12. Strandburg
Der Utersumer Strand zeigte sich an diesem Tag wie ein vielfarbiges Aquarell: ein Streifen heller Sand, gespickt mit bunten Strandkörben, dahinter eine Schicht braunes Watt, darüber die hellen Dünen auf der Nordspitze von Amrum, und ganz oben ein fetter, dunkler Regenhimmel aus Lila und Schwarz. Die meisten Urlauber ließen sich von dem einsetzenden Niederschlag erst einmal nicht beirren und blieben in ihren Strandkörben oder auf ihren Fahrrädern sitzen, aßen Eis oder setzten ihren Spaziergang fort. Erst als die Tropfen dichter wurden, suchten sie sich einen trockenen Unterstand. Unter den Sonnenschirmen der vielen Straßencafés konnten die Feriengäste wunderbar an der frischen Luft bleiben, ohne nass zu werden. Was manchmal schöner war als gutes Wetter, denn bei Hitze verloren sich die Menschen oft in alle Richtungen. Nun hingegen rückten sie zusammen, bestellten eine Friesentorte oder ein Herrengedeck und kamen viel schneller ins Gespräch.
Sönke erinnerte sich noch daran, wie er als kleiner Junge an diesem Strand zusammen mit Maria einen Strandburgenwettbewerb gewonnen hatte. Er lebte damals mit seinen Eltern in Hamburg, aber da seine Oma hier wohnte, kamen sie regelmäßig zu Besuch. Er musste um die zehn gewesen sein. Ihre Strandburg hatten sie gespickt mit Muscheln, Steinen und selbst gebastelten Wimpeln. Das war inzwischen schon eine echte Alte-Onkel-Geschichte, die Jüngere kaum glauben konnten, denn Strandburgen waren aus Naturschutzgründen mittlerweile streng verboten. Sönke fand, dass vieles leichter und unbeschwerter gewesen war, als man sich über die Umwelt noch nicht so viele Gedanken gemacht hatte. Auch wenn das natürlich vernünftig und notwendig war.
Dicke Tropfen ploppten auf den Sand. Sönke war an Arnes Revier angelangt, hier vermietete sein Onkel seine Strandkörbe. Drei der Körbe hatte Arne in der Nähe des DLRG-Turms wie eine Festung zusammengerückt – je einen für Sönke, Regina und sich. Typisch für unsere Familie, dass jeder seinen Korb hat, dachte Sönke. Sie waren zusammengekommen, um über Oma zu reden. Aber natürlich ging es nach gestern Abend um noch viel mehr.
Erst einmal schwiegen alle und hörten dem Regen zu. Der machte niemandem etwas aus, denn auch bei Schietwetter konnte man sehr gut in Strandkörben sitzen. Wenn man sie aufrecht stellte, ließen sie keinen Tropfen durch. Unter anderen Umständen hätte es richtig gemütlich werden können.
Sönke war schon von seiner fast gleichaltrigen Tante Regina genervt, bevor sie etwas gesagt hatte. Sie war das jüngste Kind von Oma und wohnte mit ihrem Mann Holger und ihrem fünfzehnjährigen Sohn John in einem kleinen Haus in Wyk gleich hinterm Postamt, in der Rungholtstraße. Sönke hatte auf der Party mitbekommen, dass Regina sich lange mit Frau Bösinger unterhalten hatte. Da hatten sich zwei gefunden. Frau Bösinger hatte ihr mit Sicherheit jedes Detail von Omas Amrum-Ausflug weitergetratscht. Zudem konnte Regina Christa nicht ausstehen, von der Sönke wiederum ein echter Fan war. Eine Frau, die auch jenseits der fünfzig noch lustvoll lebte, empfand Regina als pervers, ihre Mutter war das beste Beispiel dafür. Sönke wusste, dass Regina Imkes jahrzehntelange heimliche Liebesbeziehung zu Johannes auf der Nachbarinsel Amrum immer noch als Verrat empfand. Bei der gestrigen Geschenkübergabe hätte man allerdings meinen können, dass Mutter und Tochter ein neues Kapitel in ihrer Beziehung aufgeschlagen hätten. Doch das war wohl nur ein Wunschtraum gewesen.
«Was die Leute reden, ist Rufmord», begann Regina.
«Die hören auch wieder damit auf, du kennst das doch», hielt Sönke dagegen. Schade, dass Maria nicht dabei sein konnte, Brockstedt hatte sie mit seinem blöden Bericht in Beschlag genommen. Sie hätte ihn sicher unterstützt.
«Im Geschäft wollen die Leute keine Brillen mehr von mir kaufen», jammerte Regina.
«Du übertreibst», sagte Arne.
Regina lächelte ihn säuerlich an: «Kommst du jetzt eigentlich in den Knast, Bruderherz? Oder wie ist da der Stand?»
Arne sah sie wütend an. «Das geht dich nichts an», zischte er.
Der Regen wurde stärker, und Sönke zog die Beine ein.
«Das fällt alles auf unsere Familie zurück», sagte Regina.
«Wenn das deine einzige Sorge ist», erwiderte Sönke. «Hast du uns wegen Arne zusammengetrommelt?» Er war nicht gekommen, um einem Geschwisterkrieg beizuwohnen.
«Nein. Die wichtigere Frage lautet: Ist die WG der richtige Umgang für Mama?»
Nun war es raus.
«Christa und Ocke kümmern sich rührend um sie», sagte Sönke, wohl wissend, dass das vielleicht nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Regina verzog höhnisch das Gesicht.
«So sehr, dass sie auf eigene Faust nach Amrum wandert und sich in fremde Betten legt?»
«Besser als eingesperrt», brummte Sönke.
Doch Regina wusste noch mehr: «Christa ist zurzeit vollkommen von der Rolle. Die hängt auf dem Sandwall rum und baggert junge Männer an.»
«Sagt wer?», fragte Arne.
«Karen-Ann. Sönke hat es heute Morgen selbst mit angehört, als er bei mir im Laden war, oder, Sönke?»
«Christa sieht toll aus, warum denn nicht?»
«Die kann einfach nicht älter werden.»
«Das regelt der Markt, würde ich sagen. Entweder klappt es …»
«… oder sie macht sich lächerlich!», keifte Regina. «Christa steckt in einer Lebenskrise. Das könnte uns ziemlich egal sein, wenn sie sich ordentlich um Mama kümmern würde. Aber das tut sie nicht.»
«Ocke ist ja auch noch da», wandte Arne ein.
«Dasselbe in Grün! Macht einen auf Rocker, außerdem soll er heimlich saufen.»
«Wenn er es heimlich macht, woher weißt du es dann?»
Wirklich, das war ein reines Vorurteil, weil Ocke Seemann war. Da war nichts dran. Ocke trank schon mal einen, aber seltener als Sönke, und der trank nun echt nicht viel. Als Taxifahrer konnte sich Ocke in dieser Hinsicht ohnehin keinen Schnitzer erlauben.
«Ich habe ihn doch selbst auf der Fete erlebt. So etwas erkennt man, wenn man auch mal an der Flasche hing.»
Tatsächlich war Regina seit zwei Jahren trockene Alkoholikerin und hatte zwanzig Kilo abgenommen, das musste man ihr hoch anrechnen. Doch leider hatte sie sich zu einer Missionarin entwickelt, die strikte Zurückhaltung von sämtlichen Mitmenschen in ihrer Umgebung forderte, was ihr nicht nur Sympathien einbrachte …
«Auf der Fete gehörte er zu denen, die am wenigsten getrunken haben», sagte Sönke.
«Außerdem haben wir da alle keine gute Figur gemacht», seufzte Arne.
«Ich schon», sagte Regina.
«Natürlich.»
«Ich habe auf der Feier nichts getrunken, mir kann man nichts vorwerfen. Im Gegensatz zu dir, Arne, denn du hast das mit dem Trinken gar nicht mehr im Griff.» Regina machte eine kurze Pause. «Wir sind die kaputteste Familie auf ganz Föhr», fügte sie hinzu.
«Und? Sollen wir jetzt eine Familientherapie machen, oder was?» Sönke hasste Reginas Übertreibungen.
«In einer betreuten Wohngruppe wäre das alles nicht passiert», stellte Arne fest.
Das kam überraschend. Bisher hatte Arne immer zu Omas WG gestanden und ein Heim kategorisch abgelehnt. Sönke war plötzlich enttäuscht von seinem Onkel und Schwiegervater. Dieser Mann war einmal sein Vorbild gewesen: der erste Surflehrer der Insel Föhr!
«Spinnst du?», sagte er.
«Betreutes Wohnen ist im Grunde nichts anderes als eine WG, nur dass die Betreuer ihre Aufgabe ernst nehmen», stimmte Regina ihrem knapp zwanzig Jahre älteren Bruder zu. «Frag mal die Leute, die da wohnen, die fühlen sich sauwohl!»
«Wahrscheinlich hast du recht», sagte Arne.
Sönke verstand die Welt nicht mehr, was war nur mit Arne los? Die Heimdiskussion hatten sie vor einem Jahr schon mal geführt, als Oma den Herd angelassen und damit fast ihre Wohnung am Sandwall abgefackelt hätte. Da war Arne noch empört gewesen, dass ein Heim überhaupt in Erwägung gezogen wurde. Oma war einer Entscheidung zum Glück zuvorgekommen, indem sie auf eigene Faust mit Christa zu Ocke nach Dunsum gezogen war.
Regina setzte noch einen drauf: «Wir sollten Mama von der Insel aufs Festland bringen. Mit etwas Abstand könnte alles viel entspannter sein.»
In diesem Moment hörte der Regen schlagartig auf, und die Sonne eroberte einen kreisrunden Ausschnitt über den Dünen von Amrum.
«Oma hat ihr Leben lang auf Föhr gelebt», empörte sich Sönke. «Du spinnst ja wohl total!»
Jetzt stiegen Regina die Tränen in die Augen. «Im Gegensatz zu dir bin ich gebürtige Insulanerin. Und ich möchte weiter hier leben, und zwar ohne ständigen Ärger! Ich werde hier noch zur Außenseiterin. Das klingt vielleicht egoistisch, aber es ist so.»
Sönke schnappte nach Luft. «Oma ist vollkommen klar. Okay, sie hatte zwischendurch eine kleine Schwächeperiode, aber was soll sie in einem Heim?»
«Genau umgekehrt, mein Lieber! Mama ist altersschwach und hatte gerade ihre letzte Hochphase.»
«Quatsch.»
«Mann, Sönke, Imke dreht nicht auf – sie baut ab! Das wird uns allen mal so gehen.»
«Mag sein, aber zurzeit ist sie vollkommen klar.»
Regina hob abwehrend die Hände.
«Kompromiss!», rief sie, «das mit dem Festland vergessen wir. Aber in der Wohngruppe ‹Schmetterlinge› hier in Utersum ist ein Platz frei geworden …»
«Schmetterlinge? So nennt man Wickelgruppen in Kindergärten.»
«Du bist Mamas gesetzlicher Vormund, Sönke. Und du hast Christa als Pflegerin eingesetzt.»
«Dazu stehe ich auch!»
«Omas Wattwanderung und die Party werden sich bis zum Amt herumsprechen, da sei mal sicher.»
«Soll das eine Drohung sein?»
«Imke ist immer noch meine Mutter, und ich möchte, dass es ihr gut geht. Ich möchte, dass Christa die Pflege abgibt, sonst garantiere ich für nichts.»
«Und wie soll es ohne Christa weitergehen in der WG?»
«Gar nicht.»
Sönke erhob sich. «Ich rede erst einmal mit Christa, ja? Dann sehen wir weiter.»
Das hätte er nach Omas Wattwanderung längst tun sollen. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.