3. Flucht übers offene Meer
«Also, meine Lieben», sagte Christa, als Imke wieder da war, «wir kriegen morgen eine Menge Besuch, und es sieht überall aus wie Sau. Wir brauchen eine Putzaktion, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!»
Imke schaute sie missmutig an, Hausarbeit war noch nie ihre Sache gewesen. Als Mutter von vier Kindern hatte sie sich diesbezüglich immer irgendwie durchgemogelt, aber nie Ehrgeiz entwickelt. Die einzige Ausnahme war das Kochen, was schon als Jugendliche ihr Hobby gewesen war. Christa und Ocke erwarteten jetzt sicherlich keine Höchstleistung von ihr, sie sollte lediglich die Pflanzen im Gemeinschaftszimmer abstauben, aber selbst das war ihr zu viel. Morgen würden um die hundert Gäste kommen und ohnehin alles wieder einsauen, dafür wollte sie nicht ihre Kräfte verschwenden. Also erklärte sie Christa und Ocke, dass sie noch ganz dringend etwas frische Luft auf dem Deich schnuppern müsse, um fit zu werden. Die beiden ahnten wohl, dass sie sich drücken wollte, sagten aber nichts.
Der Wind hatte etwas nachgelassen, die Sicht war klar. Langsam schlenderte Imke in Richtung Deich, den viele Menschen zum natürlichen Landschaftsbild der Insel Föhr zählten, obwohl er ja ein künstlich aufgeschüttetes Bollwerk war. Schon nach den ersten Schritten war sie, trotz ihres bedächtigen Tempos, aus der Puste. Der Deich baute sich vor ihr auf wie ein alpines Bergmassiv – lächerlich! Das war mal ganz anders gewesen, erinnerte sie sich. 1972, als es in Deutschland die sogenannte Trimm-Dich-Aktion gegeben hatte, die die Leute dazu bringen sollte, mehr Sport zu treiben, war auch im Kurpark ein Trimm-Dich-Pfad installiert worden. Imke hatte als Erste den Parcours mit Klimmzügen und Bauchmuskelübungen in einem dunkelblauen Polyacryl-Trainingsanzug absolviert. Der Wyker Bote hatte sogar ein Foto von ihr auf Seite eins gebracht. Seitdem betete sie zu Gott, dass er das Zeitungsarchiv durch Feuer oder Sturmflut vernichten möge, denn ihre Frisur und die weißen Schweißbänder an Stirn und Handgelenken machten sie im Nachhinein zu einer Karikatur. Leider hatte der Herrgott sie bisher nicht erhört.
Imke schaute auf einen Ohrenkneifer vor ihren Füßen, der blitzschnell zwischen den Grashalmen davonhuschte; sie beneidete ihn für seine Mühelosigkeit. Auf keinen Fall würde sie aufgeben. «En betj gongt immer», murmelte sie ihr friesisches Mantra vor sich hin, «ein bisschen was geht immer». Das gab ihr das letzte Quäntchen Kraft, das ihr gefehlt hatte.
Als sie endlich die Deichkrone erreichte, kam sie sich vor wie auf dem Siegertreppchen bei der Olympiade. Ihr Herz hüpfte, als stünde sie hier das erste Mal. Sie schaute in den riesigen Himmel über dem Watt, von gegenüber leuchtete ihr die sonnenverwöhnte, sandige Südspitze von Sylt entgegen. Imke schloss die Augen und ließ ihr Gesicht vom Wind massieren. Er hatte heute genau die Stärke, die ihn zärtlicher sein ließ als jede menschliche Hand. Sanft strich er ihr über die Stirn, füllte mit leichter Kühle ihre Augenhöhlen und berührte fast unmerklich ihre Wangen. Dann drehte er und nahm sich vorsichtig ihren Nacken vor.
Sie ging den vertrauten Weg zum Watt hinunter. Der Meeresboden unter ihr war weich, aber nicht so nachgiebig wie sonst. Erst nach einigen Metern bemerkte sie, woran das lag: Sie trug noch ihre Ledersandalen. Auch wenn sie vorhatte, nur ein paar Schritte zu gehen, wollte Imke den warmen Schlick unter ihren Füßen spüren. Also zog sie die Schuhe aus und legte sie auf eine kleine Muschelbank, auf dem Rückweg würde sie sie wieder einsammeln. Ihre grün lackierten Fußnägel leuchteten auf dem Wattboden wie Steuerbordbojen.
Jetzt hielt sie direkt auf Sylt zu. Die Nachbarinsel sah verlockend nahe aus, aber sie wusste, man konnte sie zu Fuß nicht erreichen. Der direkte Weg wurde durch einen tiefen Priel unterbrochen, der auch bei Ebbe nicht trocken lief. Es war einer der Gründe dafür, warum die Beziehung der Föhrer zu Sylt traditionell nicht so eng war wie die zu Amrum, was sich auch in der Sprache zeigte: Das Amrumer und das Föhrer Friesisch waren ähnlich, während das Sylter Friesisch für Föhrer nahezu unverständlich war. Plötzlich wusste Imke nicht mehr, ob sie die Geschichte mit dem Priel wirklich glauben sollte. Die Berliner Mauer war ja auch gefallen, obwohl es keiner für möglich gehalten hatte. Das Wattenmeer veränderte sich jeden Tag, vielleicht gab es den Priel überhaupt nicht mehr.
Also auf nach Sylt!
Im Gegensatz zu dem warmen Schlick war der Wind recht kühl. In ihrem weißen T-Shirt mit den bunten Pailletten war die Temperatur gerade so auszuhalten. Ein Gutes hatte die Brise auf jeden Fall: Sie kam von hinten und hielt sie frisch, sodass Imke sich viel stärker fühlte als vorhin auf dem Deich. Ihr fiel ein, dass sie gar kein Geld dabei hatte, falls sie sich auf Sylt ein Fischbrötchen kaufen wollte. Aber das würde sich finden.
Unbeirrt hielt sie auf den Leuchtturm von Hörnum zu, den sie seit frühster Kindheit bei allen Wetterlagen und Jahreszeiten kannte. Die Wolken am Himmel spiegelten sich in den unzähligen Pfützen, wodurch Oben und Unten zu einem großen Ganzen verschwammen.
Nachdem sie etwa eine halbe Stunde durchs Watt gewandert war, ging ihr plötzlich die Luft aus. Ein Schwächeanfall, noch schlimmer als vorhin auf dem Deich. Sie wusste, was das bedeutete: Ein paar Seemeilen weiter lauerten Millionen Tonnen grimmigen Meerwassers, die in ungefähr zwei Stunden alles ersticken würden, was nicht Meerestier war. Das war ihr sicherer Tod!
Ihr Herz begann zu rasen, sie schwitzte und zitterte, ihr wurde kalt. Plötzlich sehnte sie sich nur noch nach Erlösung. Das erste Mal in ihrem Leben wäre sie einverstanden damit gewesen, sich der Flut zu überlassen. Ihr fiel ein, dass sich bei den Eskimos die Alten auf einer Eisscholle aussetzen ließen, wenn die Zeit gekommen war, damit sie der Gemeinschaft nicht länger zur Last fielen.
Doch dann kam ihr Johannes in den Sinn. Wenn sie sich aufgab, beendete sie damit ihre Liebe, das konnte sie ihm nicht antun. Er brauchte sie und sie ihn. Unschlüssig schaute sie sich um: Amrum, Sylt und das Festland waren gleich weit entfernt, wohin sollte sie gehen? Natürlich zu Johannes! Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte, jeder Schritt war so anstrengend wie ein ganzes Fußballspiel. Erste Vorboten der Flut leckten bereits über die Wattfläche, zudem hatte sie irrsinnigen Durst, was ihr angesichts der heranrückenden Wassermassen fast grotesk erschien. Schließlich schien Amrum zum Greifen nahe, der Wind wehte ein paar Sandkörner von den weitläufigen Dünen herüber. Doch zwischen ihr und der Insel lag noch ein Priel, der sich rasend schnell füllte. Sie hatte sehr viel Zeit verloren, der Wasserstand war bedenklich, die Strömung reißend. Ohne zu zögern, zog sie sich ganz aus und stieg nackt in das eiskalte Wasser, das ihr bis zur Brust ging, ihre Klamotten trug sie auf dem Kopf.
Es ging gerade so.
Als sie den Priel erfolgreich durchwatet hatte, zog sie sich die Sachen wieder über die nasse Haut und schleppte sich mit allerletzter Kraft auf den asphaltierten Feldweg Richtung Norddorf. Ein stark auffrischender Rückenwind unterstützte sie dabei, sonst hätte sie es wohl nicht geschafft. Die sandigen Dünen neben dem Weg wurden abgelöst durch Weiden, auf denen schwarzbuntes Vieh graste, dann erreichte sie die Kreuzung Oode Waii / Bideelen, wo Johannes’ rot geklinkerte Doppelhaushälfte mit dem hohen, steilen Dach stand. Das Haus kannte sie seit vierzig Jahren, es war ihr weitaus vertrauter als die WG-Räume, die sie seit einem Jahr bewohnte.
Wenn die Kreisel in ihrem Kopf allerdings noch ein paar Sekunden so weiter tanzten, würde sie ohnmächtig zu Boden fallen. Bitte nicht, so kurz vorm Ziel!
Vor dem Eingang parkte ein großer kakaobrauner Kombi mit Dachreeling, den Imke noch nie gesehen hatte. Wo war der gute alte Lada geblieben, der für Johannes als Russisch-Dozent eine Art Aushängeschild gewesen war?
Die schwere braune Eingangstür war nicht abgeschlossen. Fast schaffte sie es nicht, die Klinke herunterzudrücken, so schwach war sie. Im Flur roch es anders, als sie es in Erinnerung hatte, und Johannes hatte die Schwarzweißfotos vom Watt abgehängt und durch Farbfotografien fremder Leute ersetzt. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Stimmen, Johannes hatte wohl Besuch. In diesem Zustand mochte sie ihm nicht entgegentreten, was sollte er von ihr denken? Er kannte sie als modebewusste Frau und nicht als Häufchen Elend.
Sie hatten sich einige Zeit nicht gesehen.
Wann war das letzte Mal gewesen?
Sie konnte sich nicht erinnern, und plötzlich war es ihr auch egal, sie wollte nur noch schlafen. Also kämpfte sie sich die Holztreppe in den ersten Stock hoch. Auf den Stufen lag noch der alte rote Bastteppich, der unangenehm unter ihren nackten Fußsohlen kratzte. Sie wankte durch die erste Tür, hier befand sich das Schlafzimmer. Auch diesen Raum hatte Johannes vollkommen neu eingerichtet, hier stand jetzt ein wuchtiges Doppelbett, und die Schränke waren alle ausgewechselt. Das hatte er gar nicht erwähnt, es sollte wohl eine Überraschung sein. Neben dem Bett entdeckte sie eine halbvolle Wasserflasche, die sie in hastigen Zügen austrank. Dann legte sie sich, ohne sich auszuziehen, aufs Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.
Dass die Urne mit Johannes’ Asche seit zwei Jahren auf dem Grund der Nordsee lag und dieses Haus längst anderen Leuten gehörte, hatte sie glatt vergessen.