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Es war Weihnachten und zum ersten Mal seit
Jahren feierte ich nicht im Workhouse. Die Wohnung war an einen
Großstadttypen verkauft worden, der seinen Job in der
Hypothekenkrise verloren hatte, sich selbst
in den Miesen befand und gezwungen war, sich von seinem Penthouse
mitten in Clerkenwell zu verkleinern auf das, was im Endeffekt die
hinteren Straßen von Islington waren.
»Der arme Kerl ist unten auf seiner letzten
Million!«, hatte mein Vater bemerkt, als er sein Angebot gemacht
hatte.
»Mein Herz blutet für ihn! Es ist genauso wie in
früheren Zeiten, nicht wahr, Liebes? Wenn man arbeitslos wurde,
ging es direkt ins Workhouse.«
Der Immobilienmakler, der mit der Abwicklung des
Verkaufs beauftragt war, hatte gesagt, dass Mark und ich Glück
gehabt hatten, so schnell einen Käufer zu finden, selbst wenn er
wesentlich weniger als den geforderten Preis geboten hatte.
Um nicht eine so niedrige Summe akzeptieren zu
müssen, hatte Dad angeboten, Marks Anteil zu kaufen und die Wohnung
zu vermieten, bis ich wieder in der Lage war, sie mir zu leisten.
Aber es gab Gründe, warum ich seine Großzügigkeit nicht annehmen
konnte. Zuerst brauchte ich das Kapital, um die immensen Gerichts-
und Anwaltskosten zu bezahlen, auf denen ich nun saß, ganz
abgesehen von meiner Strafe wegen Meineids. Wegen einer Lücke im
Zeitplan des Gerichts hatte mein Prozess unmittelbar nach meiner
Scheidung stattgefunden. Und ich musste Mark auch seinen Anteil an
unserem gemeinsamen Vermögen geben.
Außerdem wollte ich meine alte Wohnung nie wieder
sehen. Der Ort, an dem ich einmal so glücklich gewesen war, hielt
jetzt nichts als schmerzvolle Erinnerungen für mich bereit.
Infolgedessen waren meine Möbel, zusammen mit den
meisten meiner persönlichen Sachen,jetzt zur Aufbewahrung in einem
Lagerhaus in der Nähe einer Straßenbrücke irgendwo an der North
Circular Road, und seitdem ich am Anfang des Monats aus dem
Gefängnis gekommen war, war ich buchstäblich obdachlos.
Nicht dass ich litt. Seit ich entlassen worden war,
wohnte ich bei Dad in Hampstead Garden Suburb. In der Vergangenheit
hatte ich die Größe und den Luxus unseres freistehenden Hauses im
nachgebildeten georgianischen Stil, mit seiner getäfelten
Eingangshalle, der ausladenden Treppe und den geräumigen
Empfangsräumen für selbstverständlich gehalten. Das Wohnzimmer mit
den strahlenden Kronleuchtern, die Chesterfield-Sofas mit den
Knöpfen, das gemütliche Fernsehzimmer mit seinen bequemen, weich
gepolsterten Sofas und den Bücherregalen, und das konventionelle
Esszimmer, das von einem auf Hochglanz polierten ovalen Tisch im
Regency-Stil und zehn Esstischstühlen dominiert wurde. Stühle, auf
denen kaum jemand saß, weil Dad und ich unser Essen in der
Vergangenheit in der sonnigen Küche oder im Fernsehzimmer
eingenommen hatten - unsere strumpfsockigen Füße lagen
einvernehmlich Seite an Seite auf dem Couchtisch, und unsere Teller
balancierten wir auf unseren Schößen.
Aber nachdem ich eine zehnwöchige Gefängnisstrafe
abgesessen hatte, sah ich mein altes Zuhause aus einer völlig
anderen Perspektive. Im Gefängnis verbrachte ich die meiste Zeit in
einer winzigen überhitzten Zelle, in der ich alle vier Wände auf
einmal berühren konnte, wenn ich auf dem schmalen Bett lag, und
mein Blick auf die
Außenwelt hatte aus einem kleinen Stück Sportplatz bestanden,
gesehen durch das verstärkte Glas eines kleinen vergitterten
Fensters.
Selbst Vlads Dachgeschoss war im Vergleich dazu
riesig, und das Haus meines Vaters wirkte nun wie das Schloss von
Versailles. Ich konnte mich frei auf einer Fläche bewegen, die mir
wie ein ganzer Morgen Land vorkam, und ich hatte uneingeschränkte
Freiheit, das zu tun, wozu ich Lust hatte, wann immer ich Lust dazu
hatte. Es gab niemanden, der mir sagte, wann ich aufzustehen oder
ins Bett zu gehen hatte.Wenn mir danach war, konnte ich mich den
ganzen Tag in meinem Bett lümmeln und lesen oder fernsehen. Ich
konnte im Luxus schwelgen und stundenlang in einem heißen, von
Schaum übersprudelnden Bad liegen. Ich konnte selbst dieTür öffnen
anstatt auf den Gefängniswärter zu warten, damit er mich
herausließ. Ich konnte nur so zum Spaß die Treppen auf und ab
rennen, in die Küche gehen und den gut gefüllten Kühlschrank
plündern, wenn ich hungrig war und sogar dann, wenn ich es nicht
war. Das Beste von allem war vermutlich, dass ich zu jeder Tages-
und Nachtzeit in den gepflegten Garten gehen und die kalte,
knisternde, frische Luft atmen konnte.
»Du kannst hier so lange bleiben wie du willst,
Liebes«, hatte Dad gesagt, nachdem er mich vor vierzehn Tagen aus
dem Gefängnis abgeholt und zurückgebracht hatte.
»Es ist immer noch dein Zuhause, und das wird es
auch immer sein.«
Dad war mir seit der Gerichtsverhandlung und in
meinem nachfolgenden kurzen Prozess wegen Meineids eine absolute
Stütze gewesen. Aber egal wie luxuriös - sein
Haus war nicht mehr mein Zuhause. Ich gehörte nicht mehr hierher.
Ich gehörte nirgendwo hin. Die Scheidung und mein
Gefängnisaufenthalt hatten mich verändert.
Ich hatte mich der Anklage wegen Meineids schuldig
bekannt, und die Anwälte, die mein Vater engagiert hatte, um mich
zu vertreten, hatten mich gewarnt, dass ich in den Knast geschickt
werden könnte.Aber selbst als ich von der Anklagebank weg in die
Zelle eskortiert worden war, um auf den Transport zu warten, kam
mir die Tatsache, dass ich ins Gefängnis gehen würde, unwirklich
vor. Ich hatte gedacht, dass, wie in so vielen amerikanischen
Filmen, jede Minute ein freundlicher Polizist oder Rechtsanwalt -
Atticus Finch in Wer die Nachtigall stört vielleicht - die
Zellentür öffnen und mir sagen würde, dass alles ein großer Irrtum
gewesen war, und dass ich frei wäre und nach Hause gehen
könnte.Weil ich, ehemals Annie Curtis, jetzt wieder Annie Osborne,
einfach nicht die Sorte Mensch war, die ins Gefängnis ging, oder?
Ich war keine Kriminelle! Ich war eine hart arbeitende,
gesetzestreue Modellbürgerin. Ich hatte keine alten Damen
aufgemischt, oder war mit einem geklauten Auto in eine
Warteschlange an einer Bushaltestelle gekracht, oder hatte eine
Bank mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt. Ich war einfach ziemlich
dämlich gewesen, als es um meine Scheidung ging.
»Wie lange hast du gekriegt?« Die Stadtstreicherin
neben mir hob ihren schmutzigen Rock und kratzte sich an einem
fleckigen Oberschenkel.
Ich schluckte schwer. »Sechs Monate.«
Sie lachte und zeigte dabei mehr Lücken in ihrem
Mund als Zähne. »Das ist keine Verurteilung, das ist ein
Kinderspiel!«, sagte sie. »Dein AET wird in circa drei Monaten
sein, also bist du mit ein bisschen Glück zu Weihnachten
draußen.«
Ich hatte keine Ahnung, dass AET mein Automatischer
Entlassungstermin war und als sie sprach, roch ihr Atem so übel,
dass ich nicht nachfragen wollte. Ich hatte eine vollkommen neue
Welt mit ihren eigenen Regeln, ihrem eigenen Vokabular und ihren
eigenen Abkürzungen betreten, und es würde bis zum Ende meiner
Strafe dauern, um damit klarzukommen.
Ich fühlte mich wie betäubt, während ich wartete.
Wir beide warteten. Mir war übel und ich bat, mich auf die Toilette
gehen zu lassen, aber niemand ließ mich in der folgenden halben
Stunde heraus. Als es endlich eine Polizistin tat, begleitete sie
mich nicht nur zu den Toilettenräumen, sondern ging mit mir hinein.
Als ich auf dem Klo saß und mich vor Bauchkrämpfen krümmte, wusste
ich nicht, wer mir mehr leid tun sollte, ich oder sie?
Zurück in der Zelle mit drei anderen weiblichen
Gefangenen wartete ich wieder. Schließlich öffneten sich die Türen,
und wir wurden alle hinausgeführt. Aber anstatt mit einer
Entschuldigung nach Hause geschickt zu werden, wurden mir
Handschellen angelegt, und dann wurde ich nach oben in einen dieser
großen weißen Gefangenentransporter abgeführt, die man oft,
verfolgt von knipsenden Paparazzis, in den Nachrichten sehen kann.
Ich hatte mich immer gefragt, wie sie von innen aussehen, und was
die Menschen hinter den geschwärzten Fenstern dachten. Nun war ich
es, die eingesperrt war in eine
winzige Stahlzelle, die nach Urin stank. Ich saß auf einem
Plastikstuhl, und mein Blick auf die Außenwelt wurde von Tränen
getrübt. Und die ganze Zeit über dachte ich: »Das hier passiert
nicht wirklich!«
Wir erreichten etwas, das aussah wie ein
mittelalterliches Pförtnerhaus vor einem hässlichen modernen
Gebäude, durchlöchert von vergitterten Fenstern. Auf dem Schild an
der Außenseite stand »Highridge Gefängnis«, und ich begriff, dass
es tatsächlich passierte, und zwar mir, und dass nichts und niemand
es verhindern könnte. Ich wurde in einen Raum gebracht und all der
Sachen beraubt, die mir so wichtig waren: meines BlackBerrys mit
dem Bildschirmschoner von Fluffy, meiner Dolce & Gabbana-Uhr,
meiner Downtown-Tasche, meines Muts und meiner Würde. Alles außer
den beiden Letzteren wurde in Plastiktüten versiegelt, die mir, wie
ich informiert wurde, am Ende meiner Haftstrafe zurückgegeben
werden würden.
Ich war durch meine Arbeit daran gewöhnt, andere
Menschen in den Umkleideräumen fast nackt zu sehen, aber jetzt
wurde ich aufgefordert, in einer kleinen Kabine meine ganze
Kleidung abzulegen. Nachdem ich einen Tag lang in nervöser
Anspannung herumgesessen hatte, war ich schmuddelig und
verschwitzt. Ich fühlte mich schrecklich entblößt, selbst in dem
grauen Baumwollkittel, den sie mir gaben.
»Hübsch«, sagte die Gefangenenwärterin mit einem
harten Gesichtsausdruck, als sie mir den feinen weißen
Spitzenbüstenhalter, den ich getragen hatte, wegnahm und
untersuchte. Dann fügte sie mit Genugtuung hinzu: »Den können Sie
nicht behalten.«
»Aber es ist mein Büstenhalter!«, protestierte ich
und bedeckte meine bloßen Brüste mit meinen Händen.
Sie musterte mich langsam von unten nach oben. »Er
hat einen Bügel«, sagte sie.
»Und?«
»Das macht ihn zu einer potenziellen Gefahr - für
Sie selbst und auch für die anderen Insassen.«
»Nein, das macht ihn zur besten Sorte von
Büstenhaltern, um meiner Brust die richtige Stütze zu geben«,
antwortete ich angesichts der Gefahr, ihn zu verlieren.
»Was glauben Sie, dass ich damit machen werde? Die
Bügel herausnehmen und jemanden damit erstechen? Oder daraus eine
Schlinge basteln und mich daran erhängen?«
Ihre Nasenlöcher bebten. Sie hatte meine Masche
durchschaut, die bei ihr überhaupt nicht gut ankam.
»Gewalt und Selbstzerstörung sind zwei der größeren
Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben, Osborne«, schnauzte
sie mich an.
»Also, wenn Sie versucht sind, sich umzubringen,
dann empfehle ich Sie für die 24-Stunden-Überwachung für
Suizidgefährdete. Okay?«
Ich biss mir auf die Zunge, und sie wandte sich
wieder mit absoluter Aufmerksamkeit der Untersuchung des BHs
zu.
»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie den hier
behalten können. Sie lassen uns die Bügel herausschneiden.«
»Haben Sie das Etikett gesehen?«, keuchte ich. »Das
ist ein Rigby & Peller! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie
viel er kostet?«
Ich wurde angewiesen, in einer offenen Kabine zu
dusehen,
in der Haare den Ausguss verstopften. Ich seifte mich gründlich
mit einem Duschgel ein, das nach Toilettenreiniger roch. Als ich
mich mit dem Handtuch abgetrocknet hatte, das man mir gegeben
hatte, fühlte ich mich so schmuddelig wie vorher. Ohne meinen
Büstenhalter, aber wieder in der weißen Bluse und der schwarzen
Hose, die ich heute Morgen im Gericht getragen hatte, wurde ich in
den Aufnahmeraum gebracht. Man nannte mir meine Gefangenennummer,
die ich sofort vergaß, und schickte mich zu einer Krankenschwester,
die mich fragte, ob ich irgendwelche Medikamente nahm und ob ich
jemals Suizidgedanken gehabt hatte. Bis jetzt nicht, wollte ich
sagen.
Klirrende Tore. Verschlossene Türen. Eine alte Frau
schlurfte in Hausschuhen vorbei und fluchte im Flüsterton. Ein
Schwall wütender Stimmen hallte einen mit Leuchtstoffröhren
beleuchteten Flur herab. Liedfetzen des Rappers Jay-Z kamen durch
eine offene Tür -»Show Me What You Got«.
Scharen von ernsten Frauen drängelten sich grob
vorbei oder starrten mich an, als ob sie meine Angst riechen
konnten: Ein unbeschreiblicher, Übelkeit erregender süßsaurer
Geruch hing in der Luft - irgendwas zwischen gebrauchten Tampons,
Erbrochenem, und einem Gemisch aus Dosentomaten, abgeknabberten
Knochen, Kartoffelpüree aus der Tüte und gebackenen Bohnen, das
meine Grundschule zu unseren widerlichen Essen aufgetischt hatte.
Ich versuchte, locker damit umzugehen, aber ich konnte mir nicht
helfen, ich musste vor Abscheu würgen.
Ich wollte den Flur zurücklaufen, mit meinen
Fäusten an die Gefängnistore schlagen und kreischen: »Ich schwöre,
dass ich in Zukunft gut sein werde! Lasst mich jetzt nur hier
heraus!«
Die beiden Stunden, die ich bisher in Highridge
verbracht hatte, fühlten sich an wie eine qualvolle Ewigkeit. Wie
sollte ich es ertragen, hier meine ganze Strafe abzusitzen?
Ich würde die ganze Zeit in meiner Zelle bleiben,
entschied ich, als ich in einen überhitzten Kasten geführt wurde,
der so eng war, dass ich meine Handflächen an die gegenüberliegende
Wand legen konnte, wenn ich meine Arme ausstreckte. Ein kleiner
Tisch, ein Plastikstuhl und, versteckt hinter einer halbhohen
Scheibe gleich neben dem schmalen Bett, das piéce de
réistance, mein eigenes ensuite Badezimmer: ein gesprungenes
Waschbecken und eine stinkende Toilette mit einem gebrochenen
Deckel.
Ich setzte mich auf den Rand des Betts, zog meinen
Blazer aus und hängte ihn über den Rücken des Stuhls. Da es sonst
nichts zu tun gab, starrte ich dumpf auf die blassgrünen Wände. Ich
dachte an meine ruinierte Ehe, ich dachte an mein ruiniertes Leben,
und ich dachte - das Schmerzhafteste von allem - an das, was Mark
und ich, gänzlich dämlich, Fluffy im Namen der Liebe angetan
hatten. Ich wurde überwältigt von der Trauer über den Verlust und
Schuldgefühlen.
Ein paar Minuten später erschien eine junge Frau in
den Zwanzigern in der Tür, sagte mir, dass ihr NameTanya sei und
dass man sie gebeten habe, mich herumzuführen, bevor wir für die
Nacht eingesperrt werden würden. Sie
führte mich den Flur hinunter, und als ich fünf Minuten später
zurückkam, war mein Blazer verschwunden.
Das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Ich
war so wütend, dass ich kurz davor war, den Diebstahl einer der
Gefängniswärterinnen zu melden, doch Tanya hielt mich am Arm
fest.
»Nicht«, warnte sie mich. »Dein Leben wäre die
Hölle, Liebes. Glaub’ mir, es gibt nur einen Weg, hier drinnen zu
überleben: Halt’ deinen Mund, hab’ Augen im Hinterkopf und fall’
nicht auf!«