9. Engtanz
Ocke hatte sich geirrt. Der Mann neben Christa war der bärtige Vogelwart Markus Clausen, der in dem Föhrer Chor namens «Seevögel» sang und über den Christa sich gerne wegen seines übertriebenen Öko-Gehabes lustig machte. Dass er die Vogelkoje in Oldsum betreute und die Vögel in der Godelniederung zählte, fand Ocke durchaus lobenswert – ohne Sandregenpfeifer, Kiebitze und Sturmmöwen wäre Föhr nicht Föhr. Aber musste man deswegen zwanghaft die grünen Tonnen der Insulaner nach Plastikresten durchsuchen und den Sündern penetrant mit Bußgeldern drohen?
Markus schob sein teures, auf alt gemachtes Manufactum-Rad neben sich her und trug seinen üblichen Aufzug: Cargohose und kariertes Öko-Hemd, Wanderschuhe. Der war mit Sicherheit nicht ihr Lover. Als Ocke ihnen entgegenkam, sah Christa ihn erfreut an.
«Ocke, gut dass du kommst …!»
Als er das hörte, hätte Ocke vor Freude am liebsten auf der Straße getanzt. Spontan lud er Markus auf ein Glas ein, doch der war gar nicht in Feierstimmung.
«Das geht gar nicht!», greinte Markus gegen den Wind.
Ocke lachte.
«Was geht nicht?»
«Hier ist ein Biosphärenreservat, die Tiere brauchen Ruhe.» Markus’ braune Augen funkelten bedrohlich.
«Komm, Imke wird nur einmal achtundsiebzig.»
Inzwischen hörte sich Bösingers Musik an wie die Einstürzenden Neubauten, und zwar im wörtlichen Sinn.
«Es ist wohl einer ihrer letzten Geburtstage», ergänzte Christa.
Markus verzog das Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. «Dann sollte ihr die Natur nicht egal sein, schon wegen der kommenden Generationen.» Er konnte ein furchtbarer Prinzipienreiter sein.
«Es gibt manchmal auch Ausnahmen, Markus», sagte Ocke und gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Oberarm.
«Nicht für die Tiere.»
«Willst du Imke nicht wenigstens gratulieren?» Ocke wollte in diesem Moment wirklich nicht über den Zustand des Planeten diskutieren.
«Erst, wenn ihr die Musik runterdreht.»
Kaum zu glauben, dass Markus mit Abstand der beste Elvis-Imitator der nordfriesischen Inseln war und damit sogar Geld verdiente. Das bekam man einfach nicht zusammen.
«Nun sei mal nicht so spießig, dann pennen die Piepmätze morgen halt etwas länger aus», sagte Ocke.
Christa lachte herzlich.
Doch das war für Markus offenbar die vollkommen falsche Ansage.
«Ihr findet das wohl auch noch witzig, oder was? Ich rufe jetzt die Polizei.»
Ocke und Christa sahen sich an. Es hatte keinen Zweck mehr.
Was Markus auch fand.
Wortlos schwang er sich auf sein Edelfahrrad und zückte nach ein paar Metern sein Handy.
Bösinger tobte sich inzwischen immer mehr aus, schrie Obszönitäten durchs Mikro und veranstaltete mit der Gitarre maximalen Krach. Vielleicht sollte man ihn wirklich abstellen, dachte Ocke, aber er hatte keine Lust, sich mit dem Mondgesicht anzulegen. Gemeinsam mit Christa ging er zurück zum Haus.
Es gab auch ansonsten erste Verfallserscheinungen. Arne zum Beispiel knutschte im Vorgarten wild mit Tamara aus Bottrop rum, was an sich vielleicht nicht bemerkenswert gewesen wäre – wenn sich der Körperkontakt auf die beiden beschränkt hätte. Dem war aber nicht so. Denn hinter Arne saß Frau Bösinger, den Kopf an seinen Rücken gelehnt, die Hand an seinem Nacken, während ein stetiger Speichelfaden aus ihrem halb geöffneten Mund rann. Offenbar war sie in dieser Position eingenickt. Arne schien nicht mal zu bemerken, dass nicht alle Arme, die ihn berührten, zu Tamara gehörten.
«Lass uns reingehen», schlug Ocke vor und schlenderte mit Christa zurück ins Haus. Im Gemeinschaftszimmer kam ihnen Musik aus den Achtzigern entgegen. Das war die Gelegenheit! Aber anstatt Christa lässig auf die Tanzfläche zu ziehen, verdrückte er sich erst mal ins Bad und setzte sich auf die Klobrille.
Er musste sich erst einmal sammeln.
Ihr Typ war offenbar nicht gekommen. Was bedeutete das?
Sollte er es jetzt wagen?
Seltsame Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zum Beispiel, laut derer Schauspieler ab dreizehn TV-Auftritten pro Jahr im Fernsehen bekannt wurden. Gab es so etwas vielleicht auch in der Liebe? Dreizehn Berührungen, dann war Christa an seiner Seite? Konnte doch sein, oder? Er wusste gar nichts mehr, aber wahrscheinlich war ohnehin alles sinnlos, wenn Christa einen anderen hatte. Das Bad zu blockieren, brachte ihn allerdings auch nicht weiter. Also erhob er sich, schlich in den Tanzraum und machte das, was er immer getan hatte, wenn er in einer Disco war: dumm in der Ecke rumstehen.
Da gab es ein Paar, das wild miteinander tanzte und förmlich füreinander brannte: Sönke und Maria. Marias Haare wirbelten durch die Luft, und Sönke hob sie zwischendurch an der Hüfte fast hoch bis zur Decke. Daneben tanzte Christa genauso wild mit Regina, der jüngsten Tochter von Imke, da wollte er sich nicht dazwischendrängen. Christas Bewegungen waren geschmeidig und elegant und wirkten ganz natürlich. Wie gern wäre er an Reginas Stelle gewesen.
Das wurde hier nichts mehr mit ihm, so viel war klar. Er ging in Richtung Tür. Seinen Platz sah er ab jetzt neben dem Bowletopf. Doch irgendjemand hielt ihn entschlossen am Arm fest. Er drehte sich um.
Christa.
«Tanzt du mit mir?», fragte sie leise.
Ocke reagierte wie ein Vollidiot.
«Ich wollte mich gerade …»
… mit Bowle volllaufen lassen?
Christa wartete nicht darauf, bis er fertig gesprochen hatte, sondern zog ihn einfach mit auf die Tanzfläche. Ocke fühlte sich etwas befangen neben einer so tollen Tänzerin, aber er wusste, er musste jetzt sein Bestes geben. Dann kam ein langsamer Titel, Angie von den Rolling Stones. Ocke bekam einen trockenen Mund. Und nun? Was würde Christa tun? Sich entschuldigen und hinausgehen? Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da lag sie schon in seinen Armen, und sie tanzten eng. Ocke schmiegte sich vorsichtig an Christas Körper, sie hielt ihre Wange an seine.
Er roch sie, und sie roch wunderbar.
Ihm wurde heiß und heißer.
Sehr uncool.
Plötzlich rückte Christa weg – hatte er etwas falsch gemacht?
«Dein Bart kratzt», lachte sie und zog ihn wieder zu sich hin.
Ocke schloss die Augen.
Er befand sich in einem unendlichen Raum. An einem Ort, der nicht mehr mit dem Verstand zu erfassen war.
Dann schaltete jemand das gleißende Deckenlicht an. Die Musik ging aus, was auf der Tanzfläche heftigen Protest auslöste. Alle kniffen die Augen zusammen und schrieen durcheinander: «Hey, was soll das?»
«Die Party ist vorbei!», kündigte eine schneidende Männerstimme an.
Ocke öffnete die Augen und konnte es kaum glauben: Mehrere uniformierte Polizisten standen im Raum, unter ihnen Revierleiter Gerald Brockstedt. Markus Clausen hatte tatsächlich die Polizei gerufen! Jetzt kam Brockstedt direkt auf ihn und Christa zu. Vorsichtig löste sie sich von ihm.
«Ocke, was ist hier los?», fragte der Polizist.
«Nach was sieht das denn aus?», schnaubte Ocke.
«Die Situation in Haus und Garten ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Wir sind in mehreren Räumen und auf dem Flur stark alkoholisierten Personen begegnet, die entweder heftig pöbeln oder die Beamten zum Tanzen auffordern. Es ist das pure Chaos.»
Ocke verstand gar nichts. In Gedanken hielt er immer noch Christa im Arm, alles andere interessierte ihn nicht. Aus dem Garten waren schreiende Männer und Schläge zu vernehmen. Christa rannte nach draußen, während Ocke wie gelähmt auf der Tanzfläche stehen blieb. Plötzlich kam der Vermieter des Hauses, Stefan Petersen, auf ihn zu, ein braungebrannter Endvierziger mit welligem, dunklem Haar und einem Knick in der dünnen, langen Nase – was wollte der denn hier?
«Moin, Herr Hansen, bei euch geht’s ja ab!», begrüßte Petersen ihn leicht amüsiert.
«Ist was mit dem Haus?», stotterte Ocke.
Petersen lachte.
«Nee, die Inselpolizei hat mich gerufen. Ich soll Blutproben bei den Randalierern nehmen.» Petersen war Arzt auf der Insel.
«Was? Wer hat randaliert?»
«Keine Ahnung, der Typ wird gerade draußen gefesselt. Und Arne Riewerts haben sie in Dunsum auf der Hauptstraße gefunden. Der ist voll auf die Beamten losgegangen. Na ja, ich gehe mir erst mal die Hände waschen.»
In dem Moment schoss Christa um die Ecke.
Und küsste Petersen auf den Mund.
Ocke starrte die beiden entsetzt an. Christas Lover war Dr. med. Stefan Petersen, ihr Vermieter?
Das war das Ende ihrer WG.
Und sein Ende auf Föhr.
Und zwar endgültig.