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Eine Woche später, an einem
Freitagnachmittag, saß ich wieder im Büro von Mr.Williams. Es war
so heiß und stickig, dass er das große Schiebefenster aufgerissen
hatte und, nach wortreichen Entschuldigungen, sich aus seinem
dunkelgrauen Jackett geschält und es über die Rückenlehne seines
Stuhls gehängt hatte.
»Darf ich?«, fragte er jetzt und griff nach der
dunkelblauen Krawatte.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte ich. »Ziehen
Sie meinetwegen alles aus.«
»Ha! Ich glaube nicht, dass ich so weit gehen
würde.«
Nachdem er den Krawattenknoten gelöst hatte, nahm
er ein gefaltetes Taschentuch, das auf seinem Tisch lag, und
wischte sich die Schweißperlen ab, die sich im verwilderten
Dickicht seiner Augenbrauen gesammelt hatten.
»Sehen Sie, ich weiß, dass wir Ihr Statement und
die möglichen Fragen durchgegangen sind, die die Anwältin Ihres
Ehemannes Ihnen nächste Woche stellen wird. Aber da gibt es etwas,
das ich Ihnen sagen muss, bevor Sie heute gehen, Mrs.
Curtis.«
»Ja? Was?«
Er holte tief Luft. »Es ist immer noch Zeit, die
ganze Sache abzublasen.«
Ich sah erstaunt auf die Gestalt, die hinter den
Papierstapeln seines Mahagonischreibtisches saß. Ich dachte schon
immer, dass er ein wenig exzentrisch war, aber war er jetzt
komplett verrückt geworden?
»Meinen Sie, meine Scheidung abzublasen, Mr.
Williams?«
Er schüttelte den Kopf und das übliche
Schneegestöber landete auf seinen Schultern.
»Nein, obwohl auch das eine Möglichkeit wäre. Ich
bezog mich auf die Gerichtsverhandlung in der nächsten
Woche.«
»Aber sie ist in - wie vielen? In nur sechs Tagen!
Ich bin gut vorbereitet, und ich dachte, Sie wären es auch.«
»Das versteht sich von selbst, Mrs. Curtis.«
So sollte es verdammt noch mal auch sein, dachte
ich, weil ich gerade seine letzte astronomische Rechnung bezahlt
hatte.
»Aber, auch wenn wir die Kante des Grand Canyon
erreicht haben, sind wir nicht verpflichtet, herunterzuspringen.
Offen gesagt, wäre es in Ihrem Interesse - und eigentlich im
Interesse jedes Scheidungspaares -, es zu vermeiden, vor Gericht zu
gehen. Viele Fälle werden in letzter Sekunde geklärt. In der Tat
werden Vereinbarungen zwischen sich bekriegenden Paaren oft auf den
Stufen des Gerichts getroffen. Wenn Sie möchten, kann ich jetzt
gleich zum Telefon greifen, mit der Anwältin Ihres Ehemannes
sprechen und vorschlagen, dass wir stattdessen eine Mediation in
letzter Sekunde versuchen.«
Ich stand auf und ging zum offenen Fenster. Ich sah
über Lincoln’s Inn Fields, wo Büroangestellte und Touristen in
Gruppen auf dem Rasen saßen.Viele von ihnen aalten sich in der
Sonne in Kleidung, die nach Unterwäsche
aussah, und aßen ihr Mittagessen. Genossen das normale Leben.Waren
sorglos. Oh, wie ich mich danach sehnte, mich wieder so zu fühlen.
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich es jemals wieder
würde. Ich konnte nicht weiter denken als bis zur
Gerichtsverhandlung am Donnerstag.
»Alternativ«, fuhr Williams fort, als ich nicht
antwortete, »könnten wir ein Treffen mit Mr. Curtis und Mrs.
Greenwood am Montag einberufen und versuchen, zu einem Kompromiss
zu kommen. Ein kleines Zugeständnis hier, eine kleine Forderung da.
Fluffy im Gegenzug für Ihren Banksy. Volles Sorgerecht für das Tier
im Austausch gegen einen geringfügig höheren Anteil an der Wohnung,
zum Beispiel.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Nennen Sie mir einen
guten Grund, warum ich einen Deal mit Mark abschließen sollte, bei
dem ich nicht das bekomme, was ich will. Und das ist Fluffy. Mark
ist derjenige, der im Unrecht ist.«
Seine Augen irrten von meinem Gesicht zum schwachen
Schatten meines Büstenhalters, den man durch die dünne Seide meiner
Derek-Lam-Bluse sah.
»Wie ich Ihnen schon vorher gesagt habe«, sagte er
zu meinem BH gewandt, »sind Sie nicht in einer eindeutigen
Situation. Sie haben gute Karten, Mrs. Curtis,...«
»Natürlich habe ich die«, unterbrach ich ihn.
Er hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu
bringen.
»Wir haben ein starkes Paket an Beweismaterialien,
das wir dem Richter nächste Woche präsentieren können.Wir können
die arbeitsscheue Einstellung Ihres Ehemannes
ausführlich beschreiben, seine wiederholte Untreue, seine
mangelnde Bereitschaft, substantielle Beiträge zu den ehelichen
Finanzen zu leisten, und so weiter und so weiter. Wir haben auch
diesen fesselnden Film.«
Er griff nach der DVD mit dem Film, den Darcie mit
ihrem Mobiltelefon gemacht hatte. »Ein Tag im Leben von Fluffy!«,
las Williams vom Etikett ab.
»Ich habe ihn mir gestern Abend angesehen. Ich
mochte besonders die Szene, in der Sie in diesem Ruderboot im Hyde
Park picknicken.«
»Oh, ja, die haben wir an einem Sonntag vor einigen
Wochen gefilmt.«
»Ich wusste gar nicht, dass Hunde Schwimmwesten
tragen müssen?«
»Darcie dachte, es würde besser aussehen, wenn er
irgendeine Art von Sicherheitsvorkehrung tragen würde. Sie wollte
nicht, dass der Richter denkt, dass ich mich nicht um Gesundheits-
und Sicherheitsbelange kümmere.«
»Ah, ja, Miss Darcie Wells. Sie scheint eine Frau
mit vielen Talenten zu sein. Ihre Aussage als Gutachterin könnte
sich, obwohl sie ein wenig ausschweifend ist, als unschätzbar
erweisen, um den Richter in Ihre Richtung zu beeinflussen. Obwohl
ich nicht sicher bin, ob der Teil über Fluffy - was war es?« Er
blätterte durch den Stoß an Dokumenten, der vor ihm lag, und nahm
Darcies Aussage. »›Seine Farb-Aura.‹ Es stand auf Seite
vier, wenn ich mich richtig erinnere. Ach, ja.«
Er rückte seine Brille zurecht und räusperte
sich.
»Als ich Fluffy und Mrs. Curtis das erste Mal
zusammen sah«, las er mit betont monotoner Stimme vor, »konnte
ich am klaren goldgelben Licht, das seinen wedelnden Schwanz umgab
und Freude und Zufriedenheit anzeigte, sehen, dass er glücklich
war. Als ich ihn jedoch neulich anstelle von Mrs. Curtis bei Mr.
Curtis’ Wohnung abgab, veränderte sich das Goldgelb auf dem Weg
dorthin definitiv in ein schmutziges Schwefelgelb, das anzeigt,
dass Fluffy durch die Trennung von Annie in einem mentalen Aufruhr
war.«
Williams sah mich an. »Ich bin nicht sicher, wie
das bei dem Richter, der nächsten Donnerstag die Verhandlung führt,
ankommen wird.«
»Warum? Wie ist er?«
»Zunächst einmal ist sie weiblich, Mrs. Curtis,
obwohl man das von ihrem Verhalten manchmal schwer ableiten kann.
Richterin Khan ist eine sehr bemerkenswerte Frau in den Fünfzigern.
Gute Figur, schönes Gesicht. Dennoch fehlt ihr das, was man für
typisch weibliche Eigenschaften hält - Liebenswürdigkeit,
Mitgefühl, Wärme, all diese Sachen. Ich fürchte, dass der Ausdruck
›altes Schlachtross< ihr nicht gerecht wird. Hinter ihrem Rücken
wird sie ›Dschingis Khan‹ genannt.«
»Das fängt ja gut an!«
»Das können Sie laut sagen. Ehrlich gesagt bin ich
mir nicht sicher, wie sie diesen Fall sehen wird. Das Problem ist,
wie ich Ihnen immer wieder erklärt habe, dass es in diesem Land
keinen juristischen Präzedenzfall für einen Sorgerechtsstreit um
ein Haustier gibt. Hunde, Katzen, zahme Krokodile - sie sind, so
weit es das Gesetz betrifft, nur Möbelstücke. Eigentum.«
»Nun, in diesem Fall wird es keinen Streit geben,
oder?
Ich meine, ich habe Fluffy mit meinem eigenen Geld von diesem
Penner gekauft, bevor mir Mark unter die Augen getreten ist. Also
ist er mein Hund. Punkt. Ich gewinne.«
»Das ist natürlich unser bestes Szenario. Dennoch
haben Sie, wie Sie selbst zugegeben haben, Fluffy nur ein paar
Tage, bevor Sie Ihren Ehemann kennen gelernt haben, gekauft. Und
während der Ehe hat Mr. Curtis mehr Zeit mit dem Hund verbracht als
Sie. Wir wissen bereits aus dem Vorverfahren, dass seine
Rechtsanwälte ihrem Fall die Tatsache zugrunde legen, dass
seine beruflichen Qualifikationen als Hundesitter...«
»Qualifikationen? Sie meinen, dass er weiß, wie er
eine Leine halten muss?«
»... dass Mr. Curtis aufgrund seines Berufes und
seiner langjährigen Rolle als primärer Versorger von Fluffy besser
geeignet ist, für Fluffy zu sorgen, als Sie. Er hat auch mehr Zeit
dazu.«
Manchmal fragte ich mich, auf welcher Seite
Williams eigentlich stand.
»Aber in letzter Zeit haben wir Fluffy geteilt,
oder nicht? Und wie Darcies DVD und ihre Aussage beweisen, kann ich
perfekt alleine für ihn sorgen, wenn ich die richtige Hilfe habe.
Fluffy ist glücklich, bei mir zu leben. Genauso glücklich und
sorglos wie er bei Mark ist.«
Aber kaum hatte ich die Worte gesagt, glaubte ich
sie selbst nicht richtig.
Williams machte eine Pause, nahm dann den
Filzstift, der auf seiner Schreibtischunterlage lag, und drehte ihn
in seinen Fingern. Er hatte sich offensichtlich dagegen
entschieden, seinen Mont Blanc zu benutzen, wenn ich da war.
»Sie können nicht beides haben, Mrs. Curtis.
Entweder bitten Sie die Richterin, Fluffys Wohlergehen - na ja,
seine Wünsche - zu berücksichtigen, so, als ob er ein Kind Ihrer
Ehe wäre. Oder Sie bitten sie, ihn nur als einen Gegenstand aus dem
ehelichen Besitz anzusehen, wie es das britische Gesetz vorsieht.
Beide Wege bieten keine Garantie, dass Richterin Khan zu Ihren
Gunsten entscheiden wird. Ehrlich gesagt wird die Entscheidung
davon abhängen, in welcher Stimmung sie gerade ist. Sie könnte eine
Entscheidung treffen, die Sie überhaupt nicht mögen würden, eine
Entscheidung, die Sie in eine schlechtere Position bringt, als Sie
sie zuvor vereinbart hatten. Ich kann Ihnen nur sagen: >in
dubiis non est agendum‹.«
»Wie bitte?«
»Wenn der Ausgang unbestimmt ist, sollte man nicht
handeln.Außerdem habe ich Sie in den vergangenen Monaten wiederholt
gewarnt, dass das Gerichtsverfahren Sie nicht nur finanziell
auszehren wird, es kann - und es wird mit Sicherheit - eine
unerfreuliche Erfahrung für beide beteiligten Seiten sein.
›Contumeliam si dices, audies<, wie Plautus es
gesagt hat.«
Seine Angewohnheit, lateinische Redewendungen zu
zitieren, schien mir nur dafür geeignet zu sein, dass ich mich
ungebildet fühlte. Und das Letzte, das ich in diesem Moment
brauchen konnte, war, mich noch schlechter zu fühlen, als ich es
sowieso schon tat.
»Bitte reden Sie Englisch,
Mr.Williams.«
»›Wenn du beleidigst, wirst du beleidigt
werden.< Mit
anderen Worten, egal welchen Schmutz wir nach Ihrem Ehemann
werfen, wird sein Rechtsbeistand bestimmt im selben Maße
zurückwerfen.«
»Ich habe nichts Falsches getan. Anders als Mark.
Warum sollte ich Angst haben?«
»Warum wohl? Na ja, wenn Sie sich absolut sicher
sind, dass Sie weitermachen wollen, bleibt mir nur noch, Sie daran
zu erinnern, Ihre Gefühle im Gericht im Zaum zu halten. Denken Sie
daran, dass Sie unter Eid stehen. Und lassen Sie sich vom Anwalt
Ihres Mannes nicht dazu verleiten, darauf loszuplappern. Halten Sie
Ihre Antworten kurz und freundlich. Und bezüglich der Frage, wie
Sie sich vor Gericht präsentieren sollen...«, seine Augen fielen
wieder auf meine halb-durchsichtige Bluse, »gepflegt, damenhaft
und...«
Ich war kurz davor, Williams daran zu erinnern, mit
wem er es zu tun hatte. Wenn es eine Sache gab, für die ich ihn
nicht brauchte, dann war es ein Rat in Kleidungsfragen. Aber genau
in diesem Moment klingelte sein Telefon.
»Was gibt es, Sarah?«, fragte er. »Ich habe ein
Klientengespräch. Oh? Ich verstehe. Ja, dann stellen Sie sie besser
durch.«
Er legte die Hand auf den Hörer und zog die
Augenbrauen hoch.
»Witzigerweise ist es Miss Wells«, sagte er. »Sie
sagte, es sei dringend. Sie können sich gerne hinsetzen, während
ich herausfinde, worum es geht.«
Ich saß. Ich hörte zu. Es war keine gute
Nachricht.