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Mrs. Barclay!«
Marion Barclay. Dieselbe Mrs. Barclay, die sich für
einen Karrierewechsel entschieden und das perfekte Outfit für ihr
Bewerbungsgespräch gebraucht hatte. Wie konnte ich je das
dunkelblaue Kostüm aus feiner Wolle mit seinem ausgestellten,
knielangen Rock vergessen, das ich mit der cremefarbenen
Seidenbluse von Burberry kombiniert hatte?
Ich hatte sie seit jenem schicksalhaften Tag nicht
mehr gesehen, als sie auf dem Weg zu ihrem Vorstellungsgespräch in
das Geschäft gehetzt war, um ihr Outfit anzuziehen, dann aber nur
noch feststellen konnte, dass Fluffy es ruiniert hatte.
Mrs. Barclay war die neue Direktorin von Highridge
Prison. Großartig, dachte ich bitter.
Sie legte ihren Stift ab und seufzte. »Nun, Annie,
ich hätte nie gedacht, dass ich Sie hier sehen würde.«
Ich schluckte. »Ich hätte nie gedacht, dass ich
einmal hier sein würde, Mrs. Barclay.«
»Aber hier sind Sie. Wir sind beide hier. Auf
entgegengesetzten Seiten.«
»Ja.«
Sie lächelte ziemlich kühl.
»Ich habe damals den Job bekommen, den ich wollte,
obwohl ich mich dafür in einem alten Fleece und Jeans meines Mannes
bewerben musste.«
»Darum ging es damals?«, fragte ich.
»Sie haben sich für die Stelle der Direktorin von
Highridge beworben?«
Sie nickte.
»Wissen Sie, wie ich schon gesagt hatte, tut es mir
ehrlich leid, was mit Ihrem Kostüm passiert ist.«
Sie winkte wegwerfend mit der Hand. »Es war nur
Kleidung, Annie. Es gibt wichtigere Dinge im Leben, wie ich
feststellen konnte, nachdem der erste Schock vorbei war.«
Sie machte eine Pause.
»Ich habe von Ihrer Scheidung gelesen, Annie. Und
Ihrem
Prozess natürlich. Es stand in den Zeitungen. Ich muss sagen, dass
ich überrascht bin. Meineid ist ein schwerwiegendes Delikt.«
Ein Kloß kam in meiner Kehle hoch. »Ja, das weiß
ich jetzt.«
»Ebenso wie Diebstahl. Selbst von einem
Penner.«
»Ja.«
Sie sah mir mit ihrem durchdringenden Blick direkt
in die Augen, und ich senkte beschämt meinen Kopf. Ich fühlte mich
schlechter als mit elf Jahren, als mich mein Mathelehrer wegen
Spicken bei einer Prüfung gescholten hatte.
»Und dann sah ich, zu meiner Überraschung, Ihren
Namen auf der Liste der neuen Insassinnen«, fuhr sie fort. »Wie
haben es Ihre Eltern aufgenommen?«
»Nun... Mein Vater war natürlich bestürzt...«
»Und Ihre Mutter?«
Der Kloß in meinem Hals wurde dicker.
»Oh... Meine Mutter...«, begann ich. »Ich habe
keine...«
Plötzlich konnte ich nicht mehr sprechen. Das
Nächste, an das ich mich erinnerte, war, dass ich auf dem weichen
Sofa kauerte, mir zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Seele
aus dem Leib heulte. Marion Barclay saß neben mir am Polsterrand,
hielt meine heiße Hand in ihrer kühlen, und bot mir eine Packung
Taschentücher an. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, aber
ich erzählte ihr alles:Von Mum, die weggelaufen war, als ich acht
war, die Rettung von Fluffy und das Kennenlernen von Mark, und
Ferns Tanga, die pinkfarbene Hundeleine und Mrs.
Weimaraner, und Fluffy, der nach der Gerichtsverhandlung
überfahren worden war.
»Es ist erstaunlich«, sagte sie, als ich mich
ausgeheult hatte.
»Sie und ich hatten mehrfach miteinander zu tun.
Und über die Jahre muss ich Ihnen viele sehr persönliche Dinge von
mir erzählt haben. Auf mich wirkten Sie immer wie eine fröhliche
junge Frau. Ich hatte keine Ahnung, dass all diese Probleme unter
der Oberfläche schlummerten. Es tut mir leid, Annie. Sie sind schon
genug bestraft, auch ohne dass ich Ihren Kummer noch schlimmer
mache und Salz in Ihre Wunden streue.«
Sie lächelte.
»Sehen Sie, ich sollte das wahrscheinlich nicht
sagen, aber Sie befinden sich mit Ihrem Meineid in bester
Gesellschaft. Viele bekannte Persönlichkeiten haben dasselbe
Verbrechen begangen, den Preis dafür bezahlt - wie Sie es gerade
tun -, und danach ihr Leben neu aufgebaut und sogar ihren Ruf
wiederhergestellt. Denken Sie an Jonathan Aitken und Jeffrey
Archer. Und Martha Stewart natürlich, die First Lady der
amerikanischen Heimdekoration, die, wenn ich mich richtig erinnere,
durch eine Falschaussage vor Bundesagenten in ernsthafte
Schwierigkeiten geriet. Wie Martha Stewart werden auch Sie Ihre
Karriere fortsetzen, wenn Sie hier wieder draußen sind,
Annie.«
Ich schüttelte den Kopf. »George Haines hat mich
gefeuert.«
»Ich hoffe, nicht meinetwegen.«
»Es war mein Fehler. Er war wütend, dass ich Fluffy
ins Geschäft mitgebracht hatte. Sehen Sie, ich hatte es schon
einmal getan und ihm versprochen, dass es nie wieder vorkommen
würde.«
Marion Barclay seufzte.
»Das war ein ziemlich dummer Schritt von Haines,
geschäftlich gedacht. Niemand in der Personal-Shopping-Abteilung
hat Ihr Fingerspitzengefühl. Sie werden einen Haufen Kundinnen
verlieren. Und ich werde eine von ihnen sein. Haines & Hampton
ist nicht das einzige Geschäft in London, das eine
Personal-Shopping-Abteilung hat. Ich bin sicher, Sie finden einen
neuen Arbeitgeber.«
»Mit einer Vorstrafe? Das glaube ich nicht.«
In der Zwischenzeit hatte ich die ganze Packung
Taschentücher verbraucht. Ich schnäuzte mich lautstark in das
letzte.
»Wie auch immer«, sagte ich. »Es kümmert mich nicht
mehr. Ich bin fertig mit Designermode. Styling, Personal-Shopping
und Designerklamotten - diese Welt ist so oberflächlich.«
»Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen, Annie.«
Sie nahm meine Hand und drückte sie.
»Da war nichts Oberflächliches an dem, was Sie für
mich getan haben. Sie gaben mir nach der Brustamputation mein
Selbstwertgefühl zurück. Das Gefühl, mein Leben im Griff zu haben.
Und zufällig auch, begehrenswert zu sein - obwohl ich denke, dass
wir darüber nicht sprechen sollten, mit Sicherheit nicht hier.
Sehen Sie«, fuhr sie fort und ließ meine Hand los, »ich bin sicher,
dass Sie etwas finden werden nach Ihrer Entlassung. Die, wie ich
glaube, kurz vor Weihnachten sein wird.«
»Ich mache mir nichts mehr aus Personal-Shopping«,
sagte ich.
»Offen gesagt kümmert es mich nicht mehr. Ich habe
alles verloren, was mir wichtig war, Mrs. Barclay Meine Ehe. Mein
Zuhause. Meine Selbstachtung. Und Fluffy,.«
»Sie können es sich nicht leisten, sich nicht zu
kümmern, Annie«, sagte sie ziemlich ernst.
»Wir bekommen nur eine Chance im Leben - eine faire
Chance -, und Sie sind zu jung und auf Ihre Art zu begabt, um zu
resignieren. Eines Tages werden Sie vermutlich wieder verheiratet
sein...«
»Nie wieder!«, unterbrach ich.
»Und vielleicht Kinder haben. Etwas, was ich immer
bedauert habe, ist, keine Kinder zu haben. Es könnte eine heilende
Erfahrung für Sie sein in Anbetracht Ihrer Geschichte mit Ihrer
Mutter. Und was den Verlust von Fluf fy betrifft...«
Sie stand auf und ging zurück zu ihrem
Schreibtisch. »Sie sagen, dass Sie ihn geliebt haben,
aber...«
Sie setzte sich hin und signalisierte mir, dass ich
mich ihr gegenübersetzen sollte.
»Es wird Ihnen nicht gefallen, wenn ich das sage,
aber, nun ja, er war nur ein Hund. Ihn zu verlieren mag jetzt
schlimm sein. Es mag schrecklich sein. Aber wenn es das Schlimmste
auf der Welt ist, mit dem Sie je klarkommen müssen... Sie werden
darüber hinwegkommen. Menschen verlieren ihre Kinder und
finden einen Grund weiterzuleben. Wollen Sie mir etwa sagen, dass
Sie es zulassen werden, dass Sie der Verlust eines Hundes
zerstört? Kommen Sie, reißen Sie sich zusammen, junge Frau! Hören
Sie
auf, in Selbstmitleid zu waten, und die ganze Zeit nur an sich zu
denken. Denken Sie daran, was Sie für andere tun können, denen es
noch viel schlechter geht als Ihnen.«
»Warum halten Sie mir einen solchen Vortrag?«,
fragte ich, als ich wieder den Platz ihr gegenüber einnahm.
»Weil Sie einen solchen Vortrag wert sind, Annie.
Und weil ich Ihnen einen Vorschlag machen will.«
Sie faltete die Hände, legte sie auf den Tisch und
beugte sich in ihrem Stuhl vor.
»Sehen Sie, ich darf nicht in den Verdacht kommen,
dass ich Ihnen besondere Privilegien einräume, solange Sie hier
sind. Sie werden sich diese wie jede andere verdienen müssen. Ihnen
einen Gefallen zu tun, würde mich mehr als meinen Job kosten. Und
da Sie soviel Ärger hatten, mir dabei zu helfen, ihn zu bekommen -
von Fluffy ganz abgesehen -, wäre es doch paradox, wenn ich ihn
wegen Ihnen verlieren würde, oder? Wie auch immer, Annie, es gibt
etwas, das Sie für mich tun können.«
»Ach?«
»Es ist eine Art Experiment, das ich ausprobieren
möchte. Dieses Gefängnis ist voll von Frauen, die sich wertlos
fühlen. Sie haben kein Selbstbewusstsein, keine Selbstachtung und
keinen Ehrgeiz. Und die meisten verfügen über wenig oder gar keine
Bildung. Wie Sie vielleicht mittlerweile wissen, haben viele von
ihnen auch psychische Probleme.Viele haben Depressionen, einige
sind sogar suizidgefährdet. Im Großen und Ganzen kommen sie aus
Familien, in denen Missbrauch stattfand, oder aus Familien mit
extrem sozial schwachen Hintergründen. Hintergründe, die den Ihren
wie das Paradies erscheinen
lassen, auch wenn Ihre Mutter davongelaufen ist und Sie im Stich
gelassen hat. Das Einzige, das viele dieser Frauen haben, sind ihre
Kinder - und viele von ihnen haben diese auch an die Fürsorge
verloren, weil sie drogenabhängig sind oder kein Dach über dem Kopf
haben, oder aus einem anderen Grund nicht mit ihnen klarkommen. Das
Befremdliche daran ist, dass viele dieser Frauen sehr intelligent
sind. Sie haben keine Ahnung, was sie erreichen könnten, wenn sie
sich auf etwas konzentrieren würden. Ich möchte, dass Sie ihnen
helfen, ihr Selbstvertrauen und ein wenig Selbstachtung
zurückzubekommen.«
»Ich? Wie kann ich ihnen helfen?«
Marion Barclay lächelte. »Ist das nicht
offensichtlich, Annie? In dem Sie das für sie tun, was Sie für mich
getan haben. Indem Sie ihnen helfen, das Beste aus dem zu machen,
was sie haben - und das ist in vielen Fällen herzlich wenig!«
»Sie meinen, Sie wollen von mir, dass ich Mode- und
Stilberatung mache? Hier drinnen?«
Mrs. Barclay nickte.
Ich musste fast lachen.
»Aber das ist unmöglich! Im Geschäft hatte ich ein
Team von Mitarbeitern und vier Stockwerke voller teurer
Designerkleidung, aus der ich auswählen konnte. Und Friseure und
Visagisten und alle Kosmetik der Welt. Geld spielte keine
Rolle.«
»Ja, ja, das weiß ich alles. Und natürlich wird es
eine große Herausforderung für Sie sein. Aber... könnten Sie nicht
etwas machen? Sehen Sie, ich kann Ihnen einen Raum zur Verfügung
stellen - eine Art Büro. Und ich bin sicher, dass
wir einige Kosmetikfirmen oder Warenhäuser - vielleicht sogar
Haines & Hampton -, dazu bringen, uns Make-up zu spenden.Wir
müssten einfach darum bitten. Und was die Kleidung betrifft, gibt
es einen großen Lagerraum, den ich im Untergeschoss entdeckt habe,
der voller Fundsachen ist - Sachen, die entlassene Gefangene
zurückgelassen haben. Sie sind nicht das, was Sie Designeroutfits
nennen würden, aber... Nun, Sie müssen improvisieren. Ich bin
sicher, dass Ihnen da was einfällt. Machen Sie das Beste aus dem,
was Sie haben.Vielleicht können Sie eine Art Tauschbörse unter den
Insassinnen einrichten.«
Sie lächelte herzlich.
»Werden Sie das für mich tun, Annie? Ich habe das
Gefühl, dass Sie, wenn Sie etwas für andere tun, auch etwas für
sich selbst gewinnen können.«
Für den Rest meines Aufenthalts in Highridge
konzentrierte ich mich darauf, Marion Barclays Mode- und
Stilberatungs-Pläne zu realisieren. Sie brachte ihre Freunde dazu,
uns ihre abgelegte Kleidung zu spenden, und nachdem ich eine
Anzeige im Speisesaal aufgehängt hatte, fand ich eine Friseurin und
ein paar Schneiderinnen unter den Insassinnen, die mir dabei helfen
sollten, meine neuen »Kundinnen« zu verwandeln.
Außerdem erlaubte mir Mrs. Barclay, mit Eva zu
telefonieren, die seit meiner Entlassung zur kommissarischen
Leiterin der Personal-Shopping-Abteilung bei Haines & Hampton
ernannt worden war. Eine Beförderung, die sie verdiente, das war
mir klar. Aber das hinderte mich nicht daran, mich todtraurig zu
fühlen bei der Vorstellung, wie sie in meinem kleinen Büro
saß, ihr Mantel hinter meiner
Tür hing und sie ihre eleganten Füße unter meinen Tisch legte. Und
bildete ich es mir nur ein, oder war da ein übertriebener, leicht
schadenfroher Unterton in ihrer Stimme, als sie sagte: »Ich sehe,
was ich machen kann. Ich werde ganz sicher mit Mr. Haines darüber
sprechen. Aber ich kann nichts versprechen.«
Zwei Wochen später wurde ich wieder in das Büro der
Direktorin gerufen und fand dort drei große Kartons und vier Haines
& Hampton-Einkaufstüten auf dem Boden. Charlotte stand
dazwischen. Sie trug einen nüchternen schwarzen Hosenanzug, eine
gesteppte, lederne Marc-Jacobs-Cecilia-Tasche und sah mit ihren
blonden Haaren, die sie zu einem straffen Pferdeschwanz
zurückgebunden hatte, nervös und bedrückt aus. Sie runzelte die
Stirn, als ich hereinkam - ich glaube, es dauerte einen Moment, bis
sie mich erkannte -, aber dann leuchtete ihr Gesicht auf und sie
stöckelte in einem Paar mörderisch roter Manolos zu mir herüber und
flatterte mit den Händen.
»Annie! Annie!«
Einen Fußbreit vor mir blieb sie plötzlich stehen,
drehte sich zur Direktorin um und runzelte die Stirn.
»Darf ich sie berühren, Mrs. Barclay?«, fragte sie.
»Ich meine, darf ich das? Ist es erlaubt?«
»Es kümmert mich nicht, wenn es nicht erlaubt ist.
Sollen sie mich für ein Wochenende in Isolationshaft stecken!«,
sagte ich und umschlang sie mit meinen Armen. Als wir uns umarmten,
füllten sich meine Nasenlöcher mit den wunderbaren Gerüchen, die
sie verströmte: Naturally-Luminous-Foundation, wenn ich mich nicht
irrte, und Aveda-Pure-Abundance-Volumizing-Shampoo und
Joy, das exklusive Parfüm, das Charlottes Mutter ihr immer
zum Geburtstag schenkte. In der Vergangenheit waren diese Düfte so
sehr Teil meines Alltags gewesen, dass ich sie kaum bemerkte, aber
jetzt beschworen sie eine Welt herauf, die Millionen Kilometer
entfernt schien - exotisch, teuer, luxuriös. Ich sehnte mich so
sehr danach, dass ich es kaum ertragen konnte.
Charlotte wich zurück, und obwohl ihre geschminkten
Lippen lächelten - ihre Augen lächelten nicht. Bis jetzt hatte sie
mich nur in der Arbeit gesehen, elegant gekleidet und gepflegt, und
mir wurde klar, wie fürchterlich ich in meinem verknitterten
T-Shirt und den Jogginghosen aussehen musste. Mit meinen
ungewaschenen Haaren und fettiger Haut verströmte ich den muffigen
Geruch des Gefängnisses aus allen Poren.
Ich hatte den ganzen Morgen damit verbracht, das
verstaubte Büro, das mir Mrs. Barclay für meine Mode- und
Stilberatungen überlassen hatte, sauber zu machen, so dass ich
vermutlich auch noch nach Schweiß roch. Ich schämte mich für mich
selbst, und fühlte mich irgendwie im Nachteil.
»Es ist wunderbar, dich zu sehen, Charlotte«, sagte
ich und trat etwas zurück. »Und wie ich sehe, hast du jede Menge
toller Sachen mitgebracht.«
»Na ja, Eva fragte Mr. Haines, und er sagte, dass
wir einen Teil der Sachen haben könnten, die aus dem letzten
Schlussverkauf noch im Lager waren«, erklärte sie. »Also ging ich
nach unten und sah sie durch, und obwohl natürlich nichts aus der
aktuellen Saison dabei ist, habe ich doch ein paar ziemlich nette
Stücke aus der letzten Winterkollektion
gefunden, ein paar Miu-Miu-Jacken zum Beispiel, und ein paar
Nicole-Farhi-Hosen. Da war sogar ein Julien-Macdonald-Kleid, das
zurückgegeben worden war - der Reißverschluss ist kaputt, aber ich
bin sicher, dass man das nähen kann. In dieser Schachtel sind
Gürtel und Taschen, und in der hier sind lauter Oberteile. Und
diese«, fuhr sie fort, während sie auf die Einkaufstüten zeigte,
»enthalten Make-up und Reiniger. Ich habe den Mädchen in der
Kosmetikabteilung erzählt, wofür ich sie brauche, und sie haben
jede Menge Gratisproben und Tester rausgerückt. Und diese kleine
Tüte ist für dich. Sie schicken dir alle liebe Grüße, Annie.«
Seitdem ich gefeuert worden war, hatte ich
versucht, nicht zu oft über Haines & Hampton nachzudenken, aber
als ich Charlotte zuhörte, wie sie ihre Vokale überdeutlich
formulierte, blitzte die Erinnerung an den Ort lebhaft auf. Ich sah
mich in der Kosmetikabteilung im Erdgeschoss, mit seinen
Stahl-und-Glas-Theken, den Quadratmetern an Spiegeln und weißer
Farbe, seinen enorm teuren Lotionen und Flüssigkeiten in ihren
wundervollen Töpfen und Verpackungen. Und das Personal, freundliche
Kosmetikerinnen in makellosem Weiß gekleidet wie Krankenschwestern
auf einer Intensivstation. Allein dorthin zu gehen hatte meine
Laune in der Vergangenheit gehoben und mir ein Gefühl der
Sicherheit gegeben.Wie sehr ich es geliebt hatte, Teil davon zu
sein. Nun hatte ich es vermasselt. Ich war eine persona non
grata. Ich würde nie wieder dorthin gehören.
Ich denke, Marion Barclay musste bemerkt haben,
dass ich durcheinander war, denn sie sagte unvermittelt: »Warum
bringen Sie diese Schachteln nicht jetzt ins Büro hinunter, Annie?
Vielleicht möchte Charlotte mit Ihnen gehen - vorausgesetzt, Sie
haben Zeit, Charlotte? Ich bin sicher, ich kann einen
Besucherausweis für diese spezielle Gelegenheit organisieren. Und
vielleicht sogar einen Rollwagen, auf den Sie die Schachteln
stellen können.«
Zwanzig Minuten später rollten Charlotte und ich
einen blauen Metall-Wäschewagen voller Schachteln und Tüten den
Flur hinunter, dicht gefolgt von einer Gefängniswärterin und den
neugierigen Blicken meiner Mitinsassinnen. Verglichen mit uns allen
sah Charlotte aus wie von einem anderen Planeten.Von dem sie
irgendwie auch kam: Planet Oberschicht.
Nach einem Monat in Highridge betrachtete ich die
endlosen Metalltore und zugesperrten Türen, durch die wir hindurch
mussten, als selbstverständlich, aber ich konnte sehen, wie
Charlotte jedes Mal zusammenzuckte, als eine nach der anderen
hinter uns zufiel. Sie sah ständig nervös über die Schulter, als ob
sie erwartete, von einer Verrückten, die eine Axt schwang,
angegriffen zu werden, und bisweilen sah ich sie heldenhaft
schlucken, damit der Gestank sie nicht würgte.
Als wir in dem Raum ankamen, der als Büro für die
Mode- und Stilberatung vorgesehen war, sah sie aus, als ob sie sich
ziemlich unwohl fühlte. Ich fragte sie, ob sie gehen wollte, aber
sie bestand darauf, noch zu bleiben, damit wir die Schachteln
öffnen konnten, die sie mitgebracht hatte. Glücklicherweise roch
der Raum - nach meinem Putzmarathon am Morgen - nach Bleiche und
nicht nach gedünstetem Kraut und Blumenkohl.
Das Erste, das ich tat, als wir den Transportwagen
abgeladen hatten, war die Plastiktüten aus der Kosmetikabteilung zu
durchsuchen, einen Eau-de-Toilette-Tester aufzustöbern - es
war Oscar, von Oscar de la Renta - und es in die Luft zu
sprühen.
»Ah! Das ist besser!«, sagte ich und atmete tief
durch. »Mmmmh! Ich fühle mich beinahe schon wieder wie ein
Mensch.«
Charlotte staubte den Transportwagen mit einem
Taschentuch ab und setzte sich dann mürrisch darauf. »Annie, würde
es dir möglicherweise etwas ausmachen, wenn ich offen dir
meine Meinung sage?«
Es war weder die Zeit noch der Ort, um ihre
Grammatik zu verbessern, also sagte ich einfach: »Schieß’ los,
Charlotte.«
»Du siehst schrecklich fröhlich aus, aber... dieser
Ort!« Ihr gepudertes Gesicht verzog sich. »Es ist einfach
schrecklich! All diese verschlossenen Türen und so! Und die
Gerüche sind genauso widerlich! Es sieht so schmutzig aus, dass ich
mich nicht traue, irgendetwas anzufassen, um mir nicht Bazillen
einzufangen. Und, na ja, ein paar von den Leuten, an denen wir in
den Fluren vorbeigegangen sind... Na ja, um es milde auszudrücken,
viele von ihnen sind so, na ja...«
Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »... so
übergewichtig und, na ja, schlecht gekleidet! Das ist eine
stilfreie Zone, Annie! Wie kannst du das aushalten, Woche für Woche
hier drinnen eingesperrt zu sein? Ich könnte es keinen Tag
ertragen!«
Mir klappte die Kinnlade herunter. Seitdem ich im
Gefängnis angekommen war, hatte ich versucht, eine gute
Miene zu allem zu machen. Ich hatte mir sogar eingeredet, dass ich
nichts anderes wäre als eine verzogene Göre aus der Mittelschicht,
und dass dieser Ort nicht annähernd so schlimm war, wie ich ihn
fand. Schließlich schien er - nach allem, was ich mitbekam - keiner
der anderen Insassinnen nur halb so viel auszumachen wie mir.
Nun war Charlotte da und drückte all die Gefühle in
Worten aus, die ich versucht hatte zu unterdrücken und die ich
nicht einmal in Gedanken zu formulieren gewagt hatte.
Es war das erste Mal seit der Gerichtsverhandlung,
dass ich etwas halbwegs lustig fand. Ich lachte los.
Charlotte war verblüfft.
»Was ist los, Annie? Habe ich etwas Falsches
gesagt?«
»Nein«, brachte ich heraus.
»Du hast den Finger genau auf die Wunde gelegt! Es
ist nur so, dass ich mich vorher nicht getraut habe, es zuzugeben -
nicht mal mir selbst gegenüber. Komm’ und umarme mich. Ich liebe
dich!«