9. Kapitel

Die Sonne verbrennt mir die Augen«, sagte Juliette und betastete mit den Fingerspitzen ihr Gesicht. »Sie tränen schon die ganze Zeit, und meine Haut fühlt sich an, als würde sie Blasen werfen.«

»So ist es auch. Also verwandle dich, Juliette, und beeil dich, bevor du von Blasen übersät bist. Wir reden später über alles.« Solange maß sie erneut mit einem scharfen Blick. »Du kannst mir erzählen, was dieser Mann getan hat, wenn wir Jasmine befreit haben.«

»Sag mir nur, ob der Jaguarmann, den du zum Labor gelockt hast, sich den Menschen genähert hat oder nicht«, bat Juliette, während auch sie ihre Kleider zusammenband und sie sich um den Hals hängte.

»Das hat er. Er sprach kurz mit ihnen, ohne sie jedoch seinen Körper sehen zu lassen. Stell dir vor, er war imstande, sich zur Hälfte zu verwandeln! Er war halb Mensch, halb Jaguar. Ich kann das nicht. Keiner von uns ist dazu in der Lage.«

»Und du stammst von der reinsten Blutlinie ab, von der wir wissen«, gab Juliette zu bedenken. »Mom bezeichnete dich einmal sogar als ›Prinzessin‹.«

Solange verzog das Gesicht. »Irgendwie schätze ich mich deswegen nicht sehr glücklich. Ich würde nicht die Prinzessin der Jaguarmenschen sein wollen.« Sie sah sich um. »Bist du so weit? Wir müssen von hier verschwinden. Diese Männer haben Jasmine schon zu lange in ihrer Gewalt.« Sie verwandelte sich bereits, ihr Körper und ihr Gesicht überzogen sich schon mit Fell, und ihr Kinn verlängerte sich, um langen Fängen Platz zu machen.

Juliette schloss die brennenden Augen und stellte eine Verbindung zu Riordan her. Sag mir, dass du in Sicherheit bist.

Ich liege in der heilenden Erde. Lass mich dir bei der Verwandlung helfen. Er spürte, wie geschwächt sie war, wie müde und erschöpft, und musste das Bedürfnis unterdrücken, sie bei sich zu behalten. Denn größer noch als seine eigene Not war ihre. Juliette musste ihre Schwester finden, und das verstand er, auch wenn es ihm nicht gefiel.

Juliette rief die große Katze in sich hervor und konzentrierte sich auf die Verlagerung von Muskeln und Knochen. In ihrem Bewusstsein spürte sie Riordan, der ihr Kraft und Energie vermittelte, obwohl er eigentlich keine zu erübrigen hatte. Ein Teil von ihr war den Tränen nahe, als sie seine Schmerzen mitempfand, und fürchtete die bevorstehende Trennung, aber sie musste ihre Schwester finden.

Die Verwandlung vollzog sich schnell. Juliette berührte Solanges Schnauze mit der ihren, und gemeinsam drehten sie sich um und liefen auf leisen Pfoten tiefer in den Dschungel hinein. Mithilfe des hervorragenden Geruchssinns des Jaguars fanden sie fast augenblicklich Jasmines Spur und folgten ihr, so schnell sie konnten. Mit ihrer katzenhaften Geschmeidigkeit flitzten sie die Bäume hinauf und benutzten den Weg über das Gewirr der Äste hoch im Blätterdach, um schneller und vor allem unbemerkt voranzukommen.

Vögel erhoben sich unter warnendem Gekreische in die Luft, aber da die beiden Jaguare sie nicht beachteten, ließen die Vögel sich nach einer Weile wieder in den Baumkronen nieder und ignorierten sie fortan. Der Wald war jedoch zum Leben erwacht, Insekten summten aufgeregt, Frösche quakten, und andere Tiere schrien sich Warnungen vor den großen Räubern zu.

Juliette spürte den genauen Moment, in dem Riordan der höher steigenden Sonne erlag und sein Herz aufhörte zu schlagen. In einem tiefen Seufzer entwich der Atem ihrer Lunge, ihr Herz geriet ins Stolpern, und von jetzt auf gleich fühlte sie sich vollkommen allein – so mutterseelenallein und gramgebeugt, dass sie strauchelte und fast von dem Ast herunterstürzte. Blätter flogen in alle Richtungen, und Vögel stoben wieder kreischend auf. Im letzten Augenblick gelang es Juliette, die Krallen in die Rinde eines Baumes zu schlagen. Solange fuhr herum und fauchte warnend. Sie wollten schließlich nicht irgendwelche Jaguarmänner alarmieren, die vielleicht den Weg bewachten.

Das dichte Blätterdach schützte vor der Sonne, und trotzdem spürte Juliette ihre Strahlen selbst durch das dichte Fell bis auf die Haut. Ihre Augen tränten unaufhörlich und brannten im Licht. Doch nichts von alldem spielte eine Rolle, weder ihr Kummer noch ihre Beschwerden. Und auch die Trennung von ihrer anderen Hälfte nicht. Juliette konzentrierte sich voll und ganz auf ihre geliebte Schwester. Jasmine war alles, was jetzt für sie zählte.

Am frühen Nachmittag wurde die Spur heißer. Der stechende Geruch der männlichen Jaguare war leichter zu verfolgen. Es waren vier, die durch den Urwald eilten, wie an ihren Spuren zu erkennen war, vier augenblicklich in Jaguargestalt und ein fünfter in menschlicher, der Jasmine trug.

Trotz ihrer Entschlossenheit merkte Juliette, dass sie Mühe hatte, mit Solange Schritt zu halten. Ihr Körper verlangte sogar in Jaguargestalt nach Schlaf und wollte sich, was noch viel schlimmer war, wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandeln. Sie hatte schon immer Schwierigkeiten damit gehabt, ihre Jaguargestalt für längere Zeitspannen beizubehalten. Es war ihr noch nie fast einen ganzen Tag gelungen, und jetzt war es ihr nahezu unmöglich weiterzulaufen.

Doch plötzlich verhielt Solange abrupt den Schritt, und ihr ganzer Körper erstarrte. Juliette witterte den Geruch von Furcht, von Gewalt und sexuellem Missbrauch. Von heftigem Würgen und Brechreiz geschüttelt, verlor sie ihre Jaguargestalt und klammerte sich an einem Ast fest, um nicht abzustürzen. Auch Solange wechselte schnell zu ihrer menschlichen Gestalt und stützte und hielt Juliette, während diese sich erbrach.

Einen Moment lang brüllte Juliette innerlich vor Auflehnung und Zorn, hämmerte in hilfloser Wut gegen die Baumrinde, bis ihre Fäuste wund und blutig waren, und weinte hemmungslos. »Sie hat sich gewehrt. Sie hat gekämpft, und ich war nicht hier, um ihr zu helfen. Wie konnten sie ihr so etwas antun?«

Solange weinte still, der Zorn in ihr war tief, stark und gnadenlos. »Wir werden sie zurückholen, Juliette. Nimm dich zusammen! Du musst stark für sie sein. Was auch immer passiert ist, wir dürfen uns davon nicht behindern lassen. Sie wollten ihr Angst einjagen und sie sich gefügig machen. Das tun sie, um ihre Macht zu demonstrieren und Frauen ihrer Würde und Hoffnung zu berauben. Aber Jasmine weiß, dass wir kommen und nicht eher ruhen werden, bis wir sie zurückhaben oder tot sind.« Solange strich Juliette das Haar aus den Augen. »Ich sehe, dass die Sonne dir schadet und dass dein Körper Ruhe braucht, aber du bist nicht schwach geworden und hast nicht aufgegeben, egal, was es dich kostet. Jasmine weiß, wie wir sind. Sie wird sich darauf verlassen und durchhalten.«

Juliette erlaubte ihrer Cousine, sie einen Moment in die Arme zu nehmen und zu trösten. Dann sagte sie: »Wir müssen uns beeilen, Solange. Sie dürfen ihr das nicht noch einmal antun.«

Beide Frauen wollten nicht an ihre Mütter denken, aber das war unvermeidlich. »Kannst du die Jaguargestalt noch einmal annehmen?«, fragte Solange besorgt.

Juliette nickte. »Ich weiß nicht, wie lange ich sie dann halten kann, aber ich werde mir die größte Mühe geben. Hast du irgendwelche Waffen in der Nähe versteckt?«

»Etwa eine Meile von hier. Ich glaube, wir sind nicht weit entfernt von einem unserer geheimen Lager, wo wir Kleidung, Proviant, Trinkwasser, Medikamente und Messer finden werden. Und diese Mistkerle werden nicht mehr lange weitergehen. Sie werden müde sein und eine Rast einlegen wollen.«

Juliette begann unverzüglich mit der Verwandlung. Es war leichter, nicht an Jasmine und das, was die Männer ihr angetan hatten, zu denken. Juliette wollte nicht die Blutflecken auf dem Boden und die Spuren des Kampfes sehen. Es schwächte sie nur. Die unstillbare Wut, die in ihr brodelte, musste zu ungebremstem Hass anschwellen, heiß und unversöhnlich.

Sie quälte sich durch die nächsten Stunden und trieb ihren erschöpften, ausgelaugten Körper bis zum Äußersten. Ihre Augen tränten wieder unaufhörlich, doch diesmal war sie sich nicht sicher, ob es die Auswirkung der Sonne war oder der Schmerz, der in ihr tobte. An Solanges Haltung konnte sie erkennen, dass sie von den gleichen intensiven Empfindungen beherrscht war, von Wut und Kummer, die vielleicht nie wieder vergehen würden. Juliette versuchte, nicht an das Mädchen zu denken, das Jasmine gewesen war, mit ihrem sanften, liebenswerten Wesen und dem koboldhaften Lächeln. Während Solange und Juliette beide hitzig, impulsiv und leidenschaftlich waren, war Jasmine ruhig und ausgeglichen und von unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit.

Juliette spürte, wie ein ungläubiger Schrei in ihr hochstieg, und konnte ihn gerade noch unterdrücken, als Solange von ihrem Weg abbog, um zu ihrem geheimen Versteck zu gelangen, wo sie Waffen und Proviant gelagert hatte. Wieder in menschlicher Gestalt, schlüpften sie in ihre Jeans und Hemden und schnallten sich mit der gleichen Unbefangenheit, mit der sie sich anzogen, Messer um.

»Sie sind in der Nähe«, sagte Solange mit gedämpfter Stimme. »Ich spüre sie. Wir sind in ihrem Windschatten.« Sie trank Wasser aus einer der bei dem Proviant versteckten Flaschen. Es war brackig von der langen Lagerung, aber es löschte den Durst, und sie reichte die Flasche an Juliette weiter. »Fühlst du dich dem Kampf gewachsen? Er wird nicht leicht werden.«

Sie sahen einander in die Augen, und Juliette nickte. »Wir werden es schaffen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Solange nahm die Wasserflasche wieder an sich. »Wir sind ihnen zahlenmäßig unterlegen, und sie sind stark, Juliette, unglaublich stark. Ich habe gehört, dass Karpatianer unvorstellbare Leistungen vollbringen können. Und das ist offenbar auch wahr, wenn dieser Riordan sich in Nebel auflösen kann, wenn er angegriffen wird. Glaubst du, er könnte uns helfen, sogar wenn er in der Erde ruht?«

Juliette versuchte sofort, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Sie hatte ohnehin immer wieder an seinen Geist gerührt, weil sie den Kontakt zu ihm brauchte. Die Tatsache, dass sie ihn nicht erreichen konnte, hatte ihren Kummer noch verschlimmert. Diesmal war ihr Ruf an ihn jedoch weitaus fordernder und dringlicher.

Juliette? Seine Stimme war schwach und weit entfernt, aber sie war da und durchflutete ihr Herz und ihre Seele mit überwältigender Erleichterung.

Um ihn ins Bild zu setzen, ließ sie die Ereignisse des Tages in Gedanken noch einmal Revue passieren. Riordan wurde sehr still, ja entzog sich ihr sogar. Zuvor jedoch ließ er sie den dunklen, unbändigen Zorn spüren, der in ihm hochkochte, brandgefährlich, unheilvoll und noch weitaus tödlicher als ihr eigener. Vielleicht hätte die Heftigkeit seiner Gefühle sie ängstigen sollen, doch tatsächlich beruhigte und tröstete es sie, dass er ihrer Schwester wegen zu solch starken Emotionen fähig war.

Als Riordan es schaffte, seine Wut und Empörung unter Kontrolle zu bringen, suchte er von sich aus die Verbindung zu ihr, die jetzt auch schon viel stärker war. Diese Männer sind gefährlich, möglicherweise ist ihr Verhalten von dem Vampir geprägt, oder vielleicht sind sie auch eine Gruppe von Perversen, die sich zusammengeschlossen haben. Sie müssen aufgehalten werden, aber zwei Frauen haben keine Chance gegen eine derartige Übermacht, und das weißt du auch. Es wird deiner Schwester nicht helfen, wenn ihr tot seid.

Uns bleibt nichts anderes übrig, als sie unverzüglich dort herauszuholen, Riordan. Wir können Jasmine nicht noch länger dieser Gewalt aussetzen. Bitte versteh, dass ich keine andere Wahl habe. Kannst du uns nicht helfen?

Es sind noch zwei Stunden, bis die Sonne untergeht. Ich kann mich etwas früher erheben. Gib mir noch eine Stunde! Am liebsten hätte Riordan sich auf der Stelle aus der Erde hervorgekämpft, um zu Juliette zu gelangen, aber sein Körper war bleischwer und außerstande, sich zu rühren.

Solange wird sie aufspüren, doch falls sie Jasmine Gewalt antun, können wir nicht tatenlos zusehen, wie sie sie missbrauchen. Das kannst du nicht von uns verlangen.

Riordan fluchte leise. Ich hätte dich gleich umwandeln sollen, dann würdest du jetzt schon voll und ganz unter meinem Schutz stehen. Aber jetzt war es zu spät, seinen Fehler wiedergutzumachen. Er saß unter der Erde fest, und seine Seelengefährtin befand sich in tödlicher Gefahr. Riordan änderte die Taktik und spürte, wie Juliette sich ein wenig von ihm entfernte. Aber er wagte nicht, die Verbindung zu ihr zu verlieren. Zacarias, wach auf! Ich brauche deine Hilfe. Manolito, wir brauchen dich!

Juliette hielt den Atem an und wartete. Sie wusste, wie mächtig Riordan war, und hatte auch schon die unglaublichen Fähigkeiten seines ältesten Bruders miterlebt. Hoffnung keimte in ihr auf.

Manolito ist unterwegs zu den Karpaten, beantwortete Zacarias Riordans Ruf. Falls nötig, werde ich dich mit meiner Kraft versorgen. Aber warne die Frauen, dass auch du sterben wirst, falls deine Gefährtin fällt, und zwar so, dass sie sich das Monster nicht mal vorstellen können, das dadurch entfesselt werden wird.

Juliette bekam mehr von dem Austausch mit, als den Brüdern bewusst war. Sie war schon sehr geschickt darin, Riordans Erinnerungen zu durchforsten. Doch sie wusste wirklich nicht, ob sie Riordan an sich gebunden und ihn auf der Stelle umgewandelt hätte, wenn sie diejenige wäre, die von dem Wahnsinn des Vampirs ergriffen werden könnte. Deshalb versuchte sie, ihn zu beruhigen, so gut sie es vermochte. Danke, Riordan. Und danke auch bitte deinem Bruder!

Dann wandte Juliette sich an ihre Cousine. »Sie unterstützen uns.«

Solange gab ihr noch einmal die Wasserflasche. »Gut, dann werde ich deinem Mann vertrauen, wenn du es tust. Bleib hier und warte auf das Signal. Ich werde sehen, womit wir es zu tun haben. Das müsste dir noch ein paar Minuten geben, um dich auszuruhen.«

»Wir werden wie immer Rücken an Rücken kämpfen, Solange. Falls Jasmine im Moment noch sicher ist, warten wir, bis Riordan sich erheben kann. Wenn nicht, können er und sein Bruder uns hoffentlich trotzdem helfen.« Schon jetzt bemerkte sie die Sturmwolken, die über ihnen aufzogen und mithalfen, die Sonne zu verdecken und ihre Augen zu schützen. Auch der Wind schlug um und trug den starken Geruch männlicher Jaguare zu ihnen herüber. Juliette drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch das Gebüsch; dabei war sie sorgsam darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen. Solange hatte sich bereits in dem Dickicht aus Orchideen, Pilzen und Farn verloren. Nur wenige verstanden es besser als sie, mit dem Urwald zu verschmelzen und ungesehen zu bleiben. Juliette, die ihrer Cousine blind vertraute, ging in einiger Entfernung von der Lagerstatt in Stellung.

Die Jaguare benutzten eine kleine, von Menschenhand erzeugte Höhle oberhalb der Uferbank. Die Öffnung war kaum mehr als ein Schlitz zwischen zwei Felsen. Solange schlich langsam in einem Kreis um das Gebiet herum, weil sie wusste, dass es einen Hinterausgang geben musste. Die Jaguare würden nie riskieren, in der Höhle wie in einer Falle festzusitzen. Der Wind drehte sich mit ihr im Gehen, sodass er immer vor ihr blieb und ihr die genaue Position der Wachposten verriet. Ein Jaguar, der sich offensichtlich auf das Dschungelwarnsystem verließ, kauerte auf einem Baum links neben der Höhle und hielt dort, müde von dem zweitägigen Marsch durch den Urwald, ein Nachmittagsschläfchen. Der zweite Wachposten hockte in menschlicher Gestalt vor einem Gebüsch aus hohen Farnen. Solange, die sicher war, dass sich hier das Schlupfloch für Notfälle befand, kehrte auf demselben Weg zu Juliette zurück, um sich mit ihr zu beraten.

Seite an Seite streckten sie sich in dem hohen Gras aus, und Solange drückte ihren Mund an Juliettes Ohr. »Ich konnte nichts in der Höhle hören. Wahrscheinlich ruhen sie sich aus. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nahe genug an den Wachposten in menschlicher Gestalt herankommen kann, um ihn zu töten, aber keine von uns wird es mit dem Jaguar aufnehmen können. Er ist groß, und er ist ein Kämpfer.« Sie berührte ihre Seite. »Außerdem ist er zu schnell.«

»Drinnen sind wir so gut wie chancenlos«, gab Juliette zu bedenken. »Mit dem einen auf dem Baum habe ich fünf gezählt. Gegen fünf ausgewachsene Jaguare können wir nicht gewinnen.«

»Vier«, entgegnete Solange entschieden, »nachdem ich die Wache ausgeschaltet habe. Was die anderen angeht, hast du jedoch recht. Wir müssen sie aus der Höhle herauslocken, um auch nur die kleinste Chance zu haben.«

»Das schaffe ich schon«, antwortete Juliette zuversichtlich.

Nein! Riordans Stimme war ungewöhnlich scharf und barsch, und Juliette hörte auch Zacarias’ Einwand: Wartet so lange wie möglich ab!

»Riordan will, dass wir warten«, berichtete Juliette Solange mit unsicherer Stimme, weil sie nicht wusste, wie ihre Cousine reagieren würde. »Er wird versuchen, sich vor Sonnenaufgang zu erheben, um uns beizustehen.«

Solange nickte langsam. »Ich finde, das klingt vernünftig, Juliette. Es muss uns nicht gefallen, doch wir haben kaum eine Chance gegen fünf erwachsene Männer.«

»Ich will aber näher heran, um sicherzugehen, dass sie Jasmine nicht anrühren«, sagte Juliette.

»Dann gehe ich«, entschied Solange. »Ich kann mich unsichtbar machen.« Ein humorloses kleines Lächeln erschien um ihre Lippen. »Natürlich nicht wie dein Karpatianer; auf meine Weise komme ich jedoch ganz gut zurecht.«

»Ja, du bist sehr talentiert«, gab Juliette zu.

Solange näherte sich in einem weiten Kreis wieder dem Hinterausgang, weil sie vermutete, dass Jasmine so tief wie möglich in der Höhle festgehalten wurde. Einmal bewegte sich der Jaguar in dem Baum, gähnte mit weit aufgerissenem Maul und ließ seine scharfen Zähne sehen. Solange hockte sich zwischen den Büschen auf den Boden und wartete dort völlig reglos ab. Juliette nahm ein Messer in die Hand. Der Jaguar streckte sich, blickte sich um und nahm mit seiner Nase, Zunge und den hochempfindlichen Schnurrhaaren Witterung auf. Da der Wind den Geruch der Frauen jedoch von ihr wegtrug, legte die große Katze den Kopf wieder auf die Beine und schloss die Augen.

Juliette ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. Solange wartete noch ein paar Minuten ab, bevor sie weiterkroch. Juliette strengte ihre Augen an, um zu sehen, wie ihre Cousine vorankam. Das Farnkraut schwankte leicht, aber es hätte auch der Wind sein können, der es bewegte. Juliette konnte nicht verstehen, wieso Riordan und Zacarias die Macht hatten, den Wind zu lenken und Solanges Vorankommen zu verfolgen. Fast konnte Juliette spüren, wie Riordan sich durch sie hindurchbewegte und versuchte, sich durch ihre Augen ein Bild des Kampffeldes zu machen. Er wartete. Angespannt wie eine angriffslustige Schlange wartete er auf den Moment, in dem er zum Himmel aufschießen und zu ihr eilen konnte. Riordans Besorgnis war beruhigend, und Juliette dankte sie ihm mit einer anerkennenden Bemerkung.

Die erste Warnung war das boshafte Grinsen, mit dem sich der menschliche Wachposten am Hintereingang plötzlich zu der Höhle umdrehte. Er ging ein paar Schritte darauf zu und spähte in das Dickicht, während er sich geistesabwesend mit einer Hand zwischen den Beinen kratzte. Juliette sah Solange hinter ihm erscheinen. Ein Schrei, in dem sich Zorn, Furcht und Schmerz vermischten, ertönte aus dem Inneren der Höhle, aber er wurde sogleich wieder erstickt. Ich habe keine andere Wahl, als einzugreifen, Riordan. Es war Juliettes einzige Rechtfertigung für das, was jetzt geschehen mochte – was auch immer das sein würde. Über die Uferböschung rannte sie zum Eingang der Höhle und erhielt einen kurzen Blick auf Solange, den Wächter, der kraftlos in sich zusammensank, und das blutbefleckte Messer in Solanges Hand.

Riordan blieb ruhig. Er protestierte nicht, sondern wartete ab und verfolgte die Ereignisse durch Juliettes Augen. Sie konnte auch die Gegenwart seines älteren Bruders spüren. Die Karpatianer lauerten in ihr und warteten auf ihren Moment.

Bleib an der Seite und halte die Klinge mit der scharfen Seite nach oben!, wies Riordan sie an, als sie sich dem Höhleneingang näherte. Juliette widersprach nicht; aufgrund ihrer telepathischen Verbindung kannte sie seinen Plan bereits. Sie rief Jasmines Namen, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war, und um die Männer aus der Höhle herauszulocken. Sie musste sich darauf verlassen, dass Solange ihr Rückendeckung gab und den Jaguar von ihr fernhielt. Ihr Arm fuhr hoch, schneller, als sie sich normalerweise zu bewegen wusste, und mit einer instinktiven, gut abgestimmten Bewegung streckte sie den ersten Mann, der aus der Höhle stürzte, nieder. Blut tränkte den Boden, aber Juliette konnte nicht hinsehen, wagte nicht hinzusehen, als sie das Brüllen des Jaguars hörte, der aus dem Baum auf Solange heruntersprang.

Juliette fuhr herum, um ihrer Cousine beizustehen, und rannte mit einer Schnelligkeit, die wieder nicht die ihre war, zu ihr hinüber. Solange verwandelte sich noch im Laufen, bevor sie und die schwerere männliche Katze aufeinandertrafen und sie sich fauchend, kratzend und beißend ineinander verkrallten. Juliette verhielt abrupt den Schritt, als Fell- und Hautfetzen durch die Gegend flogen und die beiden Katzen in tödlicher Umarmung über den Boden rollten. Sie hatte keine Möglichkeit, Solange beizustehen oder zu versuchen, den Jaguar mit ihrem Messer zu erlegen, weil die rasende Wut der Tiere es ihr unmöglich machte, an sie heranzukommen.

Juliette!, schrie Riordan, und sie konnte spüren, wie er durch Erde und Laub aufstieg, um sich in die Lüfte aufzuschwingen. Bei seiner Warnung wirbelte sie herum, hielt das Messer tief und dicht an ihrem Körper und stellte sich dem Jaguar, der aus der Höhle stürmte, in den Weg. Das schwere Tier stieß so hart gegen ihre Brust, dass sie zurücktaumelte, und sein übel riechender Atem schlug ihr ins Gesicht, als er sie böse anfauchte und seine beeindruckenden Zähne bleckte. Seine scharfen Krallen rissen ihr die Haut auf, und ein grausamer Schmerz durchzuckte sie. Gleichzeitig spürte sie Zacarias’ und Riordans Bewegungen in ihr, und das Messer bohrte sich in die Seiten und die Brust des Jaguars, als er ihr die Fänge in die Kehle schlug. Zu atmen war fast unmöglich, aber irgendwie zwang Riordan Luft in ihre brennende Lunge. Dann schlug sie hart auf dem Boden auf und blieb hilflos unter dem viel schwereren Körper liegen. Laub und Zweige unter ihr färbten sich rot, doch Juliette wusste nicht, wessen Blut es war. Die Zähne der Raubkatze steckten noch in ihrer Kehle, und Juliettes Arme waren schwer wie Blei, sodass es ihr unmöglich war, den schweren Körper von sich wegzuschieben.

Sieh Solange an! Riordan war geradezu beängstigend ruhig und seine Stimme so gebieterisch, dass Juliette den Befehl nicht missachten konnte.

Jasmine schrie wieder, und Juliette zuckte bei dem Geräusch zusammen.

Sieh Solange an!, beharrte Riordan. Er war schon viel näher, und seine Kraft nahm deutlich zu, als die Sonne unterzugehen begann.

Juliette konnte den Kopf nicht bewegen, doch ihre Augen gehorchten ihr noch, und so richtete sie den Blick auf Solange und die Raubkatze, die ihr gerade fürchterlich das Fell zerfetzte. Es war blutverschmiert, und Solange schwankte schon unter dem Angriff. Ein weißer Dunst legte sich über Juliettes Augen, und sie blinzelte ein paar Mal, um wieder klar zu sehen. Dann schrie Jasmine wieder, und diesmal konnte Juliette sie auch weinen hören.

Konzentrier dich auf Solange! Riordans Stimme wurde weicher. Halte durch, Juliette! Tu es mir zuliebe. Halte nur noch ein bisschen durch!

Flammen züngelten über das Fell des männlichen Jaguars; leuchtend rote und orangefarbene Flammen, die an den Spitzen des gefleckten Fells ihren Anfang nahmen und nach und nach das ganze Tier einhüllten. Noch immer rollten die beiden Jaguare in einer wilden Raserei aus Krallen und Zähnen über den Boden, aber keine einzige Flamme sprang auf das weibliche Tier über. Und schließlich heulte die männliche Katze auf, riss sich von Solange los und flüchtete ins Dickicht des Dschungels.