25. Wohnung auf Rezept
Imke setzte ihre Schonphase fort. Sie ließ die Aufputschmittel von Dr. Behnke weg, schlief einige Tage lang jeden Morgen bis neun und legte sich nach dem Frühstück auf die Terrasse. Nach dem Mittagessen döste sie noch einmal von eins bis drei, die klassische Mittagsruhe, die es über weite Teile ihres Lebens gegeben hatte. Damals waren die Geschäfte sogar um diese Zeit geschlossen, wie übrigens auch am Mittwochnachmittag. Nach der Tagesschau verschwand sie zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im Bett. Leider änderte das nur wenig, die Kraft kam einfach nicht wieder. Ihr war oft schwindelig, und sie fühlte sich die meiste Zeit schlapp.
Am Dienstag kam ihr geliebter Enkel Sönke zu Besuch, um zu sehen, wie es ihr ging. Zum Glück lag sie da zufällig nicht im Bett, sondern saß in der Küche und trank einen unglaublich gesunden Kräutertee, der zum Speien schmeckte.
«Wo sind Ocke und Christa?», fragte Sönke.
«Mal wieder auf Wohnungssuche.»
«Sind die beiden jetzt ein Paar?» Nach dem Ständchen, das er mit angesehen hatte, war das eine durchaus berechtigte Frage.
«Wird sich zeigen.»
Plötzlich fing Sönke an, wie irre zu lachen, und dann tanzte er auch noch mit einem Stuhl.
«Und bei dir ist alles klar, mein Junge?», erkundigte sich Imke besorgt.
«Bestens!», schrie Sönke.
«Du bist seltsam, Sönke.»
Ihr Enkel tanzte weiter. «Ich freue mich über Christa und Ocke.»
«Nein.»
«Doch.»
Imke zog die rechte Augenbraue hoch. «Da ist noch was anderes.» Für bestimmte Dinge besaß sie einen untrüglichen Instinkt.
«Was meinst du?», fragte Sönke harmlos.
Plötzlich strahlte Imke, und ihr lief ein Schauer über den Rücken.
«Wenn ein Mann sich so verhält wie du, gibt es nur einen Grund dafür.»
«Er hat sich endlich sein Traumauto gekauft», juchzte Sönke und grinste ihr ins Gesicht.
Imke schüttelte den Kopf. «Nein, das andere.»
«Was meinst du, Oma?»
Ja, sie kannte ihren Enkel genau und war sich jetzt ganz sicher. «Ist es wahr?»
«Was denn?»
«Maria ist schwanger?»
Sönke schaute sie kurz etwas verunsichert an. «Jaaaaaa!», schrie er dann und schien sich kein bisschen für die Tränen zu schämen, die ihm die Wangen hinabliefen. «Und weißt du, Maria ist sich jetzt schon ganz sicher, dass es ein Mädchen wird. Und wir wollen sie Imke nennen, nach dir!»
In diesem Moment spürte Imke eine Kraft in sich aufsteigen, die die Wirkung der Tabletten von Dr. Behnke um ein Vielfaches übertraf.
Imke war den ganzen Tag überglücklich und sagte sich immer wieder den einen Satz auf: Ich werde Urgroßmutter! Ich werde Urgroßmutter!
Sönke und Maria würden tolle Eltern werden, da war sie sich sicher. Imke dachte an ihre eigenen Urgroßeltern zurück, die sie nur aus Erzählungen kannte. Sie waren im 19. Jahrhundert geboren, um 1860, und es gab nur ein paar wenige Schwarzweißfotos von ihnen, mehr nicht. Ihr Urgroßvater hatte zeit seines Lebens einen Vollbart getragen und präsentierte sich um die Jahrhundertwende auf Bildern stets mit Monokel und feinem Anzug am Sandwall. Aber irgendwie war er ihr immer fremd geblieben. Tondokumente und Filme gab es in der Familie Riewerts erst seit den Super-8-Filmen der sechziger Jahre. Unter anderem war die Sandburg dokumentiert worden, die Sönke, Maria und Arne zusammen gebaut und für die sie einen Preis gewonnen hatten.
Hoffentlich erlebte sie noch die Geburt der Kleinen, dann würde sie sich mit dem Baby filmen lassen, und das Kind könnte später angeben: «Schau, ich habe noch meine Urgroßmutter kennengelernt.»
Imke freute sich wie wahnsinnig auf das Kind. Leider musste sie vor den anderen die Klappe halten, das hatte sie Sönke geschworen, und daran hielt sie sich auch.
Nach zwei weiteren Tagen Ruhe war sie so weit. Christa und Ocke waren mit der Wohnungssuche nicht weitergekommen, also beschloss sie, zu Petersen zu fahren. Sie hatte einen Plan.
Nach einer morgendlichen Wechseldusche aus extrem heiß und extrem kalt machte sie sich auf den Weg. So ausgeschlafen hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt, außerdem hatte sie zur Sicherheit die Tabletten von Dr. Behnke in ihrer Handtasche – aber nur für den Notfall. Ein Kollege von Ocke fuhr sie direkt von der WG zu Petersens Praxis, die sich in einem schmucklosen Einfamilienhaus in der Nähe des Südstrands von Wyk befand.
Entschlossen drückte Imke die Klinke der Eingangstür runter. Der Vorraum der Praxis war von weißen Neonlampen beleuchtet, was jetzt, im Sommer, besonders unangenehm wirkte. Die Sprechstundenhilfe Gaby Schulenberg wunderte sich, als Imke am Anmeldetresen vor ihr stand:
«Moin, Imke, was machst du denn hier? Bist du nicht sonst bei Dr. Behnke?»
Gaby war eine Schulfreundin ihrer Tochter Regine gewesen, sie hatte als Kind oft bei ihnen gespielt.
«Besser, man holt sich eine zweite Meinung.»
Gaby senkte die Stimme: «Was Ernstes?»
«Geht man zum Doktor, wenn es nichts Ernstes ist?», erwiderte Imke vielsagend.
«Ich muss mir doch keine Sorgen machen?»
«Wenn ich nicht gerade zwei Stunden warten muss, nicht.»
«Du kommst gleich dran, setz dich mal ganz nach vorne. Übrigens noch mal herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.»
«Danke.»
Imke setzte sich in das sterile Wartezimmer. Spätestens wenn man hier warten musste, wurde man wirklich krank, fand sie. Zugegeben, sie war von ihrem Hausarzt Dr. Behnke extrem verwöhnt. Nicht nur, dass sie privat befreundet waren, Walter Behnke hatte ein altes Reetdachhaus zur Praxis ausgebaut, man saß im Wartezimmer direkt unter dem Dach, und im Winter wurde in der Mitte des Raumes sogar ein Herdfeuer entzündet. Dr. Petersen hingegen stand auf die üblichen Lamellen vor den Fenstern und kalte Stahlrohrstühle im kahlen Raum. Das heißt, hier und dort hingen Fotos von großen Tennisereignissen im Leben des Stefan Petersen: Stefan als Teenager mit Jugendpokal; Stefan, der mit ausgestrecktem Schläger einen beeindruckenden Hechtsprung hinlegt; Stefan beim gemischten Doppel unter Palmen. Imke fand das peinlich. Nicht, weil Petersen keine gute Figur auf den Fotos machte, sondern weil es ihr zu eitel und privat war. Fürs Wartezimmer gab es zur Not die klassische Moderne von Klee bis Miró, das passte besser als so eine aufgeblasene Selbstdarstellung.
Als Imke aufgerufen wurde, kam Petersen betont dynamisch auf sie zu. «Moin, Frau Riewerts, was kann ich für Sie tun?» Er führte sie ins Sprechzimmer.
«Moin, Herr Petersen», Imke ließ sich auf einen unbequemen Freischwinger fallen, der etwas nachfederte. «Also, ich leide unter Schlaflosigkeit.»
«Wie lange schon?»
«Seit einigen Tagen.»
Petersen nickte. «Ist etwas Besonderes passiert?»
«Ja, meine Wohnung ist gekündigt worden.»
«Das ist nicht schön.» Der Arzt sprach in jenem herablassenden Tonfall, in dem manche Menschen mit kleinen Kindern und Omis redeten.
«Nee.»
«Und haben Sie schon was Neues?»
Imke riss die Augen so weit auf, wie sie konnte, und schaute ihn verzweifelt an: «Auf der Insel ist das schwer.»
«Wohl wahr.»
«Meine Schlaflosigkeit ist aber heftig.» Sie ließ ihn nicht aus den Augen.
Jetzt nahm Petersen einen billigen Kugelschreiber in die Hand, auf dem das Emblem einer Pharmafirma prangte. Er überlegte wohl schon, welches Medikament er ihr verschreiben würde; da sie als Beamtenwitwe ja Privatpatientin war, durfte es gerne etwas Teures sein …
«Wie viele Stunden schlafen Sie denn?», erkundigte er sich.
«Vier höchstens.»
Petersen verzog besorgt das Gesicht. «Das ist zu wenig.»
«Allerdings.»
«Dann verschreibe ich Ihnen etwas, das Sie entspannen wird. Vorher messe ich aber noch mal Ihren Blutdruck und höre die Lungen ab.»
Imke beugte sich etwas vor und legte ihre rechte Hand auf seinen Schreibtisch: «Oder Sie sorgen dafür, dass ich meine Wohnung behalten kann, indem Sie Ihre Kündigung zurückziehen.»
Petersens Miene wechselte von übertrieben freundlich zu arrogant.
«Nur weil Christa Sie beim Siel ins Wasser gestoßen hat …», setzte Imke nach.
Jetzt entglitten Petersen die Gesichtszüge, damit hatte er nicht gerechnet. So ähnlich könnte er ausgesehen haben, als er nach Christas Stoß im Graben herumgerudert hatte.
«Raus!», rief er und wurde knallrot.
Imke blieb sitzen. «Herr Petersen …!»
«Raus!»
So barsch war Imke noch nie angefahren worden, schon gar nicht von einem Arzt. «Wie heißt das Zauberwort?», fragte sie, obwohl sie längst eingesehen hatte, dass ihre Mission gescheitert war.
Petersen sprang auf. «Ich brauche kein Zauberwort! Das ist meine Praxis, und ich habe hier Hausrecht! Hauen Sie ab, auf der Stelle!»
Imke blinzelte ihn böse an. «Föhr ist eine kleine Insel, vergessen Sie das nicht. Man trifft sich immer wieder.»
«Lächerlich!»
«Auf Wiedersehen, Herr Dr. Petersen», sie erhob sich.
«Schönen Tag dann noch», keifte Petersen ihr hinterher.
Imke ging hinaus und setzte sich ins Wartezimmer, in dem drei Leute saßen: Gerd von der Stackmeisterei, Jens Jensen vom Café Friesentraum und Karen-Ann, die Eisverkäuferin aus Oevenum.
«Bist du schon fertig beim Doktor, Imke?», fragte Gaby, die Sprechstundenhilfe.
«Ja», stöhnte Imke und hielt sich krampfhaft am Stuhl fest. Plötzlich war ihr schrecklich übel, was Gaby zunächst gar nicht mitzubekommen schien, weil sie gerade etwas in den PC eintippte. Kurze Zeit später stürzte Petersen aus dem Behandlungsraum. Als er sah, dass Imke immer noch nicht gegangen war, verlor er erneut die Beherrschung.
«Haben wir uns nicht verstanden?», dröhnte seine Stimme in ihr Ohr. «Gehen Sie!»
Zum Glück bemerkte Gaby jetzt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
«Frau Riewerts geht es nicht gut», zirpte sie dazwischen.
«Quatsch, die simuliert!» Petersen zischte wieder in sein Behandlungszimmer ab, und nun wurde Imke schwarz vor Augen.
«Der Frau geht es wirklich nicht gut», beschwerte sich Karen-Ann bei Gaby, «wo ist denn der Doktor?»
Gaby eilte zu ihr. «Imke, was machst du für Sachen?», flüsterte sie.
Das klingt wie auswendig gelernt, dachte Imke noch. Dann schlief sie ein.
Als sie wieder aufwachte, drehten Sprechstundenhilfe Gaby und Dr. Petersen sie gerade in die stabile Seitenlage.
«Lass sie einen Moment hier liegen», ordnete Petersen an. Fast widerwillig legte er ihr eine Blutdruckmanschette an. Ihr Blutdruck war tatsächlich viel zu niedrig.
«Wir betten sie auf die Liege nebenan, du bleibst bei ihr», befahl er seiner Assistentin. Dann verschwand er.
Imke kam wieder zu Kräften, nachdem Gaby ihr ein Glas Wasser gebracht hatte.
«Ich will hier weg», murmelte sie. «Kannst du Ocke rufen? Er soll mich mit dem Taxi abholen.»