8. Kapitel

Riordan ging als Erster durch die Tür. Der Raum war durchdrungen von dem Geruch panischer Angst, noch überwältigender und stechender jedoch war der von großen Katzen. Ein Tisch war umgestürzt, an einer Wand befand sich ein Blutfleck und ein weiterer an einem zerbrochenen Stuhl.

Juliette presste eine Hand an ihren Mund und unterdrückte ein Aufschluchzen. »Sie ist fast noch ein Kind, Riordan. Sie ist gerade erst zwanzig geworden.« Juliette drängte sich an ihm vorbei, lief durch die Hütte zu der Wand hinüber, atmete tief ein und konzentrierte sich auf den Geruch des Blutes. »Das stammt nicht von Jasmine. Es ist Solanges Blut. Sie war hier.«

Riordan untersuchte den Raum und den Urwaldboden vor der Tür. »Sie kam, als Jasmine ergriffen wurde, und muss sich noch im Laufen verwandelt haben. Kann sie das? Siehst du diese Fußspuren hier, dann die zerrissenen Kleider und die Abdrücke von Pfoten? Sie hatte keine Zeit, ihre Kleider abzulegen, und hat sich mit ihnen verwandelt. Dabei sind die Nähte geplatzt, und den Rest hat sie sich abgerissen, damit sie kämpfen konnte. Solange war es, die die Tür zerstört hat, um an deine Schwester heranzukommen. Sie hatten sie von innen verriegelt und brachten deine Schwester aus der Hintertür hinaus. Einer trug sie. Sie waren in menschlicher Gestalt hier. Siehst du?« Riordan hockte sich neben die Spuren. »Dieser hier ist plötzlich schwerer, was bedeutet, dass er ein Gewicht trug. Jasmine hat nicht gekämpft.«

»Dann war sie bewusstlos«, sagte Juliette. »Sie würde sie bis zu ihrem letzten Atemzug bekämpfen. Wir alle haben meine Mutter sterben sehen. Solange hat mit angesehen, wie sie ihre Mutter töteten, und doch ist sie ohne Zögern in die Hütte gestürmt und hat versucht, sie aufzuhalten.« Juliette drehte sich wieder zu dem Blutfleck um. »Solange kann nicht allzu schwer verletzt sein.«

»Einer blieb zurück, ein großer Mann, der sich hier in einen Jaguar verwandelt hat. Wahrscheinlich wollte er Solange nicht verletzen, als er sah, dass sie ein Weibchen war und sich im Laufen verwandelt hatte. Immerhin ist sie wahrscheinlich ein extrem seltenes Exemplar.« Riordan folgte den Spuren. »Sie entkam in den Wald – aber der große männliche Jaguar ist hinter ihr her.« Riordan wandte sich wieder Juliette zu. »Wen verfolgen wir?«

»Vielleicht sollten wir uns trennen. Ich werde Solanges Spuren folgen. Wir haben schon oft Seite an Seite gekämpft, und ich weiß, wie sie denkt. Sie wird mich akzeptieren. Du folgst Jasmine, weil du viel stärker bist und schneller vorankommst. Du hast eine Chance, sie zu erreichen, bevor sie ihr etwas zuleide tun.«

»Es wird bald hell, Juliette, und dann muss ich mich in die Erde begeben. Wenn ich deine Schwester vorher nicht erreiche, wird sie einen weiteren qualvollen Tag verbringen.« Riordan verfluchte die Verwundbarkeit seiner Spezies. »Ich kann mich nicht in der Sonne aufhalten.« Er berührte ihre Wange. »Und du wirst auch Verbrennungen davontragen. Deine Haut erträgt keine intensive Sonne mehr, und du wirst dir die Augen versengen.«

»Ich pfeife auf meine Haut.« Juliette schob sich an ihm vorbei und sah sich den Boden und die Richtung an, die die Jaguarmänner eingeschlagen hatten. Verzweifelt versuchte sie zu entscheiden, wer sie am dringendsten brauchte, Solange oder Jasmine. Riordan war schnell, er konnte zu ihrer Schwester gelangen, bevor er aus der Sonne gehen musste. »Jasmine ist schon seit Stunden bei ihnen. Wenn du nicht glaubst, dass dir genug Zeit bleibt, um sie zu finden, werde ich mich darauf verlassen müssen, dass Solange ihrem Angreifer allein entkommt. Wir müssen Jasmine schnellstens aufspüren, Riordan.«

Statt einer Antwort schlang er einen Arm um ihre Taille und hob sie auf. Juliette sah den Dschungel ringsumher nur noch verschwommen, als Riordan mit ihr hindurchraste. Sie hatte keine Ahnung, wie er sich auf die Spuren konzentrieren konnte, die kleinen, zertretenen Blätter, abgeknickten Zweige und gelegentlichen Fußabdrücke, wenn er sich so immens schnell bewegte. Sie brauchte Riordan nicht zu sagen, dass ihre jüngere Schwester in einer fatalen Lage war; er konnte jede ihrer Sorgen in ihrem Bewusstsein lesen. Wenn die männlichen Jaguare menschliche Gestalt annahmen, würden sie splitterfasernackt sein. Und Jasmine war allein und ohne Schutz. Juliette konnte nur beten, dass die Männer sie so weit wie möglich von jeder Hilfe würden fortbringen wollen. An ihre Cousine wagte sie gar nicht zu denken – auch Solange war allein und verletzt und rannte um ihr Leben.

Ich kann meine Brüder zu Hilfe rufen, doch sie sind Hunderte von Meilen entfernt. Sie könnten erst in ein paar Tagen hier sein.

Solange wird kämpfen. So leicht werden sie sie nicht kriegen. Bei diesem Gedanken durchflutete Juliette neue Hoffnung. Solange war eine Kämpferin. Sie würde sich nie ergeben, niemals aufgeben, egal, wie schwer verletzt sie war. Mir ist, als ließe ich sie im Stich, aber sie hat eine bessere Chance als Jasmine.

Nach dem, was ich in deinem Kopf von deiner Cousine gesehen habe, würde sie wollen, dass du dich um Jasmine kümmerst.

Riordan war sich nur allzu gut bewusst, wie schnell ihnen die Zeit davonlief. Und Jaguarmenschen waren sehr geschickt darin, sich im Dschungel zu verlieren. Sie hatten sich inzwischen verteilt und schlängelten sich einzeln durch die Bäume, viel raffinierter jetzt, da sie sich anscheinend sicher waren, verfolgt zu werden.

In einer jähen Bö fuhr der Wind vom Urwaldboden auf und riss einen Wirbel aus Pflanzen, Laub, Zweigen und Blüten mit, die er in einem dunklen Trichter in den Himmel schoss. All dieser Unrat explodierte förmlich über Riordan und Juliette, eine Wolke von Geschossen, die von unsichtbaren Händen vom Boden hochgeschleudert wurden. Riordan reagierte augenblicklich, indem er sich instinktiv in der Luft herumdrehte, um Juliette besser zu schützen. Spitze Gegenstände bohrten sich in seine Haut, aber es war sein Herz, das sie zu treffen versuchten. Er fluchte in mehreren Sprachen, als er, so schnell er konnte, zur Erde zurückkehrte, wo er kämpfen konnte, ohne von Juliettes Gewicht und menschlicher Gestalt behindert zu werden.

Zieh dich aus, und sowie du den Boden unter deinen Füßen spürst, verwandle dich und versteck dich zwischen den Bäumen! Verbirg dein wahres Ich tief in dem Tier, hörst du?

Es war der grimmige Tonfall seiner Stimme, der sie ohne Zögern gehorchen ließ. Juliette konnte nicht immer ihre Gestalt wandeln, nicht nach Belieben wie er, oder auch nur so willkürlich, wie Solange es vermochte, aber ihr war klar, dass sie sich in tödlicher Gefahr befanden. Sie schaffte es, sich von ihren Jeans zu befreien und ihre Bluse aufzuknöpfen, noch bevor sie auf dem Boden aufgekommen waren. Juliette schleuderte die Kleider von sich und versuchte unter Aufbietung all ihrer Willenskraft, den Wandel herbeizuführen.

Riordan war in ihrem Bewusstsein, übernahm das Bild und lieh ihr seine Kraft. Die Verwandlung verlief ein wenig anders als die der Karpatianer, doch da er sich tief in ihrem Geist bewegte, konnte er ihr die zusätzliche Geschwindigkeit verleihen. Schließlich sprang das Jaguarweibchen auf die tieferen Äste eines Baumes und verschwand in dem dichten Blattwerk dort. Als Riordan nichts mehr von Juliette sehen konnte, wandte er sich zu seinem Gegner um.

Direkt vor Riordan entfuhr eine schattenhafte Gestalt dem Boden und stieß ihm so tief die Fäuste in die Brust, dass sie bis ins Fleisch eindrangen. Riordan drehte sich leicht, nahm den Schmerz an und zwang sich dann, ihn zu verdrängen. Gleichzeitig schickte er seinen Angreifer mit einem gezielten Tritt zu Boden. Kein Laut war zu hören und kein Gesicht zu sehen. Der Angreifer war nicht mehr als schwarzer, sich schnell verflüchtigender Rauch. Abgesehen davon war es unheimlich still. Nicht einmal die Insekten summten noch.

Zacarias. Riordan versuchte, seinen älteren Bruder auf dem Kommunikationsweg zu erreichen, den nur er benutzte. Ein Meistervampir ist hier, einer mit unvorstellbarer Macht. Ich kann ihn weder sehen noch angreifen. Sollte ich sterben, musst du meine Seelengefährtin suchen und sie beschützen. Riordan kauerte tief am Boden. All seine Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft, und sein Blick glitt ruhelos über die Umgebung. Mit einer Hand scharrte er die Erde auf und drückte sie auf seine Verletzungen. Er verlor viel Blut. Der Vampir hatte ihn ganz bewusst geschwächt. Um seine Kräfte zu bewahren, rührte Riordan sich nicht, außer um seine Wunden mit der Erde zu bedecken. In seinem Bewusstsein nahm er Juliettes Verzweiflung wahr und wusste, dass sie in der Hoffnung, ihm zu helfen, in der Nähe blieb. Aber es gab keine Möglichkeit, den Unsichtbaren zu bekämpfen.

Und dann spürte Riordan seinen Bruder in sich. Zacarias untersuchte das grässliche Loch in seiner Brust, schätzte seine Kraft ab und durchforstete seine Erinnerungen, um den Angriff selbst zu sehen. Verschwinde von hier! Kein einzelner Jäger wird diesen Vampir allein besiegen können. Während Zacarias den Befehl erteilte, arbeitete er aus der Ferne an der Heilung der Verletzung seines jüngsten Bruders. Riordan konnte Wärme durch seinen Körper strömen spüren und den heilenden Gesang in seinem Bewusstsein hören.

Dann nahm er eine Bewegung in der Luft um sich herum wahr und warf sich sofort in die andere Richtung, rollte sich nach links und stand doch wieder der schattenhaften Gestalt gegenüber, als er aufsprang. Riordan schaffte es gerade noch, den Blitzstrahl abzuwenden, bevor dieser ihn traf. Die Energie schlug in den Boden ein und erschütterte die Erde. Riordan erhob die Arme, und der Boden erbebte und wellte sich. Große Risse sprangen auf, und einer raste mit Unheil verkündendem Tempo auf die substanzlose Gestalt zu. Riordan spürte den exakten Moment, als Juliette und Zacarias ihre Kräfte mit den seinen vereinten. Der Riss in der Erde erweiterte sich, spaltete regelrecht den Boden auf, und der Vampir fiel in das Loch. Riordan schickte ihm die herabschießenden Blitze nach, einen nach dem anderen, die auf der Suche nach einem Ziel in die Erdspalte hineinfuhren.

Riordan schwankte, als er sich von der Stelle entfernte, wo der Vampir ihn zuletzt gesehen hatte. Es herrschte jetzt absolute Stille, als hielte selbst der Regenwald den Atem an. Riordan merkte erst jetzt, dass der Himmel nur dunkel war von Gewitterwolken. Die Morgendämmerung würde in wenigen Minuten einsetzen. Der Vampir hatte schnell und heftig zugeschlagen, in der Hoffnung, Riordan im Handumdrehen zu besiegen.

Er hat mich bei dir gespürt. Zacarias dachte kurz darüber nach. Er wird nicht wiederkehren, um zu kämpfen. Wahrscheinlich wird er für lange Zeit unter die Erde gehen oder unser Gebiet verlassen. Was immer er hier erreichen wollte, es ist ihm nicht so viel wert wie sein Leben. Was jedoch einen solch mächtigen Feind zu unseren Ländereien brachte, musste wichtig sein.

Ich glaube, er hat einige der männlichen Jaguarmenschen korrumpiert. Sie haben Frauen entführt, sie gefangen gehalten und gezwungen, sich mit ihnen zu paaren. Ihre Frauen haben alle übernatürliche Fähigkeiten und sind daher gut dazu geeignet, Seelengefährtinnen unserer Männer zu werden. Riordan war sicher, dass ein machtvoller Vampir nur in den Dschungel kommen würde, wenn er davon profitierte. Und falls der Vampir verhindern konnte, dass die Karpatianer Seelengefährtinnen fanden, würden immer mehr ihrer Männer zu Vampiren werden oder freiwillig die Morgendämmerung suchen und verbrennen.

Du denkst, es handelte sich um eine Verschwörung. Wieder dachte Zacarias nach. Das müssen unsere Verwandten in unserer Heimat erfahren. Ich werde Manolito hinschicken, und wir werden uns um die Jaguarmänner kümmern, die ihre Frauen misshandeln. Du musst dich schnellstens in die Erde begeben, Riordan. Nimm deine Gefährtin mit und bleibt dort, bis du völlig wiederhergestellt bist. Ich werde die Suche nach den Frauen derweil beginnen.

Die Schwester meiner Seelengefährtin ist gefangen genommen worden.

Du musst zu Kräften kommen, Riordan, oder wir werden euch beide verlieren. Das darf nicht geschehen. Ohne Kinder steht unsere Rasse vor dem Aus, genau wie die der Jaguarmenschen.

Zacarias hatte recht. Riordan, der sowohl diese Tatsache als auch den despotischen Tonfall seines Bruders hasste, unterbrach den Kontakt mit Zacarias jäh. Solche Überlegungen machten die Karpatianer nicht besser als die Jaguarmänner.

»Das ist nicht wahr.« Juliette war neben Riordan und drückte ihn zu Boden, um das blutdurchtränkte Erdreich in der Wunde an seiner Brust zu untersuchen. Sie drängte ihn, sich still zu verhalten, während sie mehr fruchtbare Erde und Heilkräuter suchte und sie mit Riordans Speichel vermischte. »Ich lerne schnell. Dieses eklige kleine Rezept habe ich in deinem Kopf gesehen, als du versuchtest, deine Wunde selbst zu versorgen.«

»Es ist wahr, Juliette. Wir brauchen dringend Frauen, und wir brauchen sie, um uns weibliche Kinder zu gebären.« Er konnte nicht aufhören, sie anzusehen und bewundernd ihren schönen nackten Körper zu betrachten. Sie kauerte mit besorgter Miene neben ihm, und jede ihrer Bewegungen ließ ihre wundervollen Brüste wogen. Riordan war es, als träumte er. Sie konnte nicht real sein. Es gab keine Frauen wie Juliette in seiner Welt …

»Riordan«, sagte sie in scharfem Ton. »Du entgleitest mir. Untersteh dich, ohnmächtig zu werden! Lass mich dich verbinden, und dann gebe ich dir Blut.« Sie warf einen nervösen Blick um sich. »Bist du sicher, dass er fort ist? Ich habe ihn nicht gesehen. Ich könnte dir nicht helfen, weil ich keine Ahnung habe, wie er aussieht.«

»Es wird Morgen.« Riordan klang, als wäre er bereits weit entfernt. Er hob die Hand und berührte Juliettes Brust, strich mit den Fingern über die weiche Haut, um sich zu überzeugen, dass sie kein Traum, sondern real war. »Er hatte keine andere Wahl, als sich unter die Erde zu begeben.«

»Riordan, du nimmst jetzt Blut von mir«, befahl Juliette scharf.

Er schüttelte den Kopf. »Das würde dich nur schwächen und schwindlig machen, und du wärst allein und schutzlos.«

Ohne die Finger zu beachten, die ihre Brust umfassten und sie sanft streichelten, legte sie die Hände um sein Gesicht und zwang ihn, sie anzusehen. »Tu, was ich dir sage, und nimm mein Blut! Du darfst nicht sterben, und das wirst du, wenn du keins bekommst. Ich brauche deine Hilfe, um Jasmine zurückzuholen. Ich will, dass du für mich lebst. Vergiss alles andere, Riordan!«

»Ich kann dich nicht beschützen, wenn ich all diese endlos langen Stunden in der Erde ruhe.«

»Ich kann mich selbst beschützen. Bitte nimm mein Blut, Riordan!« Sie war der Verzweiflung nahe.

Und dann regte sich plötzlich etwas in ihrem Geist. Eine andere Stimme, die von dem gleichen Akzent geprägt war wie Riordans, aber so leise und weit entfernt klang, als hätte sie Schwierigkeiten, den richtigen Kommunikationsweg zu finden. Und dann war sie mit einem Mal ganz deutlich zu verstehen: Ich bin Zacarias. Riordan wird dich niemals freiwillig in noch größere Gefahr bringen, indem er dich schwächt. Ich werde dir helfen, doch du musst dir über eines im Klaren sein: Falls dir irgendetwas zustößt, solange er unter der Erde ist, wird er als Vampir wiederauferstehen, und ich werde dann gezwungen sein, ihn zu vernichten. Du musst also am Leben bleiben.

»Jemand sollte vielleicht im Voraus schon die Regeln ändern«, murmelte Juliette, nickte im Geiste jedoch, um Riordans Bruder ihr Einverständnis zu signalisieren. Sie ertrug den Gedanken nicht, ihren Seelengefährten zu verlieren, und konnte deutlich sehen, wie dickköpfig und kratzbürstig er sein würde, wenn sie ohne Hilfe weitermachte.

Juliette erkannte den exakten Moment, als Zacarias eingriff, die geistige Kontrolle über seinen Bruder übernahm und ihn zwang, sie in ihr Handgelenk zu beißen. Obwohl Riordan unter starkem psychischem Zwang stand, konnte sie seine Bemühungen spüren, sie zu beschützen, als er mit der Zunge über ihre Haut strich, um den Schmerz zu mildern. Wut über Juliettes und Zacarias’ Tun flammte einen Moment lang in ihm auf, doch genauso schnell erlosch sein Zorn auch wieder. Juliette ging ihren eigenen Weg, wenn sie diesen als gerechtfertigt empfand. Und wenn Riordan sein Leben mit ihr verbringen wollte, sollte er sich besser schon einmal daran gewöhnen, wer sie war.

Riordan entzog sich Zacarias’ Kontrolle, sowie das Blut ihm genügend Kraft verliehen hatte. Er nahm nur gerade genug von Juliette, um seine Heilung zu unterstützen, bevor er die Wunde an ihrem Handgelenk mit seinem Speichel schloss. Mit dem Daumen strich er sanft über die beiden kleinen Einstiche. »Ich will viele Leben mit dir verbringen, und ich weiß genau, wer du bist, Juliette.« Er liebte jeden Zentimeter von ihr, liebte es, ihre nackten femininen Rundungen zu betrachten, aber die Zeit verging, und er war immer noch viel schwächer, als er sein dürfte.

Und so erschuf er im Handumdrehen Jeans und ein Hemd aus dünnem, leichtem Material für Juliette, das in der hohen Luftfeuchtigkeit nicht ganz so sehr am Körper kleben würde. »Du musst deine Augen schützen, so gut du kannst. Das Hemd habe ich mit langen Ärmeln versehen, um die Sonne von deiner Haut abzuhalten. Versuch, so gut wie möglich in Deckung zu bleiben. Ich weiß, dass du nach Jasmine weitersuchen wirst, aber bring dich nicht in Gefahr, bis ich dir helfen kann. Es wird deiner Schwester nichts nützen, wenn du getötet oder selbst gefangen genommen wirst.«

Ein bisschen zittrig von dem Blutverlust und der Angst, die sie jedes Mal erfasste, wenn sie das schreckliche Loch in Riordans Brust betrachtete, zog Juliette sich an. »Ich werde vorsichtig sein«, versprach sie und strich ihm mit den Fingern durch das Haar. »Tu, was du zu tun hast. Wir sehen uns bei Sonnenuntergang.«

Riordan blickte sich um, und plötzlich schlossen seine Finger sich um Juliettes Handgelenk und hielten sie zurück. Ein starkes Unbehagen beschlich ihn. Sein geistiges Abtasten der Umgebung hatte keinen Kontakt mit Feinden, ob menschlicher oder anderer Natur, ergeben. Es wäre unmöglich für einen Vampir, die aufgehende Sonne zu ertragen. Und was Karpatianer anging, so konnten die meisten die frühen Morgenstunden verkraften, doch seiner schweren Verletzungen wegen konnte Riordan schon die Auswirkungen des Lichts auf seinen Körper spüren. Außerstande, die Alarmglocken in seinem Kopf zu ignorieren, rollte er sich herum, um zu den Baumkronen über ihnen hinaufzublicken. Die Blätter raschelten und schwankten in dem leichten Wind. Alle möglichen Pflanzenarten schlängelten sich an den Stämmen der Bäume hinauf, wanden sich um die Äste und erzeugten ein wahres Labyrinth aus üppiger Vegetation. Der Wind strich nur leicht und flüchtig durch die Blätter, aber die Berührung genügte, um türkisfarbene, wie seltene Edelsteine schimmernde Augen zu offenbaren, die aufmerksam zu ihnen hinunterblickten.

Und dann setzte der Jaguar auch schon zum Sprung an, und sein kräftiger, eleganter Körper schoss mit ausgestreckten Krallen aus dem Blätterdach hervor zu Boden. Riordan stieß Juliette so hart zur Seite, dass sie stürzte, und löste sich in Nebel auf, sodass die große Katze nur noch Erde traf, wo Riordan gerade noch gelegen hatte. Das Tier fuhr herum und hieb erbost mit seinen mächtigen Pranken in die Leere.

»Solange! Nein!« Juliette lief zu der Katze, um sie zurückzuhalten, und fuhr mit den Händen durch das weiche Fell, um nach Verletzungen zu suchen. Sie fand gleich mehrere, eine ganze Reihe ausgezackter, offener Wunden, wo eine andere Katze ihr offenbar die Seite aufgerissen hatte. »Du bist verletzt, Solange.« Suchend blickte sie sich nach Riordan um und spürte im Geiste, wie seine Fingerspitzen über ihre Wange strichen.

Sie wollte mich töten, Juliette. Ich kann es in ihrem Bewusstsein spüren. Ich muss mich in die Erde begeben. Solange ist zornig über die Entführung deiner Schwester. Pass auf dich auf und tu dein Bestes, um deine Cousine zu beruhigen!, gab Riordan ihr zu verstehen.

Juliette hörte das Bedauern in seiner Stimme, die Erschöpfung und den Schmerz. »Geh, Riordan. Wir sehen uns bei Sonnenuntergang.«

Kleider flatterten zu Boden, als er sich entfernte. Die Jeans waren für jemanden mit längeren Beinen und schmalerer Taille, das Hemd war jedoch weit genug, um Solanges beachtliche Oberweite zu bedecken. Es war ein Leichtes gewesen für Riordan, Juliettes Erinnerungen die genauen Maße ihrer Cousine zu entnehmen.

»Er ist fort. Erzähl mir, was passiert ist!«, drängte Juliette.

Solange nahm ihre menschliche Gestalt an, erhob sich aber nicht, sondern blieb Juliette gegenüber auf dem Boden kauern. »Sie hatten Jasmine schon, bevor ich die Hütte erreichte. Es tut mir leid, furchtbar leid, doch ich konnte sie nicht aufhalten, Juliette.« Sie schüttelte das lange schwarze Haar zurück. »Einer blieb zurück, um den anderen einen Vorsprung einzuräumen. Als er merkte, dass ich weiblich war, mich schnell verwandeln konnte und reinrassiger als die meisten war, war das für mich ein echter Vorteil, weil er mich nicht verletzen wollte.« Blut sickerte aus den Wunden an ihrer Seite. »Diese Verletzungen hier hatte er mir zugefügt, bevor er merkte, was ich war. Ich fürchte nur, dass es Jasmine noch mehr in Schwierigkeiten bringt. Sie werden sie jetzt umso sorgfältiger bewachen.«

Juliette umarmte Solange. »Wir finden sie und bringen sie nach Hause.«

»Wer war dieser Mann?«

»Keiner von ihnen. Er heißt Riordan und ist Karpatianer. Mom hat uns früher schon von diesen Leuten erzählt.« Sie ärgerte sich über den rechtfertigenden Tonfall ihrer Stimme.

»Trotzdem ist er ein Mann, und Männern kann man nicht vertrauen. Was will er von uns, Juliette? Sind die Karpatianer nicht in ähnlichen Schwierigkeiten wie die Jaguarrasse?« Solange nahm Juliette die Kleider aus den Händen, um sie miteinander zu verknoten, bevor sie sie sich um den Hals band. »Sie brauchen Babys, um ihre Spezies vor dem Aussterben zu bewahren.«

»Sie respektieren Frauen aber wenigstens und wollen, dass sie glücklich sind. Nicht alle Männer sind für die Taten einiger weniger verantwortlich, Solange. Und es besteht der Verdacht, dass diese Jaguarmänner mit einem Meistervampir in Verbindung stehen. Ich habe einen gesehen und gespürt, wie durch und durch verkommen und böse er ist. Die Männer unserer Rasse könnten durchaus von ihm beeinflusst worden sein.«

»Es interessiert mich nicht, warum sie zu all diesen Gräueln fähig sind. Jasmine können sie jedenfalls nicht haben«, sagte Solange hart. »Zieh dich aus, und lass uns von hier verschwinden.« Sie betrachtete Juliette prüfend, als sie sich entkleidete. »Du bist sehr blass«, bemerkte sie mit leisem Argwohn in der Stimme.

»Ich will nicht mit dir streiten, Solange. Lass uns Jasmine suchen, bevor wir uns weiter unterhalten.«

»Wir streiten nie«, widersprach Solange. »Zumindest hatten wir niemals Streit, bevor du dich mit einem Mann abgabst.« Sie musterte den Körper ihrer Cousine. »Mit einem Mann, der anderen Blut abnimmt.«

Juliette ignorierte die Spitze. »Ist der Jaguar dir noch auf der Spur?«

»Ich bin umgekehrt und habe ihn in die Nähe des Labors geführt, um zu sehen, ob er Unterstützung anfordern würde. Eine Horde Männer durchsuchte die Trümmer, die von dem Gebäude übrig geblieben sind. Es ist vollkommen eingestürzt. Hatte der Karpatianer etwas damit zu tun?«

Juliette nickte. »Ich fand ihn dort, in einer Zelle angekettet, und habe ihn befreit. Er war in einem grauenhaften Zustand. Sie hatten ihn gefoltert.«

Solange fluchte. »Ich schätze mal, das macht ihn mir sympathischer. Zumindest kann er sich vorstellen, was unsere Frauen durchmachen.«