19
Wladyslaw Wyrzukowski, ein ein Meter
fünfundachtzig großer Hüne mit rasiertem Schädel, erklomm die
knarrenden hölzernen Treppen vor mir, zwei Stufen auf einmal
nehmend, und trug zwei riesige, voll
gestopfte Koffer, in jeder Hand einen. Einen dritten hatte er sich
unter seinen Arm, der Schwarzenegger-Umfang hatte, geklemmt.
Eine halbe Stunde vorher hatte es mich drei
separate Gänge gekostet, dieselben Koffer in den Lift des
Workhouses zu zerren.
»Ich nehme die für dich«, hatte mich Mark
angeschnauzt, als er sah, wie ich einen davon zur Tür
herausschleppte.
»Nein, danke«, hatte ich kurz angebunden
geantwortet. »Ich will deine Hilfe nicht.«
»Sei nicht dumm, Annie. Du wirst dich
verletzen.«
»Nicht so sehr wie du mich verletzt hast.«
Er seufzte frustriert. »Du kannst sie nicht mal
hochheben!«
»Doch, das kann ich.«
»Gib ihn mir.« Mark riss mir den Koffer aus der
Hand. »Jesses! Was zum Teufel hast du da drin?«
»Den Rest meines Lebens. Stell’ ihn ab, Mark.
Bitte. Ich brauche dich nicht mehr. Für gar nichts mehr.«
Ich rief Fluffy und nahm ihn an die Leine.Während
ich ihn mit einer Hand festhielt, zog und kickte ich die drei
Koffer einen nach dem anderen den Flur hinunter.
Die Arme in die Seiten gestützt, stand Mark in der
Diele und sah mir zu.
»Es ist lächerlich, dass du Fluffy an dem Tag, an
dem du ausziehst, mitnimmst«, rief er, als ich auf den Lift
wartete. »Warum wartest du nicht damit, bis du dich eingerichtet
hast, so wie ich es vorgeschlagen habe?«
»Weil ich diese Woche dran bin, mich um ihn zu
kümmern. Du hattest ihn letzte Woche.«
»Gott, du bist so dickköpfig!«
»Bin ich nicht! Ich will nur nicht, dass du in
irgendein kleines Buch kritzelst, dass ich ohne dich nicht mit
Fluffy zurechtkomme, um es dann als Beweismittel gegen mich zu
verwenden.«
»Als ob ich so etwas tun würde, Annie!«
»Ach ja, richtig! Ich sollte dir vertrauen, dass du
es nicht tust, vermute ich.«
Unten war Fluffy fröhlich auf den Rücksitz des
Minicars gesprungen, das ich bestellt hatte, während sich der
Fahrer beinahe einen Bruch hob, als er die drei Koffer in den
Kofferraum quetschen wollte. Als wir das Haus in Fulham, in das ich
einzog, erreicht hatten, war Wladyslaw in seinem mit Farbe
verklecksten Overall die Vordertreppe heruntergelaufen, um uns zu
begrüßen, und hatte sie dann in das große, abschreckend wirkende,
terrassenförmige Gebäude aus grauen Ziegeln getragen, als ob sie so
leicht wie ein Kaschmirpullover wären. Nach drei Treppenabsätzen
war er nicht einmal atemlos. Als er im vierten Stock ankam, wich er
mit seinem Kopf einer nackten Glühbirne aus, die von einem Kabel an
der Decke herunterhing, und warf mir dann ein jungenhaftes Grinsen
zu.
»Nur noch ein Stockwerk dieser verdammten Treppen,
Annie!«, sagte er mit einem starken polnischen Akzent.
»Wie lange ist der Lift schon außer Betrieb?«,
fragte ich, als ich hinter ihm die Treppe hinaufschnaufte.
»Heute.«
»Hab’ ich ein Glück - oder vielmehr du -, dass er
genau an dem Tag zusammenbricht, an dem ich einziehe.«
»Nein, nein - zwei Tage. Eins, zwei. Seit
Freitag. Als er
kaputtging, ich mir sagte: >Du musst reparieren, bevor Annie
kommt!< Ich arbeite die ganze Freitagnacht, kein Scheiß, aber
große Problem mit elektrische Motor. Ist wie russische Arbeiter,
eh? Bastard will nicht gehen. Also habe ich neue bestellt, mit
iPhone, von Deutschland. Es wird kommen, übermorgen, sicher.«
Auf dem Treppenabsatz ließ ich meine schwere
Umhängetasche auf die nackten, verstaubten Planken fallen. Schon im
Normalfall schmerzte meine Schulter vom Tragen der riesigen
Lackledertasche, aber heute enthielt sie noch mehr als den üblichen
Inhalt. Zwischen Taschentüchern, Make-up, BlackBerry, Brieftasche,
zusammengeknüllten Kassenzetteln längst vergessener Einkäufe, einer
Zwei-Liter-Flasche Evian, Haarbürste, Smints, Moleskine-Notizbuch,
auslaufenden Kugelschreibern lag eine Menge schmuddeliger,
unbenutzter Tampons, die schon seit Langem ihre Zellophanhülle
verloren hatten und jetzt so vermodert aussahen wie viele tote
graue Mäuse. Zusätzlich enthielt sie heute meinen Schmuck, meinen
Reisepass, meinen Laptop inklusive Ladegerät, mein
BlackBerry-Ladegerät und meine Scheidungspapiere plus den
kompletten Inhalt meines Badezimmerschränkchens, einschließlich
meiner elektrischen Zahnbürste, Eve-Lom-Reinigungsmilch,
Clarins-Flash-Balm-Körperlotion, meinenVorrat an
Boots-Anti-Faltencreme und die Dutzenden von buchstäblich
unbenutzten Lippenstiften, Foundations und Rouges, die ich in den
letzten zwanzig Jahren spontan aus dem falschen Glauben heraus
gekauft hatte, dass sie mir stehen würden, und seitdem in der
Hoffnung gehortet hatte, dass sie es eines Tages endlich tun
würden.
»Ah, ist harte Arbeit,Treppen steigen, nicht?«,
sagte Wladyslaw gut gelaunt. »Aber ist gut für Körper wie zwei
Stunden Sport in die Fitnessstudio, ja?«
Er zeigte mit seinem Kinn auf meine riesige Tasche.
»Willst du, dass ich nehme das?«
»Nein, nein.Vielen Dank, das schaffe ich schon«,
sagte ich heldenhaft. »Du hast schon genug zu tragen.«
»Kein verdammtes Problem, Liebes!«
Er schlang sich die Umhängetasche so lässig über
die Schulter, als wäre sie eine mit Federn gefüllte Kissenhülle,
und stieg, bepackt wie ein Packtier für eine Andenüberquerung, den
letzten Treppenabsatz hinauf.
»Liftmotor kommt Mittwoch, sicher. Donnerstag,
vielleicht. Spätestens bis letzte Woche. Aber wenn kommt, dann ich
repariere in fünf Minuten. Kein Problem. Ich mache alles gut, weißt
du, sogar sprechen Englisch wie richtiger Engländer, nich’
wahr?«
»Das tust du mit Sicherheit.«
»Unter keinen Umständen sollten Sie aus der
ehelichen Wohnung ausziehen«, hatte mich Williams gewarnt, als wir
das letzte Mal miteinander gesprochen hatten.
Es mochte ja richtig sein, das zu raten, aber er
musste auch nicht mit Mark leben. In den letzten Wochen seit
unserem »Ersten Schlichtungsverfahren« mit der Bezirksrichterin
Robarts waren wir weitgehend zivilisiert miteinander
umgegangen.
Wir hatten auch das getan, was sie uns
vorgeschlagen hatte, und bei einer Flasche Wein, um unser Gespräch
flüssiger zu gestalten, den Versuch gemacht, die Fluffy-Frage zu
klären.
Bevor wir jedoch unser zweites Glas geleert hatten,
war unsere zivilisierte Diskussion in einen noch viel schlimmeren
Streit ausgeartet als den, den wir im Gericht gehabt hatten. Marks
Unmut über die Zeit, die ich in der Arbeit verbrachte; sein
fehlender Ehrgeiz; mein kontrollierendes Verhalten; seine
Verschwendung; meine enge Beziehung zu meinem Vater (von der, wie
sich herausstellte, Mark sich immer ausgeschlossen gefühlt hatte);
meine Angewohnheit, die Zahnbürste nie zurück auf die Ladestation
zu stellen; und seine Angewohnheit, gelegentlich zu vergessen, die
Toilette zu spülen, nachdem er gepinkelt hatte. Die Schleusen waren
offen und der ganze Ärger und Zorn, den wir so lange zurückgehalten
hatten, floss immer weiter durch sie hindurch, ebenso wenig zu
stoppen wie flüssige Lava. Der Streit hatte seinen Höhepunkt
erreicht, als ich mich im Badezimmer einschloss und Mark schrie,
dass er mich hasste, als er aus der Wohnung stürmte.
Von da an war das Zusammenwohnen noch
unerträglicher geworden. Es war, als versuchten wir beide so zu
tun, als ob der andere nicht existieren würde.Wenn wir uns in der
Diele trafen, gingen wir aneinander vorbei, ohne etwas zu sagen.
Wenn er im Wohnzimmer war, saß ich im Schlafzimmer und der
Fernseher lief auf voller Lautstärke. Wenn ich im Wohnzimmer las,
ging er nach oben auf die Galerie über der Küche und drehte die
Musik so laut auf, dass einmal sogar der Nachbar aus dem
Erdgeschoss gekommen war und sich beschwert hatte.
Zu den Mahlzeiten standen wir beide mit gesträubten
Nackenhaaren in eisigem Schweigen hinter der Küchentheke.
Jeder bereitete sein eigenes Essen zu. Mark kochte sich etwas
Köstliches aus frischen Zutaten, ich schob ein Fertiggericht in die
Mikrowelle. Dann zogen wir uns mit unseren Tellern in
entgegengesetzte Ecken des Zimmers zurück und aßen jeder für sich
allein. Der Einzige, der davon profitierte, war Fluffy, den wir
beide freigiebig mit Leckerbissen bestachen, damit er sich
dazusetzte. Zum ersten Mal in seinem Leben legte unser magerer Hund
an Gewicht zu. Selbst seine herausstehenden Hüftknochen waren jetzt
mit einer Schicht Fett gepolstert.
Es war bizarr, was mit unserer Beziehung passiert
war. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich es nicht ertragen
können, fünf Minuten lang von Mark getrennt zu sein. Ende Mai
konnte ich es nicht mehr ertragen, mit ihm unter einem Dach zu
leben. Tatsächlich konnte ich mich kaum mehr daran erinnern, was
ich an ihm gefunden hatte, abgesehen von seinem attraktiven
Äußeren.
»Er hat dich mit diesem selbstgefälligen Lächeln
geködert, das er an sich hat«, sagte mein Vater, als ich ihm beim
Mittagessen im Wolseley in Piccadilly gestand, wie schlimm sich die
Sache zwischen uns entwickelt hatte. »Aber wie deine Großmutter zu
sagen pflegte, Liebes: >Man sieht so gut aus, wie man
handelte<«
»Ich weiß das jetzt, Dad. Hör zu, entgegen dem Rat
meines Anwalts habe ich mich entschieden auszuziehen.«
Dad erstickte beinahe an seinen Eiern
Benedikt.
»Verdammt noch mal, warum solltest du aus
dem Workhouse ausziehen,Annie? Warum sollte er weiter dort
wohnen, während du diejenige bist, die immer noch die Hypothek
abzahlt?«
»Weil Mark es sich weder leisten kann auszuziehen
noch die Hypothek zu zahlen, Dad.«
»Wie rührend! Du solltest ihn auf die Straße
werfen.«
Er nahm einen Schluck von seinem Chablis. »Es tut
mir nur leid, dass es dich so viel Geld und Ärger und Schmerzen
gekostet hat herauszufinden, wie er wirklich ist.«
»Ach, es geht mir gut. Oder wenigstens wird es mir
irgendwann wieder gut gehen.«
»Das ist mein Mädchen!«, sagte er. »Und das wird
es. Das wird es, wenn du diesen Bastard schließlich und endlich
losgeworden bist.«
Vernünftigerweise hatte Dad vorgeschlagen, dass ich
nach Hause ziehen sollte, bis die Scheidung vorüber und die Wohnung
im Workhouse verkauft war und ich genug Geld hatte, um die Kaution
für eine neue Wohnung zu hinterlegen, anstatt mir eine Wohnung zu
mieten, die ich mir kaum leisten konnte. Da er zwei bis drei Nächte
in Normas Haus in Willesden blieb, stand unser Haus in Hampstead
Garden Suburb mittlerweile oft leer, und es war so geräumig, dass
es wie ein Verbrechen erschien, es nicht zu nutzen. Dennoch war der
Gedanke, dass ich in meinem Alter wieder nach Hause ziehen sollte,
so deprimierend - zurück in mein lilafarbenes Teenagerzimmer mit
den geblümten Laura-Ashley-Rüschenvorhängen, seinen verblichenen
Duran-Duran-Postern und dem hölzernen Einzelbett, auf dem immer
noch Brenda und Tiger, mein abgeliebter Teddybär und meine Katze,
auf dem Kopfkissen saßen. Abgesehen davon war Hampstead Garden
Suburb noch weiter von Chelsea weg als Islington. Wenn ich es
schaffen wollte, nach Fluffy zu sehen in
den Wochen, in denen er - bis zur ordentlichen Gerichtsverhandlung
- abwechselnd bei mir war, brauchte ich eine Unterkunft, die nahe
genug bei Haines & Hampton war, damit ich sie relativ schnell
erreichen konnte.
Es war Eva gewesen, die vorgeschlagen hatte, mich
mit Wladyslaw - oderVlad, wie er abgekürzt genannt wurde - in
Verbindung zu setzen.Wie sie erklärte, war ihr Bruder ein
wandelndes Klischee, ein polnischer Klempner, der nach England
gekommen war, um Geld zu verdienen. Das war vor sechs Jahren, und
er hatte die ersten zwölf Monate auf einer Baustelle gearbeitet und
von einem Südlondoner Hilfsarbeiter das gelernt, was er für das
Englisch der Queen hielt. Er hatte bei Eva auf dem Boden geschlafen
und von vakuumverpackten bigos, flaki wolowe, Sauerkraut und
klopsiki gelebt, die ihnen ihre Mutter von zu Hause
geschickt hatte. Er hatte so viel Geld gespart, dass er seine
eigene Klempnerfirma »Drainy Days« eröffnen konnte. Eva hatte sich
diesen eingängigen Namen ausgedacht.
Von der Fernsehsendung Property Ladder
inspiriert und ihrer Moderatorin Sarah Beeny hörig, hatte Vlad nach
einem Jahr genug Geld gespart, um sich die Anzahlung für eine
kleine, heruntergekommene Studiowohnung in Clapham zu leisten. Er
renovierte sie, während er darin wohnte, und verkaufte sie nach
sechs Monaten für mindestens das Doppelte seiner Anfangsinvestition
weiter. Drei Jahre später war »Drainy Days« zu einem kleinen, aber
profitablen Unternehmen geworden, und Vlad war ein
Vollzeit-Bauträger. Mit einem Team polnischer Gefährten - alles
Familienmitglieder und Kindheitsfreunde, die er in seinem
ratternden Ford Transit von und nach Krakau karrte - hatte
er fast verfallene Häuser in West London gekauft und sie innerhalb
weniger Wochen in kleine, modische Wohnungen aufgeteilt, die auf
Kunden zugeschnitten waren, die zum ersten Mal eine Wohnung
kauften. Sie hatten neutrale IKEA-Küchen, günstige und fröhliche
Badezimmerarmaturen und durchwegs Laminatfußböden.
Vlads neuestes Projekt ging in eine etwas andere
Richtung: Ein ehemaliges Bed-and-Breakfast-Wohnheim, das an
irgendeinem Gaswerk lag. Er war dabei, es in einen Bienenkorb aus
möblierten Wohnungen umzuwandeln, mit denen er auf den Mietmarkt
zielte. In anderen Worten - sein eigenes Mietwohnungs-Imperium.Auch
wenn die Renovierungen noch nicht ganz beendet waren - auf jedem
Stockwerk waren die elektrischen Kabel wie Spaghetti aufgerollt,
die Wände waren erst halb gestrichen und die Kupferrohre ragten wie
Giftpilze aus dem nackten Fußboden -, hatte er schon für sechs der
elf Wohnungen im Gebäude Mieter gefunden. Ich sollte der Siebte
sein.
Eva hatte mich vor einer Woche hingebracht, um die
Renovierungen zu begutachten. Ohne Möbel hatte die
Dachgeschosswohnung wie das perfekte Schlupfloch ausgesehen. Das
Schlafzimmer war mit einem großen Kleiderschrank und einem
romantischen Schiebefenster ausgestattet, das einen Blick auf die
benachbarten Dächer bot. Es hatte sogar ein kleines, vom
Schlafzimmer abgehendes Badezimmer, das zwar nicht genau dem Stand
der Mode entsprach, aber brandneue Armaturen und eine anständige
Dusche über einer kleinen Wanne hatte. Das Wohnzimmer mit offener
Küche war, wie es ein Makler beschreiben würde, kompakt, aber
voller Charakter. Es hatte
Dachschrägen und französische Fenster, die auf einen überdachten
Balkon gingen, der gerade groß genug war, dass ich darauf sitzen
konnte. Das Beste an der Wohnung war, dass ich in den ersten drei
Monaten meines Mietvertrags nur die Hälfte der marktüblichen Miete
zahlen musste, weil ich eine Freundin von Eva war und die Arbeiten
noch im Gang waren, wie Vlad mir sagte.
Als ich jetzt die letzten Stufen zu meinem
Dachgeschoss kletterte, fühlte ich mich erleichtert bei dem
Gedanken, wieder einen Platz für mich allein zu haben, weit weg von
meinem grässlichen Gatten. Aber als Vlad die Tür aufschloss, in das
jetzt möblierte Schlafzimmer stolzierte und meine Koffer neben die
Küchenschränke stellte, war ich wie vor den Kopf geschlagen.
Etwas Sonderbares war geschehen, seitdem ich das
letzte Mal hier gewesen war.
Die Wohnung war geschrumpft.
Ich sah mich enttäuscht im größten Zimmer um. Das
cremefarbene Zweisitzer-Sofa, das Vlad hineingestellt hatte, nahm
ein Drittel des kleinen Raumes ein, der Flachbildfernseher ein
Viertel, und Vlad, Fluffy und ich den Rest. Die Dachschrägen, die
ich bei meinem vorherigen Besuch so atmosphärisch gefunden hatte,
nahmen so viel von der Decke weg, dass es kaum einen Platz im
Zimmer gab, wo man aufrecht stehen konnte. Ich bückte mich, ging
langsam am massigen Bizeps meines riesigen Vermieters vorbei und
steckte meine Nase in das Schlafzimmer, nur um festzustellen, dass
ich den Rest von mir nur mit Mühe reinquetschen konnte. Gefolgt von
Fluffy schlängelte ich mich am neu aufgestellten Doppelbett entlang
und schaffte
es, an der einen Seite stehend, die Schranktüren zu öffnen. Die
Anzahl seiner Kleiderstangen und Einlegeböden hatte sich halbiert.
Wo sollte ich alle meine Kleider hinräumen? Ich würde sie in den
Koffern lassen müssen - nur dass es keinen Platz gab, um diese
flach auf den Boden zu legen.
»Alles in Ordnung, Liebes?«
»Ja«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Bestens,
vielen Dank.«
Die Schlafzimmertür ging auf. Genauer gesagt, sie
öffnete sich, so weit es ging, ohne gegen den Diwan zu prallen.
Vlads großes, strahlendes Gesicht tauchte darin auf wie ein
fröhlicher Mond.
»Du alles hast, was brauchst?«
»Oh, ja.« Alles, außer Platz zum Atmen.
»Dann ich gehe jetzt, damit du einräumen, nich’
wahr? Du brauchst etwas, du rufst mich. Ich unten im zweiten Stock,
versaue jetzt die Leitungen.«
Ich hörte die Stiefel, als er über die nackte
Treppe hinunter in eine der unteren Wohnungen stampfte, zu seinen
Kameraden, deren Hämmern und Klopfen durch das ganze Haus schallte.
Dann quetschte ich mich zurück in das Wohnzimmer, das nur
unbedeutend mehr Platz zu haben schien, wenn Vlad nicht drin war.
Fluffy schnüffelte an den Fußbodenleisten, als ob er versuchen
würde, den Eingang zum Rest unseres neuen Zuhauses zu finden.
»Ich fürchte, das ist es nun«, sagte ich ihm mit
einem Kloß im Hals. Ich hatte ein klaustrophobisches Gefühl und
öffnete die französischen Fenster. Kühle Luft kam herein und das
Dröhnen des starken Verkehrs. Mit Fluffy ging ich hinaus auf den
quadratmetergroßen Balkon und
spähte über das niedrige Geländer. Eine ununterbrochene Linie von
Bussen und Autos rollte weit unten vorbei und pupste dabei dunkle
Abgaswolken.
Meine Stimmung sank wie ein gut gefüllter
Roxanne-Shopper von Mulberry, der vom Laufsteg gefallen war. Ich
dachte an meine wunderschön ruhige Wohnung im Workhouse mit ihren
vielen Quadratmetern an Platz - jetzt besetzt von dem verdammten
Mark Curtis. Diese ganze Wohnung würde in mein altes Schlafzimmer
passen, und es würde trotzdem noch Platz frei bleiben. Ich hatte
mich nicht verkleinert, sondern miniaturisiert.
Tränen des Selbstmitleids stiegen mir in die Augen,
aber ich weigerte mich, sie laufen zu lassen. Es ist eine
vorübergehende Maßnahme, ermahnte ich mich selbst. Ich war nicht zu
lebenslänglich verknackt worden, sondern blieb nur hier, bis die
Scheidung rechtsgültig und die Wohnung im Workhouse verkauft war.
Abgesehen davon, dass es klein war, war nichts an diesem Ort
auszusetzen. Sehr klein. Okay, winzig.
Aber es musste doch auch eine positive Seite daran
geben, wenn man sich von einem großzügigen Loft auf ein Adlernest
unter dem Dach verkleinerte. Ich sollte sie suchen und nicht so
verwöhnt sein.
Ich könnte zum Beispiel den Boden saubermachen,
indem ich darauf pustete, oder die ganze Küche und das
Wohnzimmer putzen, ohne dass ich meinen Fuß bewegte. Ich konnte den
Abwasch machen, während ich auf dem Sofa saß, und die Haustür
öffnen, ohne das Bett zu verlassen. Im Notfall könnte ich Gäste
unterhalten - und sogar für sie kochen -, während ich auf der
Toilette saß. Möglicherweise
müsste ich das in der Tat sogar, weil es außer dem Sofa und dem
Barhocker neben der Minifrühstückstheke keinen Platz zum Sitzen
gab.Wenn mir der Raum zu vollgestopft war, würde ich den Stuhl auf
den Balkon stellen müssen und hoffen, dass ich nicht über das
Geländer fiel.
Und was Fluffy betraf- na, ja, in den Wochen, in
denen er bei mir war, würde es ihm gut gehen. Die Wohnung war
größer als die Pferche in den Hundepensionen - aber nur wenig. Ich
würde viel mit ihm spazieren gehen. Es gab einen kleinen Park, ein
paar Straßen entfernt, wo er seine Beine ausstrecken konnte. Er war
immer noch ein Hund, und Hunde passten sich an. So lange sie mit
demjenigen zusammen waren, den sie liebten, kümmerten sie sich
nicht darum, wo sie waren und was sie taten. Und wenn man sie sich
selbst überließ, schliefen sie die meiste Zeit.
Ich begann mich, was mein neues Leben und meine
neue Umgebung betraf, etwas besser zu fühlen. Ich wusste, dass wir
beide anfangen würden, uns zu Hause zu fühlen, sobald ich
ausgepackt, Fluffy gefüttert und mir selbst eine Tasse Tee gemacht
hätte.
»Vorwärts, Fluffy, lass uns loslegen!«, sagte
ich.
Er nahm eine wachsame Position in einem Meter
Entfernung ein - was so weit von mir entfernt war, wie es der
beengte Platz erlaubte. Er dachte, dass ich spielen wollte.
Da ich seine Spielsachen im Workhouse gelassen
hatte, knüllte ich einen alten Brief von Williams zusammen, den ich
in meiner Tasche gefunden hatte, und warf ihn durch das Zimmer,
damit Fluffy ihm hinterherjagen konnte. Bevor er eine Chance hatte,
sich zu bewegen, prallte der Papierball an der Dachschräge ab und
fiel ihm vor die Füße.
Den Kopf auf eine Seite gelegt, sah er ihn verwundert an. Ich hob
ihn auf und schleuderte ihn durch die Schlafzimmertür. Bellend und
mit wedelndem Schwanz verschwand Fluffy hinter ihr, war sofort
wieder da und hielt ihn mir hin. Alles in weniger als zwei
Sekunden.
Ich schaltete den 19-Zoll-LCD Fernseher ein und
zappte zu einem der Shopping-Kanäle, die mich immer aufheiterten,
wenn ich mich schlecht fühlte. Während ein kahlköpfiger Präsentator
Volumenhaarspray auf ein magersüchtiges Model mit langen,
strähnigen, glatten Haaren sprühte, öffnete ich einen der Koffer
und machte - jedes Mal gefolgt von Fluffy - die erste der vielen
Miniwanderungen in das Schlafzimmer, beladen mit Oberteilen, Hosen
und Unterwäsche. Als ich sie alle eingeräumt hatte, war der Schrank
voll, der Fußboden mit Schuhen übersät, und ich hatte noch zwei
weitere Koffer auszupacken. Ich hängte die Kleidung doppelt über
die Kleiderbügel, stopfte alles in die Fächer und schaffte es, den
zweiten Koffer zu leeren. Aber was würde ich mit dem Inhalt des
dritten Koffers machen, mal abgesehen von den Koffern selbst?
Ich schob alle drei in eine Ecke unter die
niedrigste Dachschräge, stand auf und schlug mir meinen Kopf an.
Ich ließ mich auf das Sofa fallen, hob Fluffy neben mich und
starrte geistesabwesend auf den Bildschirm. Das Haarmodel sah jetzt
aus wie ein Stecken mit Zuckerwatte, und der kahlköpfige Mann hatte
Gesellschaft von Yvonne, einer der regelmäßigen
Verkaufspräsentatorinnen des Senders, bekommen.
»Erstaunlich, Carlos!«, sagte sie. »Sieh nur wie
üppig und kräftig ihr Haar ist!«
»Ja, Yvonne - und das ohne zu kleben«, sang er und
fuhr mit seinen Fingern hindurch.
»Gewöhnlich kostet ein Zerstäuber von
Ultra-Lift-Hair-U-Grow neunzehn Pfund fünfundsiebzig«, sagte Yvonne
und lächelte mich an, »aber heute haben Carlos und ich ein
einzigartiges Angebot für Sie, liebe Zuschauer. Erstaunliche zwei
Zerstäuber von Ultra-Lift-Hair-U-Grow, plus das spezielle
Hair-U-Grow-Ultra-Glanzvolumen-Shampoo für die tägliche Anwendung
und eine große Flasche Hair-U-Grow-Doppelglanz-Conditioner
für kräftiges Haar plus die spezielle
Hair-U-Grow-Ultra-Locken-Haarbürste für kräftiges Haar. Diese
Kollektion hat einen empfohlenen Verkaufspreis von
einhundertundfünfundzwanzig Pfund. Rufen Sie jetzt an,und das ganze
Paket gehört Ihnen, für nur einhundertundeinundzwanzig Pfund
neunundneunzig!«
Ich musste zugeben, dass es ein echtes Schnäppchen
war, und die Hair-U-Grow-Volumenprodukte wirklich wirkten. Aber das
war ein Produkt, das ich mir sicherlich nicht kaufen würde, so
lange ich auf diesem Dachboden wohnte. Volumen - irgendetwas mit
Volumen - war das Letzte, das ich gebrauchen konnte.
Fluffy schien ungewöhnlich unruhig. Er schlüpfte
vom Sofa, schnüffelte in der Küchenecke herum, setzte sich dann vor
mich, legte mir eine Pfote auf den Schoß und winselte. Ich zog die
kleine Packung seines speziellen Hundefutters aus meinem dritten
Koffer, öffnete die Ikea-Küchen-Starterbox, die Vlad auf der
kleinen Küchentheke abgestellt hatte, und schüttete ein paar
trockene Brocken in eine der Müslischalen.
Fluffy schlang sie in fünfzehn Sekunden hinunter.
Dann
saß er wieder vor mir und starrte mich an, als ob er fragen
wollte: »Was tun wir jetzt?«
Ich sah verzweifelt seinen verwirrten
Gesichtsausdruck. Die blanke Wut kochte in mir hoch - nicht nur auf
Mark, sondern auf die ganze männliche Spezies. Ich war fertig mit
der Liebe! Fertig mit der Romantik! Und, ja - ich war sogar fertig
mit Sex!
Um es zu beweisen, rannte ich ins Schlafzimmer,
leerte den Inhalt meiner Umhängetasche auf das ungemachte Bett und
wühlte mich durch den Inhalt auf der Suche nach meinen
Antibabypillen. Eine nach der anderen drückte ich aus der
Verpackung und spülte sie dann das Klo hinunter.
Zurück im Wohnzimmer warf ich mich auf das Sofa,
grub mein Gesicht in die Kissen und schrie: »Ich hasse dich, Mark
Curtis!« in den feuerfesten Schaumstoff. »Ich hasse dich! Ich hasse
dich, du Bastard! Ich hoffe, dass du in der Hölle
verrottest!«
Fluffy winselte aus Mitgefühl. Ich hob ihn zurück
auf meinen Schoß, aber obwohl ich seine Ohren kraulte und sein Fell
streichelte, setzte er sich nicht hin. Er sprang auf den Boden,
versuchte seine Hoden mit dem Hinterbein zu kratzen, trottete dann
zur Eingangstür und scharrte daran.
In dieser Nacht lag ich mit offenen Augen im Bett
und hörte auf die ungewohnten Geräusche: Ein Betrunkener, der auf
der Straße grölte; die Geräusche des Verkehrs; ein Schwall Wasser
in den Leitungen, als einer der unteren Mieter die Toilettenspülung
drückte.
Gedanken über die Scheidung rotierten in meinem
Kopf, riefen Panikwellen in mir hervor und ließen mich verschwitzt
und atemlos zurück. Gerade als ich eingedöst war, weckte mich
Fluffy, der vom Bett sprang und mit der Nase die Tür aufstupste.
Ich konnte ihn im anderen Zimmer herumstreichen hören, wie ein
wildes Tier in einem Käfig, seine Klauen klackerten auf dem
Laminat, während er hin und her lief.Von Zeit zu Zeit stoppte er
und schnüffelte tief unter dem Spalt unter der Eingangstüre,
offensichtlich auf der Suche nach Freiheit. Nach einer Weile kam er
zurück ins Schlafzimmer, sprang neben mich auf das Bett und rollte
sich, nachdem er sich zwei- oder dreimal im Kreis gedreht hatte, zu
einem festen, unglücklichen Ball zusammen und presste seinen Körper
an mich.
Mein Wecker läutete um sechs Uhr - es schienen nur
Minuten vergangen zu sein, seitdem ich wieder eingeschlafen war.
Mein Plan war, dass ich mit Fluffy eine gute Stunde spazieren gehen
würde, bevor ich zur Arbeit musste, so dass er bis zum Mittagessen
schlafen würde. Dann würde ich schnell herüberkommen und wieder mit
ihm Gassi gehen, bevor ich für den Nachmittag ins Geschäft
zurückkehrte. Mit etwas Glück würde er durchhalten, bis ich am
Abend nach Hause kam und ihn ein drittes Mal ausführen würde.
Ich kroch aus dem Bett und fiel in das angrenzende
Minibad. Ich drehte die Dusche an und heißes Wasser schoss in einem
wohltuenden Schwall über mich. Aber gerade, als ich mich mit meinem
Aveda eingeseift hatte, wechselte die Temperatur von heiß zu
kochendheiß und versiegte dann zu einem eiskalten Tröpfeln. Egal
wie ich an den Reglern herumfummelte, es wurde nicht mehr warm.
Nach Luft schnappend wusch ich meine Haare, so gut es ging, aus.
Ich versuchte, meinen Kreislauf wieder zu normalisieren, indem ich
mich mit meinem Handtuch trocken rubbelte, dann warf ich mir die
erstbesten Kleidungsstücke über, die ich aus meinem vollgestopften
Schrank ziehen konnte: ein zwei Jahre altes Baumwoll-Minikleid und
eine enge schwarze Topshop-Lederjacke. Ohne mir die Zeit zu nehmen,
mein Haar zu föhnen, schob ich meine Füße in Espandrilles, griff
nach meinen Schlüsseln und öffnete die Wohnungstür. Im selben
Moment schoss Fluffy davon wie ein Windhund aus der geöffneten
Klappe und zog mich hinter sich her.Verzweifelt kläffend polterte
er die Stufen hinunter und hielt nur kurz im zweiten Stock an, um
ein paar Kippen von Filterzigaretten einzusaugen. Ich zischte ihn
an, er solle sie fallen lassen und ruhig sein, aber er nahm keine
Notiz von mir. Abwechselnd würgend und bellend stürmte er aus dem
Haus.
Erst als er den nächsten Laternenpfahl taufte,
bemerkte ich, dass ich seltsamerweise Espandrilles mit
unterschiedlich hohen Keilabsätzen trug. Anstatt den ganzen Weg
wieder nach oben zu gehen, humpelte ich weiter. Als ich den
benachbarten Park erreichte, konnte ich nicht mehr, also ließ ich
mich wie eine betrunkene Bordsteinschwalbe nach einer schweren
Nacht auf die nächste graffitibesprühte Bank fallen und
beobachtete, zu müde um ihn daran zu hindern, wie Fluffy in
Hundekot, benutzten Kondomen und Spritzen herumwühlte, mit denen
der fleckige Rasen übersät war. Nach etwa zehn Minuten schmiss er
sich vor mich und drängelte mich, einen Ball für ihn zu werfen. Als
ich keinen hervorholte, legte er sich
mit seinem Kopf zwischen den Pfoten auf den Weg - der Inbegriff
der Enttäuschung.
Eine Stunde später kehrten wir kalt, gelangweilt,
deprimiert und hungrig zu unserer neuen Bleibe zurück. Als wir uns
den Eingangsstufen näherten, zog Fluffy in die entgegengesetzte
Richtung, so wie er es immer tat, wenn ich ihn zum Tierarzt bringen
wollte.
»Komm schon, Fluffy!«, sagte ich betont
enthusiastisch. »Es ist Zeit für das Frühstück!«
Er krallte sich mit seinen Krallen fest. Ich zog an
der Leine. Er setzte sich mit seinem Hinterteil auf den Gehsteig
und starrte mich an.
»Was ist los?«, fragte ich ihn.
Er senkte seinen Kopf und knurrte.
»Ja, es ist hart«, sagte ich mit fester Stimme.
»Aber es ändert sich nichts, auch wenn du einen Aufstand machst.
Das ist dein neues Zuhause. Unser neues Zuhause. Und wir werden uns
daran gewöhnen.«
Er drehte seinen Kopf weg und zeigte, dass er für
seinen Teil keine Absicht hatte, das zu tun.
»Komm schon, steh auf!«
Ich zog noch mal an der Leine, aber Fluffy bewegte
sich nicht. »Mach bitte keine Schwierigkeiten!«, bettelte ich. »Ich
kann das heute Morgen nicht aushalten.«
Anstatt zu reagieren, rollte Fluffy vorwurfsvoll
mit den Augen und zeigte seine blutunterlaufenen Augäpfel.
Ich öffnete die Eingangstür, ging dann wieder die
Treppe hinunter, nahm Fluffy hoch und schleppte ihn über die
Schwelle. Mit einer Mischung aus Schmeicheleien und purer Kraft
zerrte ich ihn nach oben. Inzwischen gierte
ich verzweifelt nach einem Kaffee, aber ich hatte weder eine
Büchse mit Instantpulver zu Hause, geschweige denn eine
Milch.
Ich verbannte jede Erinnerung an den geschäumten
Cappuccino, mit dem Mark mich jeden Morgen geweckt hatte, aus
meinen Gedanken.