21. Ständchen
Nach dem Gespräch mit Dr. Kohfahl fühlte sich Ocke wie ausgewechselt. Dabei war das, was der Psychologe ihm geraten hatte, nicht gerade höhere Mathematik gewesen: «Zeig ihr, was du fühlst, und sei ihr immer zugewandt.» Kohfahl hatte recht, Ocke hatte sich vor Christa eher versteckt, als ihr seine Gefühle offen zu zeigen. Davon abgesehen war er ohnehin niemand, der viel und gern redete. Und wenn es drauf ankam, verstummte er vollständig. «Wenn Sie kein Redner sind, reden Sie nicht!», hatte ihm Kohfahl geraten. «Das geht nur schief.»
Singen war etwas anderes. Ocke sang gerne und viel, wenn auch selten öffentlich. Damals auf hoher See hatte er oft mit seiner Gitarre an Deck gehockt und mit Seemannskollegen aus allen Ländern zusammen musiziert. Von philippinischen Chorälen bis zu Südseegesängen der Kiri-Batis hatte er viele Lieder gelernt, und er sang sie immer noch, wenn er allein im Taxi saß. Kohfahl hatte das aufgegriffen und auf den Punkt gebracht: «Werben Sie um Ihre Christa! Bringen Sie ihr ein Ständchen!» Für Ocke hörte sich das altmodisch im besten Sinne an: Es war eine alte Mode, die schon die Minnesänger im Mittelalter angewandt hatten.
Er hatte sich also seinen besten schwarzen Anzug angezogen – den Christa noch nie an ihm gesehen hatte –, dazu ein weißes Hemd. Vorher war er noch zum Friseur gegangen, seine ehemals wuseligen Haare waren nun sportlich kurz geschnitten, der Bart war verschwunden. Vom früheren Seebär war nichts mehr zu ahnen. «Es ist nicht wichtig, was Sie sagen, sondern was Sie zeigen», hatte Kohfahl ihm gesagt. «Und da können Sie ihr nichts vormachen, Ihre Körpersprache wird Sie immer verraten. Mit anderen Worten: Seien Sie ehrlich, das genügt.»
Ocke war sein Leben lang nach außen immer der Starke und Verlässliche gewesen, dem nichts etwas anhaben konnte. Was an sich nichts Schlechtes war. Er erinnerte sich, wie sein Kapitän auf einem Norwegentörn einmal seine Ehefrau mit an Bord genommen hatte. Als der Containerfrachter bei Windstärke neun heftig zu schaukeln begann, kam sie mit einer ausgebauten Tür über die engen Gänge gelaufen. Falls das Schiff sinken und sie es nicht rechtzeitig ins Rettungsboot schaffen würde, wollte sie etwas haben, woran sie sich festhalten konnte. Ocke hatte ihr die Tür mit gutem Zureden abgenommen und stundenlang mit ihr Mensch ärgere Dich nicht gespielt, damit sie abgelenkt war und der Kapitän an Bord sein Gesicht nicht verlor.
Er war stets der «Kümmerer» gewesen. Zu ihm waren die Kollegen mit Familienproblemen gekommen, und wenn es mit der Frau nicht mehr klappte, hatte er immer ein offenes Ohr gehabt. Nicht, dass er tolle Lösungen anzubieten hatte, aber die Seeleute fühlten sich schon besser, wenn da jemand vor ihnen saß, der einfach nur zuhörte. Er selbst hätte auch gerne so einen Zuhörer gehabt. In der Zeit mit Uschi war sie das gewesen, aber die Beziehung hatte ja nur ein Jahr gehalten, und wenn er seine große Fahrt abzog, sogar nur ein halbes. Geendet hatte sie in einer Katastrophe, wie er sie nicht noch einmal erleben wollte.
Jetzt stand er an Christas Fenster und klimperte die ersten Akkorde auf der E-Gitarre. Sie fühlten sich fremd an. «Es ist wichtig, dass Sie beim Singen den Boden spüren», hatte Kohfahl gesagt. Und tatsächlich, wenn er sich darauf konzentrierte, fühlte es sich so an, als ob seine Fußsohlen Wurzeln in die Erde schlugen. Seine zarte, helle Männerstimme kam sehr klar durch die Gesangsanlage. Er wollte sich nicht mehr verstecken, sondern ohne Schnörkel klarstellen, worum es ging. Deswegen hatte er sich den Soul-Klassiker When a man loves a woman ausgesucht. Seine Stimme war nicht besonders kräftig, aber authentisch:
When a man loves a woman, can’t keep his mind on nothing else
he’d trade the world for the good thing he’s found.
If she is bad he can’t see it she can do no wrong,
turn his back on his best friend he puts her down.
Ocke wusste, dass Christa gestern Abend früh ins Bett gegangen war, sie hatte ziemlich frustriert gewirkt. Im besten Falle hatte sie Ärger mit ihrem Stefan gehabt, was ihm Mut machte. Immerhin hatte sie nicht bei ihm übernachtet und er auch nicht bei ihr.
Auch Ocke hatte sich früh hingelegt und statt der üblichen Flasche Bier einen Pott Salbeitee getrunken, der gut für die Stimme war. Er wollte nichts unversucht lassen, um Christas Herz zu erobern. Nun gab es kein Zurück mehr, er stand kurz vorm Refrain. Ein gutes Gefühl – mit flauem Magen!
Ocke stellte sich vor, wie Christa gerade aus tiefsten Träumen erwachte und die Musik im ersten Moment nicht zuordnen konnte. Sie wohnten ja nicht an einem Touristenboulevard mit hundert Straßenmusikern am Tag, sondern am Rand der Marsch hinterm Deich. Noch waren die Vorhänge geschlossen, Ocke sang weiter.
When a man loves a woman spend his very last dime
trying to hold on to what he needs.
He’d give her all his comforts sleep out in the rain
if she said that’s the way it oughta be.
Dann wurden die Gardinen beiseitegeschoben und das Fenster geöffnet. Ocke konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, das leichte Zittern seiner Stimme unter Kontrolle zu bekommen. Christas Kopf mit dem verwuselten Haar tauchte am Fenster auf. Obwohl Ocke sie gerade aus dem Schlaf gerissen hatte, sah sie gerührt aus. Nun schloss er die Augen. Er hatte gesehen, was er zu sehen gehofft hatte. Jetzt wusste er nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch schaute. Ocke hatte alles genau so umgesetzt, wie es ihm sein Therapeut empfohlen hatte: «Wenn Ihre Christa dadurch nicht bewegt wird, hat sie ein Herz aus Stein.»
Das Lied war zu Ende, Ocke öffnete die Augen, Christa lächelte ihn durchs offene Fenster an. Dieses Lied galt nur ihr, und das wusste sie nun. Ocke erwartete nicht, dass er sie im Sturm erobern würde. Zumal sie zusammen lebten und einen Alltag teilten, der für sich gesehen alles andere als aufregend war. Doch ab jetzt würde immer etwas anderes, ganz und gar nicht Alltägliches darunter hervorschimmern. Wo auch immer die Reise hinging, das Schiff hatte abgelegt.