26. Pladdäreeg’n

«Pladdäreeg’n» nannte Ocke das, was am nächsten Vormittag gegen die Scheiben des Gemeinschaftszimmers prasselte. Dieses Wort ließ sich nur sehr vage ins Hochdeutsche mit «Platterregen» übersetzen; «Pladdäreeg’n» traf es viel genauer, man musste es schnell und gleichzeitig breit aussprechen. So wie man von den Inuit sagte, sie hätten zahlreiche Wörter für Schnee, gab es in Nordfriesland mindestens ebenso viele Ausdrücke für Regen. Wobei die Wetterstatistik das feuchte Image eigentlich widerlegte: Föhr hatte erheblich mehr Sonnenstunden als das Festland.

Aber an diesem Tag war eben mal Pladdäreeg’n. Mal kam er von oben, mal schräg von der Seite, mal frontal gegen die Scheibe geprasselt. Die Kuhlen und Senken auf den Feldern der Marsch und auf nicht befestigten Wegen füllten sich im Nu, im Garten der WG bildete sich ein richtiger kleiner Teich.

Ocke saß mit Imke und Christa auf der Couch. Christa hatte Tee gekocht und ein paar selbst gebackene Kekse bereitgestellt. Für einen Moment kam es Ocke so vor, als sei er richtig mit Christa zusammen. Aber es war nichts passiert, und wenn er Pech hatte, würde auch nichts passieren.

Schreckliche Vorstellung.

«Wie soll es nun weitergehen mit unserer WG?», sorgte sich Imke.

«Auf jeden Fall ist jetzt mal Schluss mit deinen Alleingängen, Imke», schimpfte Christa.

«Ich sehe es ja ein.»

Christa sah ihr skeptisch in die Augen.

«Was braucht es, um Petersen umzustimmen?», fragte Ocke und beantwortete die Frage gleich selbst: «Nicht viel.»

«So?», wunderte sich Christa.

Imke streckte die Beine aus. «Denn vertell mal.»

«Wir machen da weiter, wo du aufgehört hast, Imke», sagte er. «Haben wir nicht alle so unsere Wehwehchen? Und wer kann uns besser behandeln als …?»

«Dr. Stefan Petersen», ergänzte Christa mit leuchtenden Augen.

«Ab jetzt kommen seine Mieter täglich in seine Praxis», sagte Ocke.

Christa nickte begeistert: «Als lebendes Mahnmal.»

«Er wird das nicht mögen!»

«Das hoffe ich sehr.»

«Wir sollten Trauerkleidung dabei tragen», überlegte Imke. «Das kommt noch besser.»

«Wieso das?», wunderte sich Ocke.

«Bist du nicht in tiefer Trauer, weil wir das Dach überm Kopf verlieren?», fragte Imke zurück.

«Die Idee ist ja nicht schlecht, aber wir haben Sommer, so ein schwarzer Schlips bringt mich um», nörgelte er.

«Deinen schwarzen Anzug hast du beim Ständchen für mich auch überlebt», säuselte Christa. «Er steht dir außerdem hervorragend.»

Ihm wurde ganz warm. Christa sprach das erste Mal über sein Ständchen! War das ein Zeichen?

«Wir müssen uns noch Krankheiten ausdenken», stotterte er.

«Das muss ich zum Glück nicht», freute sich Imke, «Altersschwäche, Tüddeligkeit, zu niedriger Blutdruck, Schwindel, das sollte genügen.»

«Es muss etwas Akutes sein, damit er uns nicht zurückweisen kann», meinte Ocke.

«Ich bin leider kerngesund», klagte Christa.

… und traumschön, ergänzte Ocke im Stillen.

«Komm, wir gehen ins Internet», schlug Imke vor. «Irgendetwas finden wir schon.»

Zusammen hockten sie sich vor Christas Laptop. Wie nicht anders zu erwarten, wurde im weltweiten Netz eine Vielzahl von schwer diagnostizierbaren Krankheiten beschrieben, die Petersen einiges abverlangen würden. Wie auf einem Basar begannen sie auszuhandeln, wer von ihnen bei Petersen welches Leiden angab. Eigentlich hatten Christa und Ocke beschlossen, die Sache allein durchzuziehen, aber Imke bestand darauf, mitzukommen. Mit Christa und Ocke an ihrer Seite sei sie bestens beschützt. Andernfalls müsste Christa mit ihr zu Hause bleiben. Außerdem: Wo wäre sie im Falle eines Falles besser aufgehoben als in einer Arztpraxis?

 

Der Pladdäreeg’n hielt sich hartnäckig. Als Ocke, Christa und Imke in schwarzer Kleidung zu Ockes Taxi gingen, sahen sie aus wie ein Trauerzug. Ein älterer Spaziergänger, der zufällig an ihrem Haus vorbei Richtung Deich ging, kondolierte, indem er kurz seine Mütze abnahm. Das nahmen sie als gutes Omen: die Kostümierung funktionierte.

Imke, die hinten saß, schloss auf der Fahrt sofort die Augen, während Ocke und Christa in stillem Einvernehmen vorne saßen. Vor Petersens Praxis in Wyk hielt er an. Das Gebäude war nichts Besonderes, es sah so aus, als hätte es sich jemand in den siebziger Jahren aus einem Standardhaus-Katalog bestellt.

Ocke ging als Erster hinein. Ihn kannte Petersen am besten, denn er hatte damals den Mietvertrag unterschrieben. Im Treppenhaus strömte ihm ein starker Geruch nach Lavendel entgegen; woher der wohl kam? Ein bisschen nervös war er schon, als er an der Tür klingelte. Immerhin würde er gleich seinem zwanzig Jahre jüngeren Rivalen gegenüberstehen. Die Geschichte zwischen Christa und Petersen war zwar offiziell vorbei, aber woher sollte er wissen, ob sie nicht immer noch Gefühle für ihn hatte? Da fiel ihm Kohfahls Tipp ein: «Wenn Sie nervös sind, versuchen Sie sich vorzustellen, dass seine Füße ekelig riechen.»

In den Praxisräumen musste sich Ocke erst einmal an die Helligkeit gewöhnen. Während draußen tiefschwarze Wolken ihre feuchte Last ausschütteten, blendete Ocke hier drinnen ein grelles Weiß von Wänden, Möbeln und unzähligen Neonlampen.

«Moin, Ocke», grüßte Gaby.

«Moin, Gaby, hü gongt et?»

«Schietwetter.»

Der Regen schlug laut gegen die Scheiben.

«Och, das wird wieder.»

In diesem Augenblick bog Dr. Petersen um die Ecke. Bei Ockes Anblick verzog er das Gesicht. «Wenn Sie mich privat sprechen wollen – ich habe keine Zeit.»

Gaby sah erst Ocke, dann ihren Chef erstaunt an.

«Ich bitte um medizinische Behandlung», sagte Ocke ruhig.

«Vergessen Sie’s.»

Ocke zückte ein Handy und drückte auf eine Kurzwahltaste, die er vorher eingespeichert hatte. «Wie Sie wollen, Herr Dr. Petersen.»

Der Angesprochene lief leicht rot an. «Handy ist hier streng verboten», blökte er.

«Kein Problem.» Ocke ging vor die Tür und kam nach ungefähr zwanzig Sekunden wieder.

«Soll ich die Polizei rufen, damit Sie endlich abhauen?», rief Petersen.

Jetzt kam die Sprechstundenhilfe mit dem schnurlosen Telefon von der Rezeption zu ihrem Chef und hielt es ihm hin.

«Herr Dr. Petersen …»

«Jetzt nicht!»

Gaby wich keinen Schritt zurück: «Es ist aber wichtig.»

«Haben Sie Tomaten auf den Ohren? Jetzt nicht!»

Gaby blieb einfach stehen, sie sah etwas unglücklich aus, was Ocke leidtat, denn er hatte die Situation verursacht.

«Die Techniker Krankenkasse ist dran, es geht um Herrn Ocke Hansen», sagte Gaby.

Petersen sah sie verärgert an. «Ich rufe zurück.»

«Die sagen aber, es ist dringend.»

«Das sagen sie immer, ich rufe zurück.»

Gaby ging zurück zur Rezeption: «Hören Sie, der Herr Doktor kann gerade nicht … Ja … ja …»

Petersen wandte sich an Ocke: «Ich gehe jetzt in mein Zimmer, und wenn ich wiederkomme, sind Sie verschwunden.»

«Nein.» Ocke verschränkte die Arme vor der Brust.

Nun kam Gaby wieder und drückte ihrem Chef den Hörer einfach in die Hand. «Sie sollten besser mit denen reden. Es ist irgendwas mit der Kassenzulassung …»

«Stellen Sie durch», gab Petersen nach und verschwand in seinem Sprechzimmer. Nach einer Minute kam er wieder heraus. Er sah so aus, als hätte ihm ein Schwächling gerade eine Ohrfeige verpasst. «Herr Hansen, bitte», rief er mit zitternder Stimme.

Ockes Krankenkasse hatte es gar nicht witzig gefunden, dass Petersen einen ihrer Versicherten aus reiner Willkür nicht behandeln wollte.

Sobald Ocke die Tür hinter sich geschlossen hatte, begann Petersen zu schreien: «Wenn Sie denken, Sie haben gewonnen, nur weil Sie Ihre Kasse gegen mich aufhetzen, dann täuschen Sie sich, das schwöre ich Ihnen! Ich lass mich hier nicht für dumm verkaufen!»

Ocke schaute ihn desinteressiert an: «Und weiter?»

«Nix weiter!»

Jetzt beugte Ocke sich zu ihm vor: «Sie haben eine schöne Wohnung mitten in Wyk. Warum sollten Sie nach Dunsum ziehen?»

«Meine Sache.»

Durch die Sprechanlage kam die Stimme der Sprechstundenhilfe: «Eine Frau Christa Schmidt möchte Sie sprechen.»

Ockes Augen blitzten freudig auf: «Meine Mitbewohnerin.»

«Ich habe gerade einen Patienten!», brüllte Petersen in die Anlage.

«Und Frau Imke Riewerts von gestern ist wieder da», kam es ergänzend hinterher.

Ohne zu klopfen, kam Christa herein und baute sich vor Petersen auf. Sie wirkte absolut souverän und kein bisschen aufgeregt, Ocke war schwer begeistert.

«Du hasst die Marsch – hast du selber gesagt! Warum solltest du ausgerechnet dorthin ziehen?»

«Sparen wir uns doch die Scharmützel», schlug Ocke vor. «Sie nehmen die Kündigung zurück, und alles ist gut.»

Petersen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wippte nervös hin und her. «Das habt ihr schön ausgeheckt. Aber so läuft das nicht. Ihr werdet mir nicht vorschreiben, was ich mit meinem Haus mache. Das ist meine Privatsache, da hilft euch keine Krankenkasse dieser Welt. Und jetzt raus, alle beide!»

Ocke schaute ihn wütend an. «Und mein Rücken?»

«Was ist mit Ihrem Rücken?»

Jetzt wurde Ocke laut: «Ich habe seit vier Wochen aasige Rückenschmerzen.»

Petersen griff in seine Schreibtischschublade und zog eine Tablettenpackung heraus. «Da! Nehmen Sie das …» Er warf ihm die Tabletten verächtlich über die Tischplatte.

«Und Krankengymnastik?»

«Gehen Sie öfter schwimmen.»

«Das mache ich jeden Tag dreimal eine halbe Stunde. Wenn man direkt hinterm Deich wohnt, ist das ganz normal.»

Petersen griff zum Rezeptblock und kritzelte seine Unterschrift auf das Papier. «Gut, zwölf Mal Physiotherapie, jetzt aber …!»

Christa hatte die ganze Zeit dabeigestanden und nichts gesagt. «Hör mal zu, mein Schubsen war vielleicht etwas zu impulsiv», erklärte sie nun.

«Wieso ‹vielleicht›?» Petersen starrte sie feindselig an. «Es war auf jeden Fall zu impulsiv, ich musste mir sogar neue Schuhe kaufen, das Leder war vollkommen hin.»

«Schick mir die Rechnung.»

«Sowieso.»

«Aber deswegen musst du uns nicht kündigen, das trifft auch Unschuldige.»

«Es ist mein Haus!»

«Wir werden nicht ausziehen», sagte Ocke.

Petersen lachte höhnisch. «Dann zieht der Gerichtsvollzieher euch eben an den Ohren heraus.»

Christa stand auf und sah ihn verächtlich an, was für Ocke natürlich ein Fest war.

«Wir werden uns jetzt öfters sehen, Herr Dr. Petersen», kündigte Ocke an.

Mit diesen Worten verließen er und Christa das Sprechzimmer.

 

Die erste Runde war gut gelaufen. Kein K.-o.-Sieg, was auch nicht zu erwarten gewesen war, aber ein Punktsieg allemal. Christa und Ocke gingen ins Wartezimmer, wo Imke saß.

«Muss ich auch noch rein?», fragte sie.

«Nö.»

Christa hinterlegte bei Sprechstundenhilfe Gaby einen Umschlag. Darin lag ein Brief mit der Bitte um Rücknahme der Kündigung, Petersen brauchte nur zu unterschreiben. Wenn er das nicht tat, würden sie Montagmorgen wieder in seinem Wartezimmer sitzen, erst vormittags, dann nachmittags, um am Dienstagvormittag wiederzukommen. Und im Gespräch mit den anderen Patienten würden sie bereitwillig erzählen, was für ein «Gutmensch» der Doktor in ihren Augen war. Das würde Petersen gar nicht gefallen, und er könnte wenig dagegen machen. Als sie wieder im Taxi saßen, war die Stimmung dementsprechend fröhlich.

«Heute ist Freitag», juchzte Christa. «Das wird ihn das Wochenende über beschäftigen.»

Ocke schüttelte verständnislos den Kopf: «Heißt das etwa, du willst ihn am Wochenende in Ruhe lassen?»