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Als die Tür von Crawley, Hurte & Williams hinter mir zugefallen war, zog ich draußen auf der Straße den Kragen meines Wintermantels hoch, um mich gegen den Spät-Januar-Wind zu schützen und sah auf der Dolce & Gabbana-Armbanduhr, die mir mein Vater zum vorletzten Geburtstag geschenkt hatte, nach der Uhrzeit. Das Ganze hatte mich bereits einen halben Nachmittag bei Haines & Hampton, dem Luxusgüter-Warenhaus, bei dem ich arbeitete, gekostet. Und ich hatte um fünf Uhr einen Termin mit einer Kundin - einer berühmten Theaterschauspielerin mit rauchiger Stimme -, die dringend ein Abendkleid brauchte für die diesjährigen BAFTA-Awards, der Verleihung der britischen ›Oscars‹. Wenn ich sofort ein Taxi fände, könnte ich es noch rechtzeitig zurück nach Chelsea schaffen.
Ich winkte ein Taxi heran und sprang hinein, aber anstatt den Fahrer zum Geschäft zu dirigieren, gab ich ihm meine private Adresse in Islington, und warf mich auf den Rücksitz. Ich konnte all dieses »Lieeebling« und »wuuunderbar« in den Umkleideräumen nicht ertragen - nicht nach dem, was Mark mir angetan hatte. Ich fühlte mich wie eine Schulweghelferin, die an einem Zebrastreifen von einer Schickimicki-Mami in einem Porsche Cayenne plattgewalzt worden war - krank, verwirrt und fassungslos ob der Ungerechtigkeit.
Nachdem ich einige Minuten in den Untiefen meines Shoppers gekramt hatte, fand ich schließlich meinen BlackBerry, und rief in der Arbeit an.
»Hallo! Haines & Hampton, Personal-Shopping-Abteilung. Mein Name ist Charlotte. Schönen Tag! Was kann ich für Sie tun?«, schnurrte die sonore Stimme unserer Rezeptionistin.
»Ich bin’s«, sagte ich kurz angebunden.
»Hallo Annie! Hier ist Charlotte.«
Anders als ich, kam Charlotte aus einer Familie aus dem Landadel. Dumm wie Bohnenstroh, überlebte sie ihre Privatschule scheinbar ohne irgendetwas anderes gelernt zu haben, als ihre Vokale so zu betonen wie Prinzessin Anne.
»Ja, ich weiß, dass du es bist, Charlotte. Du hast deinen Namen schon genannt.«
»Habe ich? Entschuldige, Annie. Was darf ich für dich tun?«
»Du >darfst< mir helfen, indem du mich bitte zu Eva durchstellst.«
»Bleib’ bitte in der Leitung, Annie. Schönen Tag!«
Ich wartete ungeduldig, dass Eva Wyrzykowski ihren Pieper beantwortete. Als Eva vor drei Jahren als Putzfrau im Geschäft anfing, sprach sie nichts anderes als ihre Muttersprache - Polnisch. Heute spricht sie fließend Englisch, passables Französisch, einzelne Worte Russisch und war überzeugend genug in Arabisch, um Bikinis an vollständig verschleierte Kundinnen aus Saudi-Arabien zu verkaufen. Sie hatte nicht nur so steil Karriere gemacht, dass sie jetzt meine bevorzugte Assistentin war, sondern hatte auch schon die Hälfte ihres Fernstudiengangs in Management an der Open University hinter sich. In dieser Zeit hatte es niemand in der Personal-Shopping-Abteilung geschafft - mich eingeschlossen -, die richtige Aussprache ihres Nachnamens zu lernen.
»Ein Moment noch, Annie, ich stelle dich jetzt zu Eva durch. Danke für deinen Anruf. Einen schönen Tag!«
Ich nahm mir vor, Charlotte zu sagen, doch bitte den amerikanischen Telefonjargon zu lassen, in dem sie seit Kurzem immer sprach. Er war nur nervig. Unsere Kundinnen waren, alles in allem, beschäftigte Menschen wie ich, die keine Geduld für diesen ganzen Unsinn hatten. Außerdem hatte ich keinen schönen Tag. Weit davon entfernt. Wie erholsam war es, als Eva sich mit einem einfachen, effizienten ›Hallo?‹ meldete.
»Eva, ich bin’s.«
»Ja, Annie?«
»Mir ist etwas dazwischengekommen. Ein Notfall. Ich muss nach Hause. Könntest du...«
»Deinen nächsten Kunden anrufen, dich entschuldigen und, wenn möglich, einen neuen Termin für morgen ausmachen?«
»Ja, es ist...«
»Fenella Marshall«, beendete sie den Satz für mich.
»Soll ich ihr sagen, dass du vermutest, eine Kehlkopfentzündung zu bekommen? Keine Schauspielerin will sich damit anstecken.«
»Du bist ein Genie, Eva! Danke!«
Als Nächstes suchte ich im Telefonbuch des BlackBerry nach der Nummer meines Vaters. Aber dann überlegte ich es mir anders, denn obwohl jetzt schon vier Wochen vergangen waren, seit Mark und ich beschlossen hatten, uns scheiden zu lassen, hatte ich noch nicht den Mut aufgebracht, es Dad zu gestehen. Stattdessen rief ich meine beste Freundin Clarissa an, aber als das Besetztzeichen kam, ließ ich es sein.
Ganz plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Ich zwang meinen Brustkorb sich zu heben und zu senken, damit meine Lungen sich weiteten. Ich werde nicht weinen, sagte ich zu mir selbst. Dieser Bastard - genau das war es, was ich jetzt über den Mann dachte, den ich bis heute Morgen noch Mark, und vor noch nicht allzu langer Zeit ›Liebling‹ genannt hatte - dieser Bastard würde mich nie wieder fertigmachen. Nie wieder.
Dann brach ich in Tränen aus. Ich, Annie Curtis, geborene Osborne, die nie wieder vor einem anderen Menschen geweint hatte, seit damals, als ich acht Jahre alt war und meine Mutter verschwand.
Der Taxifahrer sah mich in seinem Rückspiegel neugierig an. Ich nahm an, dass er kurz davor war, mir etwas Tröstendes zu sagen, also sah ich weg. Als er über die Trillionen der riesigen Fahrbahnschwellen fuhr, die die Nebenstraßen von Islington - die Gegend, in der ich lebte - in die Schweizer Alpen verwandelt hatten, riss ich mich zusammen und restaurierte mein Gesicht mit der Hilfe von Compact-Foundation und Chanel Rouge Noir und sorgte so für etwas Normalität.
Hinter meiner Sonnenbrille versteckt bezahlte ich, und anstatt wie üblich viermal kurz hintereinander am Eingang zu klingeln - so wusste Mark, dass ich kam -, schloss ich die Tür zum Wohnblock selbst auf, und stürmte wütend die drei Treppenabsätze bis zum obersten Stockwerk hinauf.Als ich bei unserer Etage ankam, hörte ich das Tippeln der Pfoten auf dem Holzfußboden. Einen Moment später sah ich den Schatten einer Hundenase am Schlitz unter unserer Eingangstüre, und nach einem kurzen, aber lauten Schnüffeln begann das übliche wilde Gebelle.
Fluffy!
Beim Gedanken, dass ich ihn verlieren könnte, wurde mir schlecht. Ich versuchte, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken, aber meine Hände zitterten so stark, dass es mir nicht gelang. Schließlich öffnete sich die Tür von innen. Wie ein Windhund, den man aus der Startklappe gelassen hatte, stürzte sich Fluffy auf mich. Durchgeknallt vor Freude - immerhin hatte er mich nicht mehr gesehen, seit ich morgens um sieben Uhr zur Arbeit weggegangen war, was für ihn bedeutete, dass ich nie mehr zurückkommen würde - sprang er plötzlich in die Luft wie ein Zirkushund, stand dann auf seinen Hinterbeinen und kratzte anschließend mit seinen Vorderpfoten an meinen Mantelknöpfen. Ein wuscheliges Ohr nach oben, das andere nach unten, grinste er mich mit verrückter Hingabe unter dem Wirrwarr seiner schwarz-weißen Stirnfransen an.
Wütend starrte ich über seinen nickenden Kopf hinweg auf das zerzauste Monster, das in der Diele hinter ihm herumlungerte. Seine knotigen rosa Füße schienen verwachsen mit den sommerlichen Leinensandalen, seine Beine wirkten wie haarige, kräftige Stiele... Es trug seine üblichen Tag-ein-Tag-aus-, Jahr-ein Jahr-aus-Klamotten: alte, an den Knien durchgewetzte, verbeulte khakifarbene Shorts zusammen mit seinem Lieblings-Fair-Trade-Holzfäller-Sweatshirt - ein ausgewaschenes, graues Kleidungsstück, das mit dem bemerkenswert passenden Wort NutzLos bedruckt war. Sein Gesicht war verknittert, sein langes, lockiges, dunkles Haar ungewaschen und ungekämmt. Es war halb sechs Uhr nachmittags, aber - wie üblich - sah das Monster aus, als ob es die ganze Nacht in irgendeinem Jazzclub gewesen und gerade erst aus dem Bett gekrochen wäre.
Diese Kreatur, dieses ungepflegte Ding war mein Ehemann.
Der Mann, über den ich einmal atemlos in Verzückung geraten war. Der Mann, den ich versprochen hatte zu lieben, und der versprochen hatte, mich zu lieben, bis dass der Tod uns scheide. Der Mann, dem ich einmal blind vertraut hatte und von dem ich geglaubt hatte, dass er das netteste, liebenswürdigste und menschlichste Lebewesen auf Erden war.
Der Mann, von dem mein mich abgöttisch liebender Vater oft in einem weniger angenehmen Ton gesagt hatte: »Nenn’ mich einen Trottel, aber, mein Liebling, ich weiß einfach nicht, was du an ihm findest.«
»Hi!« Mark lächelte sein typisches sanftes, gleichmütiges Lächeln, schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und stolperte auf mich zu, um mir einen sittsamen Kuss auf die Wange zu geben.
Aber anstatt mich von ihm berühren zu lassen, drehte ich mich in letzter Sekunde weg und umarmte stattdessen zehn Kilogramm Ausgelassenheit, die in diesem Moment ihr Bestes gaben, mich umzuwerfen.
»Hallo Fluffy, Wuffy!«
Mark rieb sich Schlaf aus seinen Augenwinkeln. »Wie geht’s?«, fragte er. Ich ignorierte ihn. Und anstatt zu bemerken - wie er es eigentlich hätte tun sollen -, dass es sein Fehler war, dass ich nicht mit ihm sprach, nahm er automatisch an, dass ich in der Arbeit einen schlechten Tag gehabt hatte.
»Hat es heute nicht geklappt, eine der Zehntausend-Kröten-Handtaschen zu verkaufen?«
Es war einer seiner alten, ermüdenden Witze. Zu den besten Zeiten hätte er ein müdes Lächeln geerntet. An diesem Nachmittag sah ich ihn finster an, während ich meinen Mantel abstreifte und über die Rückenlehne des Sofas warf.
»Wo ist Mickey Mouse?«, sagte ich zu Fluffy und kraulte seine Ohren.
»Hol’ Mickey Mouse, Fluffy!« Mit spindeldürren Beinen und wackelndem Hinterteil schoss Fluffy Schwanz wedelnd quer durch das Wohnzimmer, um sein Lieblingsspielzeug aus seinem Korb zu holen. Er nahm es in seine spitze Hundeschnauze, brachte es herüber und lauerte ein paar Zentimeter von mir entfernt. Er knurrte, als er mich dazu bringen wollte, es ihm wegzunehmen. Als ich danach griff, wich er zurück.
»Lass es fallen, Fluffy!«
»Annie?«
»Lass es fallen!«, warnte ich Fluffy und holte dann wieder aus. Diesmal war ich schneller, griff nach Mickeys Bein, und nach einem kurzen Gerangel wand ich das Spielzeug aus seinem Gebiss heraus.Als ich es quer durch den Raum schleuderte, mit einer Kraft, derer ich mir bisher nicht bewusst war, stellte ich mir vor, wie ich das Spielzeug Mark an den Kopf schleudern würde.
Verdutzt darüber, dass ich nicht mit ihm sprach, verlagerte Mark nachdenklich sein Gewicht vom nackten auf den mit der Sandale bekleideten Fuß, bis endlich der Groschen fiel.
»Warum hast du im Haus die Sonnenbrille auf?«, fragte er. »Sprichst du nicht mit mir, oder was?«
»Mit dir sprechen?«
Fluffy kam mit Mickey zurückgerannt. Dieses Mal blieb er wohlweislich außerhalb meiner Reichweite und knurrte. Ich drehte mich um zu meinem Mann, nahm meine Sonnenbrille ab und lachte bitter auf.
»Worüber sollte ich mit dir sprechen, Mark Curtis? Da gibt es nichts mehr zu besprechen. Und du weißt ganz genau, warum.«
Er breitete die Hände aus. »Nein, weiß ich nicht.«
Ich holte tief Luft. »Ich war gerade bei meinem Anwalt. Er hat mir das mit Fluffy erzählt.«
Mark öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Ich schüttelte ungläubig meinen Kopf und fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass du versuchst, mir das anzutun. Ich hasse dich. Nein, das ist nicht stark genug für das, was ich fühle. Ich verabscheue dich und ich verachte dich, du - du heruntergekommener, fauler, intriganter, treuloser, doppelgesichtiger Bastard! Und ich werde nie wieder mit dir sprechen - so lange ich lebe!«
Nachdem ich diesen Präventivschlag ausgeteilt hatte, griff ich nach Fluffys Halsband, zog ihn dort hinein, was bis zu diesem Morgen immer noch Marks und mein Schlafzimmer gewesen war, und warf die Tür hinter den letzten, bitteren Resten unserer Ehe zu.
Von Erschöpfung übermannt, legte ich mich auf die teure Memory-Foam-Matratze - eine Matratze voller Erinnerungen an die Zeiten, in denen wir uns zärtlich geliebt hatten -, und kickte die Schuhe weg. Mit wehendem Fell sprang Fluffy zu mir auf das Bett und versuchte, sich auf meine Brust zu setzen. Nachdem ich ihn ein paar Mal heruntergeschubst hatte, verstand er die Botschaft, trampelte Kreise auf die Bettdecke und streckte sich dann bequem über meinen Füßen aus.
Wie hatte das geschehen können? Ich brütete darüber nach, während ich die Fernbedienung nahm, den 32-Zoll-Flachbild-LCD-Fernseher einschaltete und, ohne das geringste Interesse an dem, was er sagte, George Alagiah dabei zusah, wie er die BBC-Nachrichten um sechs Uhr in High-Definition-Qualität las.
Meine Ehe war vorbei. Geschichte. In der Mülltonne.
Und nur Wochen vorher, am Morgen des 25. Dezember, hatte ich den Tag mit dem Gedanken begonnen, dass sie noch nie zuvor so gut gewesen war.
Wohin mit Fluffy -Getrennt von Tisch und Hund
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