun.«
»Ich kann deinen Hunger, den Drang in dir, jetzt spüren. Es ist etwas Beängstigendes. Wie kannst du das nur so gut unter Kontrolle halten, wie du es tust? Ich würde weiß Gott was verschlingen, wenn es mir so erginge.« Sie strich ihm das lange Haar zurück und nahm ihre Beine von seiner Taille. »Du brauchst Nahrung, Riordan. Und mir macht es nichts aus, ganz ehrlich nicht. Ich bin kein bisschen hungrig, und beim Gedanken an Essen wird mir schlecht, doch ich finde es irgendwie sexy, wenn du mein Blut trinkst. Ich glaube, ich werde langsam ein bisschen abartig«, bemerkte sie und sah sich nach ihrer Jeans um. Deshalb entging ihr der Ausdruck der Verwunderung auf Riordans Gesicht.
Er bückte sich, um ihr Hemd aufzuheben, wo sie es achtlos hatten fallen lassen. Er erinnerte sich nicht einmal daran, es ihr ausgezogen zu haben. »Das ist sehr großzügig von dir, aber ich denke, ich werde es lieber unterlassen, Blut von dir zu nehmen.« Diesmal knöpfte er ihr die Bluse zu. »Dir ist doch hoffentlich bewusst, dass ich andauernd an deine Brüste denken werde, die hinter dieser hauchdünnen Barriere warten? Sollte ich also später abgelenkt sein, wirst du verstehen, warum.«
Juliette lachte. Sie konnte sich nicht erinnern, je so glücklich gewesen zu sein. »Kein Problem. Denk nur ruhig an meine Brüste – oder glaubst du etwa, ich würde nicht an deinen gut gebauten Körper denken?« Sie zog ihre Jeans an und flocht geschickt ihr langes Haar. »Wie viel Zeit bleibt uns heute Nacht für unsere Reise?«
Er blickte auf zum Himmel. »Ein paar Stunden. Aber ich denke, dass wir viele Meilen schaffen werden. Ich werde dich tragen müssen, und das bedeutet, dass ich Blut zu mir nehmen muss.« Er schaute zu den schlimmen Narben an seiner Brust hinunter. »Karpatianer heilen in der Erde, doch so war es nicht bei mir. Ich werde jedoch meine volle Kraft für den bevorstehenden Kampf brauchen, und das bedeutet, dass ich Beute finden muss.«
Juliette erstarrte plötzlich. »Aber nicht meine Schwester oder Cousine«, sagte sie mit einem warnenden Unterton in der Stimme.
Riordan grinste sie an. »Darum brauchst du dich wohl nicht zu sorgen, denke ich. Ich würde doch nicht riskieren, deinen Zorn auf mich zu ziehen«, scherzte er und zog an ihrem Zopf. »So grimmig, wie du klingst.«
Juliette wollte ihm beim Anziehen zusehen, aber das erledigte er mit einer simplen Handbewegung, als hätte er die Kleider aus dem Nichts heraus erzeugt. Auch sein Haar war plötzlich ordentlich zurückgekämmt und mit einem Lederband zu einem Zopf gebunden. An seinem ganzen Körper war kein einziger Tropfen Wasser mehr zu sehen. »Hey, das ist Schummelei! Sieh mich an. Ich sehe aus wie eine nasse Katze«, maulte Juliette, während sie ihren schweren, nassen Zopf über die Schulter warf. »Ich will das auch können.«
»Das wirst du«, versicherte er ihr. »Komm her! Wir müssen los.«
»Du willst mich doch wohl nicht wieder über die Schulter werfen wie beim letzten Mal?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
Sein breites Grinsen offenbarte blendend weiße Zähne. »Na ja … ich muss gestehen, dass ich daran gedacht habe.«
»Ich würde es dir nicht empfehlen. Letztes Mal war mir so übel, dass ich ernsthaft daran dachte, dich von oben bis unten vollzuspucken.«
»Oh, dann habe ich ja Glück gehabt, dass du dich beherrschen konntest.« Riordan zog sie in die Arme, drückte sie ganz fest an sich und verwandelte sich, noch während er sich in die Luft erhob, in einen Vogel. Es war leichter, über die Baumkronen hinwegzufliegen, als sich einen Weg durch die Äste und das dichte Gestrüpp dort bahnen zu müssen. Zudem war es der beste Schutz vor Fallen. Sie näherten sich dem Gebiet, wo er die nach Hilfe rufende Stimme gehört hatte, die die eines Vampirs gewesen war. Er war sicher, dass der Untote und seine menschlichen Komplizen auch für das Netz verantwortlich waren, das ihn beinahe erwischt hatte.
Juliette lachte laut, als Riordan mit ihr über den Himmel jagte. Zwei Mal streckte sie die Hand aus und versuchte, eine Wolke zu berühren, weil sie nicht widerstehen konnte. Wow, das ist fantastisch! Sie fühlte sich wie ein Teil des Nachthimmels, der Sterne und Wolken, ja sogar des Regens. Ihr war, als wäre sie mit der Natur verschmolzen. Sie hatte gedacht, es würde sie ängstigen, doch sie fühlte sich nur sehr beschwingt und überaus lebendig. Es war genauso wundervoll, wie in Jaguargestalt den Dschungel zu durchstreifen.
Bereue nie etwas, Juliette. Du wirst viele verschiedene Gestalten annehmen und sie mühelos halten können.
Ich muss dir etwas sagen. Das Lächeln wich von Juliettes Gesicht, und Riordan konnte das in ihr aufsteigende Unbehagen spüren, als er der Richtung folgte, die ihre Gedanken einschlugen. Wir werden häufig umziehen müssen. Wir haben nicht nur ein Zuhause.
Er wartete. Das war es nicht, was sie ihm sagen wollte. Sie war unschlüssig, ganz anders als seine sonst so selbstbewusste Juliette. Sie drehte und wendete ihre Worte und suchte nach der besten Formulierung, um sich ihm verständlich zu machen.
Juliette. Du musst mir vertrauen. Sag einfach, was du zu sagen hast, und sei sicher, dass ich verstehen werde.
Tief unter ihnen konnte sie die Baumkronen und das Gewirr der Äste sehen. Die Blätter der Bäume glänzten silbern und schwarz im Schein des Mondes, und die Regentropfen, die glitzernd wie Diamanten aus den Wolken fielen, blendeten sie fast. Wir haben furchtbare Dinge von den Männern gesehen. Junge, nicht verwandlungsfähige Mädchen, die geschlagen und missbraucht worden waren. Solange, Jasmine und ich haben geschworen, bis auf das Unumgängliche nie etwas mit einem Mann zu tun zu haben.
Bis auf das Unumgängliche? Sie meinte Sex. Riordans Herz schlug schneller, und etwas Finsteres, Gefährliches erwachte in ihm, das so hässlich und explosiv war, dass ihn seine Reaktion beschämte. Juliette erzählte ihm etwas, das für sie und ihr Leben schrecklich wichtig war, und sein erster Gedanke war, dass das ›Unumgängliche‹ Sex mit anderen Männern war. Riordan verachtete sich für seine kleinlichen Gedanken. Juliette war eine schöne, sinnliche Frau, die gewiss viele Männer attraktiv fanden, und diese Tatsache sollte ihn mit Stolz auf sie erfüllen. Außerdem vertrauten Seelengefährten einander blind. Es war unmöglich, seine andere Hälfte zu belügen oder etwas vor ihr zu verbergen, und wenn sie einander besser kennenlernten, würde es ganz natürlich sein, immer mehr Zeit im Bewusstsein des anderen zu verbringen.
Ich bin kein solcher Mann, Juliette. Nicht einmal in meinen schlimmsten Momenten würde ich einer Frau oder einem Kind etwas zuleide tun. So etwas ist mir zuwider. Ich hatte keine Ahnung, dass meine zurückkehrenden Emotionen so stark und intensiv sein würden, aber ich kenne mich gut. Ich würde und könnte dir oder deiner Schwester oder Cousine niemals etwas antun.
Juliette lehnte sich an ihn, spürte das Kitzeln seiner Federn und wünschte, sie könnte sich auch in einen Vogel verwandeln. Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich weiß schon, dass du einer Frau nie wehtun würdest, sonst wäre ich nicht bei dir. Ich befürchte nur, dass meine Familie nicht gerade erfreut über unsere Beziehung sein wird.
Ich werde sie schon umstimmen.
Tief unter ihnen, nicht weit vom Rand des Regenwaldes entfernt, lag eine kleine Ortschaft. Riordan begann vorsichtig an Höhe zu verlieren, wobei er unablässig die Gegend unter ihnen nach Hinweisen auf einen Vampir absuchte. Du musst immer nach Gefahren Ausschau halten, bevor du dich zu erkennen gibst.
Es ist ein bisschen aufdringlich, wahllos jeden Gedanken aufzuschnappen. Sie beobachtete Riordan sehr aufmerksam und versuchte, so viel wie möglich über ihn zu erfahren. Aber nicht alles gefiel ihr. Ich würde es hassen, die Gedanken meiner Schwester oder die meiner Cousine aufzufangen.
Riordan lachte, als er sie sanft auf dem Boden absetzte und wieder seine natürliche Gestalt annahm. »Du kannst es vermeiden, die Gedanken deiner Familie zu lesen. Du wirst lernen, Dinge auszuschließen, sobald du deine Fähigkeiten verfeinerst. Fang damit an, mit Lautstärke zu experimentieren, und versuch, die Luft zu deuten. Du kannst Gefahr an ihren Schwingungen erkennen. Wenn irgendwo ein leerer Fleck ist, wo etwas, was dir natürlich erscheinen würde, nicht vorhanden ist, versucht ein Vampir, sich vor dir zu verbergen.«
»Erkennst du einen Untoten immer, wenn er dir begegnet?«
»Leider nicht. Wenn ein Vampir geschickt ist, wie beispielsweise ein Meistervampir, könnte er sich problemlos einem der Jäger nähern, ihn auf die Art und Weise meines Volkes begrüßen und dann wieder ungeschoren seiner Wege gehen.«
»Wie beängstigend!«
»Bleib hier, während ich mir Nahrung suche. Für den Moment müsstest du an diesem Ort sicher sein. Der Wald fühlt sich an, als versteckten sich sogar die Tiere.«
Juliette erstarrte. Sie war so angestrengt bemüht gewesen, wie ein Karpatianer zu denken, und so in Riordan aufgegangen, dass sie die wichtigste Regel für das Leben im Dschungel vergessen hatte: Sie hatte nicht auf das Warnsystem seiner Bewohner geachtet. Als Riordan sich von ihr entfernte, verschmolz er mit den Schatten, sodass es unmöglich war, ihn zu sehen, selbst wenn sie geradewegs zu ihm hinüberblickte.
Sie erhob ihr Gesicht in den Wind. Sie war ein Jaguarmensch, und jetzt waren ihre Sinne durch uraltes karpatianisches Blut noch zusätzlich geschärft. Juliette konnte die Dschungelnachrichten entziffern. Tiere verbargen sich, kauerten still und zitternd da und warteten, bis ein Nachtvogel signalisierte, dass sie wieder sicher waren vor Räubern.
Juliette wandte den Kopf aufmerksam in alle Richtungen und spürte, dass die Luft buchstäblich vor Gefahr vibrierte. Hier stimmte etwas nicht! Sie waren ein paar Meilen von dem Labor entfernt und noch einige von ihrem Zuhause.
Ihr Herz machte einen Satz. »Jasmine!« Ein großes Raubtier oder eine Jagdgesellschaft hatte das Gebiet durchquert und die Waldbewohner verängstigt. Oder eine ganze Gruppe Raubtiere, dachte sie, während es ihr kalt über den Rücken lief. Sie hatte die Wachen des Morrison-Labors aus der Richtung ihres Zuhauses fortlocken sollen, aber stattdessen hatte Riordan sie fortgetragen. Hatten die Männer deshalb Jasmines Spur gefunden? Vielleicht war sie nicht so vorsichtig gewesen, wie sie sollte, weil sie angenommen hatte, Juliette lenkte die Wachmänner von ihrer Fährte ab. Und was, wenn noch Schlimmeres hinter Jasmine her war als die menschlichen Wachen? Was, wenn die männlichen Jaguarmenschen ihren Weg gekreuzt hatten? Solange war auf einer Aufklärungsmission, um herauszufinden, ob es Neuigkeiten über verschwundene Frauen gab, sodass Jasmine also ganz allein auf sich gestellt gewesen war …
Ohne Zögern drehte Juliette sich um und folgte der schmalen Tierfährte durchs Unterholz. Ich glaube, meine Schwester ist in Schwierigkeiten.
Ich bin gerade dabei, mich zu stärken, und werde bald meine volle Kraft erreicht haben. Warte auf mich. Ich bringe uns zu ihr.
Doch Juliette konnte nicht abwarten. Sie wusste, dass es unvernünftig war, aber sie musste etwas unternehmen. Ein Adrenalinstoß ging durch ihre Adern, und Furcht ergriff Besitz von ihr. Was, wenn Jasmine in der Nacht zuvor entführt worden war und die Jaguare sie schon seit beinahe vierundzwanzig Stunden in ihrer Gewalt hatten? Bitte, bitte, bitte, lieber Gott!, flehte sie im Stillen, während ein Brennen in ihrer Brust entstand und ihre Kehle immer enger wurde. Je schneller sie rannte, desto größer wurde ihre Überzeugung, dass die Jaguarbande ihrer Schwester auf der Spur gewesen und ihr gefolgt war.
»Juliette.« Riordan verstellte ihr urplötzlich den Weg und fing sie in seinen starken Armen auf. Sie prallte hart gegen seine Brust, aber er geriet nicht mal ins Taumeln. »Wir müssen vorsichtig sein, und wir wollen auch keine Spuren zerstören. Falls sie Jasmine haben, ist es besser, uns darauf zu konzentrieren, ihre Spur zu finden, statt ziellos hier herumzulaufen.«
»Du weißt nicht, wozu diese Bestien fähig sind!«, fauchte Juliette und riss sich von ihm los.
»Wir werden Jasmine finden und nach Hause bringen.«
Juliette trat einen Schritt zurück und schlang die Arme um ihre Mitte. »Du hast ja keine Ahnung, was sie erleiden wird, und das kann ihr niemand wieder nehmen.«
Er ging mit solch fließenden, lautlosen Bewegungen voran, dass nicht einmal das Laub unter seinen Füßen raschelte. Juliette versuchte, ruhig durchzuatmen und ihren Verstand wieder zum Funktionieren zu bringen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Jasmine etwas zustieße. Es wäre meine Schuld. Ich sollte die Wachen weglocken, damit sie ihr nicht nach Hause folgen konnten, aber ich war ja nicht da, und sie hat mit Sicherheit Spuren hinterlassen. Die Jaguarmänner könnten sie mühelos verfolgen, Riordan!
Es ist nicht deine Schuld, Juliette. Riordan konnte Jasmine schon riechen. Er wollte es Juliette nicht sagen, doch er war sich völlig sicher, als sie sich der kleinen, von Ranken und Schlingpflanzen überwachsenen Hütte näherten, die kaum zu erkennen war unter all der Vegetation. Riordan griff nach Juliettes Hand. Die Tür war so zersplittert, dass auf einer Seite nur noch ein großes Loch zu sehen war.
Ein fürchterlicher Schrei stieg in Juliettes Kehle auf, den sie weder zurückhalten noch unterdrücken konnte. Der Laut entrang sich rau und schmerzlich ihrer Seele und zerriss ihr fast die Kehle. Es war ein leidvoller Aufschrei, voller Qual und Kummer – aber auch ein Versprechen, gnadenlose Rache zu üben.