30
Als ich von der Polizeistation zurückkam,
wo ich Fluffy aufgesammelt hatte, war es bereits nach zwei
Uhr.
Manny bewachte an diesem Nachmittag den
Personaleingang wie Zerberus die Tore zur Hölle. Er stand vor der
Tür, ein Meer aus Zigarettenstummeln zu seinen Füßen, und rauchte
eine Zigarette. Als er mich mit meiner inzwischen völlig
überdrehten Töle aus dem Taxi steigen sah, bekam er große
Augen.
Ich biss meine Zähne zusammen, bereit zum
unvermeidlichen Wettstreit, wer von uns beiden den härtesten Willen
besaß.
»Was ist ’eute mit der ’andtasche passiert,
Annie?«, erkundigte er sich. Nach einem letzten Zug ließ er seine
Zigarette fallen und zerrieb sie wie die anderen unter seiner
Schuhsohle.
»Wusstest du das nicht? Große Taschen sind out«,
witzelte ich, als ich entschlossen auf die Tür zuging. »Und Fluffy
würde nicht in eine winzige Clutch-Bag passen.«
»Sehr lustig, sehr drollig.«
Er stellte sich zwischen mich und den
Eingang.
»Du weißt, dass du ihn nicht mehr ’ier’er bringen
kannst. Mr. ’Aines ’at gesagt, dass sie dich feuern, wennste es
noch mal tust.«
Ich hatte es keinem erzählt, aber Nachrichten
verbreiteten sich schnell unter den Angestellten des
Geschäfts.
»Wo um Himmels willen hast du diesen Quatsch
gehört?«, fragte ich ihn.
»Flurfunk«, sagte er, todernst.
Ich kniff meine Augen zusammen. »Es war Eva, oder?
Oder die Sekretärin von Mr. Haines?«
»Du solltest es besser wissen, statt mich zu
fragen. Meine Lippen sind versiegelt, meine Liebe.«
»Ach, das ist mir sowieso egal! Pass auf, bitte
mach’ jetzt
hier keinen Aufstand«, bettelte ich, als er weiterhin meinen Weg
blockierte. »Lass mich einfach durch. Mach’ schon!«
Er schüttelte behäbig den Kopf.
»Nicht mit diesem wilden Tier. Dein Job ist dann
nichts mehr wert, wenn ich richtig ge’ört ’abe. Und meiner auch
nicht, wenn ich ihn ’ineinlasse.«
»Aber dieses Mal wird es niemand erfahren«,
beharrte ich stur.
»Ich verspreche hoch und heilig, dass er dieses Mal
keinen Ärger machen wird! Schau’ nicht so skeptisch.«
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war schon
gefährlich knapp an der Zeit, zu der ich mich mit George treffen
sollte, und zuerst musste ich Fluffy in mein Büro bringen. Ich
musste einfach an Manny vorbeikommen.
»Mach schon!«, bat ich ihn, leicht verzweifelt.
»Liebster Manny! Ich hätte ihn nicht mitgebracht, wenn es nicht ein
absoluter Notfall gewesen wäre.«
Er sah mich mit schmalen Augen an. »Was ’aste nur
mit diesen Notfällen? Wenn ich mich richtig erinnere, ’aste vor ein
paar Jahren schon einen ge’abt.«
»Hatte ich?«
»Ja. Du’ast meinem Kunden am’aupteingang das Taxi
vor der Nase weggeschnappt.’ast so was gesagt,wie ›Mein alter ’err
ist umgekippt<.Welcher Notfall ist es dieses Mal?«
Trotz des finsteren, misstrauischen Blicks konnte
ich sehen, dass er weich wurde.
»Du musst wissen, dass Fluffy heute Morgen von zu
Hause weggelaufen ist.«
»Mein ’erz blutet, meine Liebe. Warst du gemein zu
ihm?«
»Es ist eine lange Geschichte, und ich würde sie
dir liebend gerne in allen schmutzigen Details erzählen, aber jeden
Moment kommt eine meiner Kundinnen. Ich schwöre dir, dass ich es
dir beim Rausgehen erzählen werde. Bitte, mach’ es mir nicht
so schwer. Ich habe Fluffy gerade bei der Polizei abgeholt, und sie
waren auch nicht besonders nett zu mir.«
»Wenn Mr. ’Aines herausfindet, dass ich ihn gesehen
’abe...«
»Aber das hast du nicht, oder?«
Ich lächelte auf meine - hoffentlich -
unwiderstehlichste Art, und sagte: »Mach’ die Augen zu. Mach’
schon! Bitte!«
Manny seufzte leidgeprüft. Dann kniff er seine
Augen zusammen, und ich zog Fluffy an ihm vorbei. Ich hielt kurz
an, um ihn flüchtig auf die Wange zu küssen.
»Siehst du? Du hast überhaupt nichts gesehen«,
sagte ich, als ich die schmiedeeisernen Türen des altmodischen
Lastenaufzugs öffnete und Fluffy hineinschob.
»Falls Mr. Haines es jemals herausfindet - aber das
wird er nicht -, kannst du ihm das mit einem ehrlichen Gewissen
sagen.«
»Ja, richtig!«, sagte Manny und zwinkerte mir zu.
»Du schuldest mir was, Annie.«
»Alles. Alles, was du willst«, rief ich, als ich
die Lifttüren zuwarf.
Ich stieg im zweiten Stock aus und nahm den
hinteren Flur zur Personal-Shopping-Abteilung.
Als Charlotte, die an der Rezeption saß, uns durch
die Tür des Lagerraums kommen sah, sprang sie auf und
kreischte aufgeregt: »Da ist wieder der Handtaschen-Kobold!«
Sie stöckelte in ihrem hautengen
Mini-Jeans-Overall, den sie zusammen mit bunten
Peeptoe-Plateau-Schuhen von Office - zum Schnüren und mit
fünfzehn-Zentimeter-Absätzen - trug, um ihren Tisch herum, fiel auf
ihre bloßen Knie und warf ihre Arme um Fluffys Hals.
»Oh, er ist so süß!« Sie grinste mich an.
»Aber du wirst dich doch nicht wieder in
Schwierigkeiten bringen, Annie? Hat dir Mr. Haines nicht angedroht,
dass er dich feuert, wenn du ihn noch einmal mitbringst? Upps! Das
sollte ich eigentlich gar nicht wissen, oder?«
»Warum nicht?«, sagte ich. »Jeder in diesem Laden
scheint es zu wissen. Pass auf, Charlotte, ich brauche deine
Hilfe.«
»Natürlich Annie! Du weißt, dass ich alles für dich
tun würde.«
»Vielen Dank. Ich bringe Fluffy jetzt direkt in
mein Büro und mache es ihm dort bequem«, sagte ich, »also steh’
bitte Schmiere. Würdest du das tun? Bewach’ diesen Empfangstresen
mit deinem Leben. Lass’ niemanden vorbei. Es ist lebenswichtig,
dass Fluffy nicht entdeckt wird! Und dass er dieses Mal nicht
entkommt, okay!«
»Okay! Krass, Annie! Du meine Güte, das ist so
aufregend. Ich fühle mich wie in dem James Bond Film - dem mit
Daniel Craig. Aber, Annie?«, fragte sie, während sie mir zu meiner
Bürotür folgte.
»Ja?«
»Was machst du mit ihm, wenn Mr. Haines mit Alexis
Collins herunterkommt?«
»Sie kommen nicht hierher, Charlotte. Ich gehe nach
oben in Georges Büro, um sie dort um drei Uhr zu treffen.«
»Ach.« Sie schien verwirrt zu sein. »Bist du dir da
ganz sicher, Annie?«
»Ja, Charlotte, bin ich.«
»Puh. Welche Erleichterung! Denn als Tamara gerade
anrief, sagte sie, er würde Alexis Collins in fünf Minuten
herunterbringen!«
Tamara war die Sekretärin von George. »Gehen sie
nicht zum Mittagessen ins Nobu?«
»Na, ja, so war es geplant, aber Tamara sagte,
Alexis hätte den Lunch in letzter Sekunde abgesagt und das Treffen
vorverlegt. Offensichtlich war sie gestern bei ihrer
Craniosacral-Therapeutin im Oriental Mandarin Spa, die Alexis
sagte, dass sie allergisch auf Fisch und Meeresfrüchte sei. Alexis
meine ich, nicht die Craniosacral-Therapeutin.«
»Oh, mein Gott! Wann, sagtest du, wollten sie
hierher herunterkommen?«
»Also, Tamara sagte, in fünf Minuten. Aber das ist
mindestens - wie viele? - zehn Minuten her.«
»Scheiße!«
Panik erfasste mich.
Charlotte biss sich auf die Lippen. »Oh, Annie!
Wirst du schrecklichen Ärger bekommen? Darf ich dir irgendwie
helfen?«
»Du darfst. Du kannst. Falls du ein Gewehr hast,
erschieße mich. Dann muss es George später nicht mehr tun. Pass
auf, wo ist Eva?«
»Sie ist noch beim Mittagessen. Sie sagte, dass sie
in einer halben Stunde zurück sein würde. Aber, oh Gott, ich kann
mich nicht mehr genau erinnern, wann sie gegangen ist.«
In der Zwischenzeit wurde Fluffy ungeduldig. Sein
Ausflug ins Natural History Museum und sein Aufenthalt bei der
Polizei schienen ihm neue Energie gegeben zu haben, anstatt ihn zu
ermüden. In seinen Augen funkelte es wild, und er zog verspielt
amVersace-Ledergürtel, den ich als provisorische Leine mit zur
Polizeistation genommen hatte.
Ich befahl ihm, sich auf meinen Büroboden zu
setzen, und sagte ihm, dass er unter keinen Umständen bellen dürfe.
Nachdem ich meinen Schreibtisch durchwühlt hatte, zog ich drei
Kekse und eine Tüte ziemlich alter Malteser heraus.
Er sprang auf, aber ich gab sie ihm jetzt noch
nicht. Ich wollte sie aufheben, um ihn ruhigzustellen, wenn George
und Alexis kamen.
Ich wollte gerade Tamara anrufen und vorschlagen,
das Treffen zurück in Georges Büro zu verlegen, als ich seine
dröhnende Stimme von der Rezeption her hörte.
»Und hier geht es zu unserer
Personal-Shopping-Abteilung. Diese junge Dame ist, ähm...«
»Ich bin Charlotte. Die Empfangsdame.Wie geht es
Ihnen? Haben Sie einen schönen Tag?«
Ich stellte die Packung Malteser auf den Boden.
Fluffy konnte sein Glück kaum fassen. Als er sich auf sie stürzte,
ging ich in den Flur hinaus und kam gerade rechtzeitig, um zu
sehen, wie Charlotte vor einer Frau knickste,
die dünn wie ein Skelett und von unbestimmbarem Alter war.
Sie trug eine lange kastanienfarbene Perücke und
eine riesige weißrandige Sonnenbrille. Das war sie also, die
berühmte Alexis Collins, die Stil-Ikone der NewYorker Upper East
Side, die sich immer von Kopf bis Fuß in Chanel kleidete.
Ihrem Ruf entsprechend trug sie heute limettengrüne
Chanel-Schuhe, blickdichte schwarz-gemusterte Chanel-Strümpfe und
das schwarz-weiße, geschlitzte Chanel-Kostüm aus der neuen Saison,
darunter eine orangefarbene Bluse. Ihre limettengrüne Handtasche
war auch aus der aktuellen Chanel-Kollektion und ihre Ringe, ihre
Halskette und ihre Ohrringe waren ebenfalls mit dem doppelten C,
dem Markenzeichen des Unternehmens, geschmückt. Ich war überrascht,
dass sie es sich nicht auf ihre Stirn hatte tätowieren lassen -
einem schmalen, ausdruckslosen, mit Botox aufgespritzten Rechteck.
Das zog sich von den zu stark gezupften Augenbrauen zum unteren
Ende ihres Ponys, und war neben den Lippen der einzige sichtbare
Teil ihres Gesichtes.
»So entzückende englische Umgangsformen!«, sprach
sie in einem affektierten Tonfall. »Und Ihr wunderbarer Hautton -
wie der einer englischen Rose!«
»Vielen Dank«, gab Charlotte ebenso affektiert
zurück, und zeigte dann, was sie drauf hatte. »Meine Mutter hat
mich gelehrt, mein Gesicht immer mit Regenwasser zu waschen, und
ich mache es immer noch. Sie sagt, es macht die Haut weich.«
»Aber ist Regenwasser nicht giftig?«
Charlotte runzelte die Stirn. »Ich denke nicht.
Zumindest nicht das Regenwasser auf unserem Anwesen in Shropshire,
wo Mummy es sammelt. Sie lässt den Chauffeur immer eine Flasche
davon nach London bringen, wenn wir hier sind.«
»Das ist so originell und so britisch, nicht wahr
George, Liiiebling?«
»Durchaus. Ah, Annie!«
Erleichtert hatte George mich an meiner Bürotür
erspäht, durch die ich dem gleichmäßigen Knirschen lauschte, das
die Malteser zwischen den haifischähnlichen, scharfen Zähnen
erzeugten.
»Kommen Sie und begrüßen Sie Alexis!«
Ich setzte ein heiteres Lächeln auf, das aber nicht
im Mindesten meinen Gefühlen entsprach, ging zur Rezeption und
überließ George die Vorstellung.
»Eigentlich wollte ich gerade nach oben gehen und
Sie in Ihrem Büro treffen, Mr. Haines«, sagte ich. »Ich habe eine
wundervolle Auswahl zusammengestellt, um sie Miss Collins zu
präsentieren. Ich würde sie mit nach oben bringen. Ich bin sicher,
dort wäre es für Sie beide weitaus bequemer.«
»Auf gar keinen Fall!« Alexis warf einen Blick auf
unseren Empfangsbereich mit seinen luxuriösen, modernen Sofas und
dem tiefen Teppichflor.
»Es macht mir nichts aus, wenn es etwas rauer
zugeht.«
»Alexis wollte auf die Shop-Etagen herunterkommen,
nicht wahr«, sagte George und gab ihr einen väterlichen Klaps auf
den Rücken.
Ihre mit Rouge Noire geschminkten Lippen lächelten
unterhalb der Sonnenbrille. »Sehen Sie, Annie, ich möchte das Leben
hinter den Kulissen - in den Kohlegruben sozusagen - kennen lernen.
Man kann heute nicht den Finger am Puls des Zeitgeists
haben, wenn man in einem Elfenbeinturm lebt, oder?«
»Nein, ich schätze, das kann man nicht«, antwortete
ich.
Ich wollte darauf hinweisen, dass man unsere ganz
in weiß gehaltenen Personal-Shopping-Suiten kaum als Kohlegruben
bezeichnen konnte, aber ich beschränkte mich darauf zu sagen: »Also
ich habe unsere innovativsten Designs herausgesucht, um sie Ihnen
zu zeigen. Und es wäre überhaupt kein Aufwand für mich, sie nach
oben zu bringen.«
»Wie ich schon sagte, ist es hier durchaus in
Ordnung. Bitte setzen Sie sich, Alexis«, sagte George.
»Wäre eine unserer Umkleidesuiten für die
Präsentation nicht besser geeignet?«, sagte ich schnell. »Es wäre
privater.«
»Alles ist bestens so«, antwortete Alexis. »Wir
brauchen keine Privatsphäre. Immerhin werden wir nicht ficken, oder
George? Wir werden uns nur Kleidung ansehen.«
Zutiefst erschüttert versuchte George zu lachen,
brachte aber nicht einmal ein Lächeln zustande. »Ähm, darf ich
Ihnen Champagner anbieten,Alexis?«
Die »Perücke auf dem Chanel-Stock« setzte sich und
überschlug ihre Beine.
»Mein Lieber, ich rühre nie Alkohol an. Nur
Wasser.«
»Perrier? Ich glaube, wir haben auch Buxton, nicht
wahr, Annie? Mit oder ohne?«
Alexis schüttelte sich.
»Nein, nein! Wie die Mutter dieser charmanten
jungen Dame reise ich immer mit meinem eigenen Vorrat.«
Sie lächelte Charlotte an.
»Glauben Sie, dass Sie ein leeres Glas für mich
finden? Falls möglich, steril.«
»Steril? Natürlich!«
Während Charlotte ging, um ein sauberes Glas zu
holen, tauchte Alexis in ihre Tasche ab und brachte eine kleine
dunkelblaue Flasche zum Vorschein.
»Sehen Sie das, George? Das ist Wasser von einem
Eisberg in Grönland. Es ist über einhunderttausend Jahre
alt.«
»Ach was!«
»Es ist älter als die Menschheit und daher
unberührt von jeder Art Umweltverschmutzung. Es ist die reinste
Substanz dieser Erde! Reinheit in einer Flasche. Tropfen für
Tropfen kostet es mehr als Château Margaux.«
»In diesem Fall würde ich den Bordeaux
vorziehen.«
»Glauben Sie mir, dieses eau ist jeden Cent
wert - und es kostet verdammt viele davon. Sie sollten es wirklich
kosten. Ich sage Ihnen, es hat mein Leben verändert. Ich bringe es
aus den Staaten mit. Das ist die letzte Flasche, die ich noch habe.
Weiß Gott, was ich tue, wenn ich sie getrunken habe.Verdursten,
vermute ich.«
George nickte. »Faszinierend! Ähm, vielleicht
könnten Sie uns zeigen, was Sie ausgesucht haben, Annie? Oh - was
ist das für ein Geräusch?«
Ein schrecklicher Krach war jetzt aus meinem Büro
zu hören.
»Nur das Reinigungspersonal«, sagte ich schnell. Oh
Gott, was machte Fluffy da kaputt?
»Sie säubern den Boden in meinem Büro. Soll ich
ihnen sagen, dass sie aufhören sollen?«
»Nein, nein. Ich war nur neugierig.«
»Es würde keine Sekunde dauern, wirklich.«
»Machen Sie sich keine Umstände, Annie.« George
schlug sich auf die Schenkel. »Bringen Sie nur endlich diese
wunderbar innovativen Designs.«
Als Charlotte mit einem Glas geschmolzenes
Eisbergwasser für Alexis zurückkam, hastete ich in den Lagerraum
und holte den Ständer mit den Kleidungsstücken, die Eva und ich am
Vortag ausgesucht hatten. Dazu gehörten ein bodenlanges
Futteralkleid von Marios Schwab aus Jersey, farbenfrohe Gehröcke
von Duro Olowu und ärmellose Giles-Deacon-Jacken mit
Schulterpolstern, die aussahen, als gehörten sie zu einem
Sci-Fi-Film - genau die Art von Kleidung, von der wir dachten, dass
sie auf den Webseiten von Zine gut aussehen würde.
Als ich mit dem Ständer zurückkam, stand eine Frau
im Empfangsbereich. Sie hatte sich bereits bei George als eine
meiner Kundinnen vorgestellt, und Alexis Collins sah sie entsetzt
an.
Es war Marion Barclay. Sie war so nervös, pünktlich
zu ihrem wichtigen Vorstellungsgespräch zu kommen, dass sie zehn
Minuten zu früh zu ihrem Termin erschienen war. Sie trug eine wenig
schmeichelhafte, alte Jeans, eine schäbige braune Fleecejacke und
Turnschuhe. Unter den Arm hatte sie eine Tesco-Plastiktüte
geklemmt, in der ihre guten Schuhe waren.
Genau in diesem Augenblick kam Eva von ihrer
Mittagspause zurück, so dass ich sie bei George und Alexis Collins
lassen konnte, während ich Mrs. Barclay helfen würde, sich
anzukleiden.
»Sehen Sie mich an! Ich sehe richtig alt und
grässlich aus!«, sagte Marion Barclay, als wir zu meinem Büro
gingen, um ihr Outfit zu holen.
»Ich war so in Eile, mein Haus zu verlassen, dass
ich mir einfach nur die erstbesten Klamotten übergeworfen habe, die
mir zwischen die Finger kamen.«
Sie zog an ihrem Fleece. »Das Ding gehört meinem
Mann. Nicht gerade schick!«
»Wir werden Sie bald für Ihr Vorstellungsgespräch
geschniegelt und gestriegelt haben!«, sagte ich zu ihr. »Ich hole
nur kurz Ihre Sachen.«
Ohne nachzudenken öffnete ich meine Bürotür und
griff nach dem Kleidersack, der auf der Rückseite hing. Im selben
Moment sprang Fluffy heraus.
Aufgeputscht durch einen Zuckerschub galoppierte er
quer durch den Empfangsbereich. Ich ließ Marion Barclay stehen, wo
sie war, und rannte hinterher.
»Was zum Teufel...«, brüllte George, als Fluffy auf
das Sofa sprang, über seine Beine trampelte, sich auf Alexis
Collins warf und dabei ihr Glas mit dem hunderttausend Jahre alten
Wasser über ihr verschüttete. Er spreizte ihr die Beine
auseinander, steckte seine Nase in den Schritt ihres Rocks und
leckte den flüssigen Eisberg auf.
»Mein Wasser!«, kreischte Alexis, als ich Fluffys
Halsband packen wollte.
Aber er war zu schnell für mich. Er sprang vom Sofa
und verschwand im Geschäft. Ohne mich mit einer Erklärung
aufzuhalten - was sollte ich schon sagen? -, folgte ich ihm die
Rolltreppe hinunter, drückte mich an überraschten Kunden vorbei und
verfolgte ihn in den ersten Stock.
»Bitte entschuldigen Sie! Stop, Fluffy!
Entschuldigung, Madam! Komm’ sofort hierher zurück!«
Da er wusste, dass ich hinter ihm her war, und er
nicht die Absicht hatte, sich fangen zu lassen, scherte Fluffy
plötzlich in den Burberry Shop aus, warf eine der
Schaufensterpuppen um, die nach der neuesten Mode gekleidet waren -
mit einem kurzen braunen Kaschmirmantel und hautengen
bronzefarbenen Leggins - und brachte die anderen vier, die auf
demselben Podest standen, wie Dominosteine zum Umstürzen. Ich
versuchte, sie aufzustellen, aber sie fielen immer wieder um. Also
überließ ich sie den Verkäuferinnen, die herbeigelaufen waren, um
zu sehen, was passiert war.
»Muss gehen! Da ist ein freilaufendes wildes
Tier!«, sagte ich ihnen, als ich Fluffys Schwanz durch einen Bogen
in den Liftbereich verschwinden sah.
Ich kam dort gerade rechtzeitig an, um zu sehen,
wie sich die Türen einer der Fahrstühle schlossen. Durch die lauten
Stimmen und dem Gekreische, das von drinnen kam, wusste ich, dass
er im Lift war. Ich beobachtete die Digitalanzeige: Der Lift fuhr
ins Erdgeschoss und dann ins Untergeschoss. Anstatt den nächsten
Aufzug abzuwarten, raste ich zu den Personaltreppen und polterte
sie hinunter.
Ich rannte in die Männerabteilung im Tiefparterre.
Ich
musste nicht nach Fluffy suchen, denn durch den Aufruhr, der aus
dem italienischen Cafe des Geschäfts kam, konnte ich hören, wo er
war. Ich bahnte mir meinen Weg durch die Milchglastüren in den
luftigen Raum mit den minimalistisch weißen Leinentischtüchern und
den blassgrünen Stühlen.
Die erstarrten Gesichter der Gäste und des
Oberkellners sahen zur Küche, die in einer Box in der Mitte des
Raumes platziert war. Der normalerweise spektakuläre Anblick der
weiß gekleideten Köche durch die Glasscheiben, die wie Sklaven über
ihren überdimensionalen Edelstahlherden schufteten, wurde heute von
dem noch spektakuläreren Anblick meines Hundes in den Schatten
gestellt. Mit wedelndem Schwanz stand er auf einem der Tresen und
hatte seine Zähne in einer Keule Parmaschinken vergraben.
Ich holte tief Luft und drückte die Schwingtüren
zur Küche auf. Die Serie von Flüchen, die Carlo, der Küchenchef,
der neben Fluffy stand und mit einem Tranchiermesser
herumfuchtelte, ausstieß, ließ mich fast taub werden. Mit meinen
Ellbogen bahnte ich mir einen Weg durch die Schar des schreienden,
weiß gekleideten Küchenpersonals, das sich um ihn herum versammelt
hatte. Ich griff Fluffy beim Halsband, löste mit Gewalt den
Parmaschinken aus seinen Zähnen, und hob ihn dann hoch in meine
Arme.
Alle wurden still. Carlo starrte mich an, als ich
lächelte und sagte: »Gut, dass Sie ihn gefunden haben!«
Alle Augen folgten mir, als ich ihn zur Tür trug.
Mit gesenktem Kopf ging ich durch das Restaurant, in dem jetzt
Totenstille herrschte. Fluffy zappelte in meinen Armen und leckte
sich demonstrativ die Lippen.
Ich trug ihn immer noch - er würde nicht mehr
entkommen, wenn ich es irgendwie verhindern konnte -, nahm den
Kundenlift in den zweiten Stock und ging langsam zurück in die
Personal-Shopping-Abteilung. Das Herz war mir in meine schwarze
Wildlederstiefeletten gerutscht. Ich wusste, dass ich mich
irgendwann George stellen musste, also konnte es genauso gut jetzt
sein. Ich hatte sicher ein paar Dinge zu erklären.
Aber George war nicht an meinen Erklärungen
interessiert. Er war zu sehr damit beschäftigt, Alexis Collins
wegen ihres ruinierten Kostüms zu beruhigen, ganz zu Schweigen von
Marion Barclay, die blass und den Tränen nahe an der Rezeption
stand und immer noch den Fleece ihres Mannes und ihre Jeans
trug.Als ich näher kam, wurden sie verdächtig still - selbst Eva,
die ihre Hand auf Marion Barclays Schulter gelegt hatte.
Mrs. Barclay sah mich so finster an, als wollte sie
mich umbringen. Der Sturm, den Georges Mimik ausdrückte, steigerte
sich zu einem Tornado.
Die Einzige, die ein wenig mitfühlend aussah, war
Charlotte. Von ihrem Posten hinter der Theke lächelte sie mir
schwach zu und biss sich dann auf ihre Unterlippe.
»Was ist los?«, fragte ich kraftlos. Als ob das
nicht offensichtlich wäre!
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Eva zeigte
mit dem Kinn auf mein Büro, und als ich mich, noch immer mit Fluffy
auf meinem Arm, dorthin schleppte, erinnerte ich mich an die lauten
Geräusche, die vorher zu hören gewesen waren. Es seien die
Putzleute, hatte ich George und Alexis erzählt. Aber was hatte
Fluffy getan?
Ich öffnete die Tür. Mrs. Barclays Armani-Kostüm
lag zerknüllt auf dem Fußboden, die eine Hälfte innerhalb, die
andere Hälfte außerhalb der Plastikschutzhülle. Der Rock war
zerfetzt, und der Blazer war voll mit halb verdauten Maltesern. Von
der Burberry-Bluse hatten nur ein Ärmel, fünf Knöpfe und der Kragen
überlebt.
Das Outfit für das Bewerbungsgespräch war
ruiniert.
Wie meine Karriere.