5. Imke und die Mondgesichter

Die pralle Nachmittagssonne, die durch das Giebelfenster aufs Bett schien, weckte Imke aus einem tiefen Schlaf. Wo war sie? Verwirrt drehte sie sich zur Seite und erschrak: Vom Nebenbett starrten sie vier bebrillte Mondgesichter an. Ein runder, blasser Vaterkopf um die vierzig, ein runder Mutterkopf und zwei Zwillingsmädchen, die nicht ganz so kugelig waren wie ihre Eltern. Die starken Brillengläser ließen ihre Augen erheblich größer erscheinen – wie bei Fischen vor einer Aquariumsscheibe. Offenbar besaß die ganze Familie die gleiche Sehschwäche. Keiner sagte etwas, die Fische starrten sie nur stumm an.

Imke schaute stumm zurück.

«Dr. Bösinger», stellte sich der kalkblasse, rundliche Mann nach einiger Zeit vor. Er saß in einer kurzen khakifarbenen Hose am Rand des Bettes. Wenn man ihm einen Tropenhelm aufsetzte, würde er einen perfekten britischen Kolonialherrn aus dem vorletzten Jahrhundert abgeben. Er hatte einen Seitenscheitel, die Kopfhaut war von der Sonne verbrannt.

«Bösinger», stellte sich nun die Frau vor. Sie trug ebenfalls kurze Hosen und eine khakifarbene Bluse.

«Wer bist du?», fragte einer der Zwillinge. Beide Mädchen trugen weiße T-Shirts mit einem stilisierten Fisch, wie man ihn manchmal auf den Rückfronten von Autos sah, das Zeichen der radikalen Christen.

«Imke Riewerts», Imke richtete sich auf.

«Angenehm», sagte Herr Bösinger.

«Wir sind die Bösingers», fasste die Frau noch einmal zusammen. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt, ihre Augen blieben kalt und abweisend. «Und das hier ist unser Ferienhaus.»

Plötzlich wurde Imke klar, wo sie sich befand: im ehemaligen Haus von Johannes! Die Möbel waren zwar neu, aber sie erkannte das Schlafzimmer wieder. Was war geschehen?

Langsam erinnerte sie sich. Sie war den ganzen Vormittag durchs Watt gelaufen. Anschließend musste sie einen Schwächeanfall erlitten haben, denn sie wusste nicht mehr, wie sie in dieses Bett gekommen war. Wie gerne wäre sie weiter verwirrt gewesen, dann müsste sie sich jetzt nicht so sehr schämen …

Aber so? Wie kam sie hier wieder raus?

«Ich finde dich lustig», sagte eines der Mädchen und lachte.

Wenigstens das.

«Unten warten Kaffee und Kuchen auf Sie», sagte Frau Bösinger mit freundlicher Stimme. Doch ihre Augen hatten sich immer noch nicht aufgehellt, sie blieb misstrauisch.

«Ich beziehe erst einmal das Bett neu», schlug Imke vor.

«Das mache ich schon. Gehen Sie doch schon mal ins Badezimmer, ich habe Ihnen ein Handtuch hingelegt.»

Es klang nicht wie ein Angebot, sondern wie ein Befehl.

Imke erhob sich.

«Wo sind meine Schuhe?»

«Sie sind barfuß gekommen», erklärte Herr Bösinger. Ganz vage dämmerte Imke, dass sie ihre Schuhe im Dunsumer Watt zurückgelassen hatte.

«Das Badezimmer ist …», rief Frau Bösinger.

«… hinten rechts, ich weiß», sagte Imke.

Die Bösingers schauten sich erstaunt an.

Erleichtert stellte Imke fest, dass das Bad immer noch das alte war: Die blass-orangen Kacheln waren an einigen Ecken abgeplatzt, die Armaturen hatten Patina angesetzt, die sich vermutlich auch mit Gewalt nicht mehr abschrubben ließ. Sie zog ihr T-Shirt aus und versuchte die klamme Jeans herunterzuziehen. Ärgerlicherweise hatte sie vergessen, die Tür abzuschließen, was Frau Bösinger nachholte, denn sie war inzwischen ins Bad gekommen.

«Ich helfe Ihnen.»

Widerspruch zwecklos.

Frau Bösinger zerrte Imke die Jeans vom Leib, dann machte sie sich an ihrem Slip zu schaffen.

«Das schaffe ich selbst», protestierte Imke.

Vergebens, Frau Bösingers Pflegerinnenhände akzeptierten keine Selbstbestimmung.

Nackt stieg Imke unter die Dusche, während Frau Bösinger die «richtige» Temperatur einstellte, die Imke viel zu kalt war. Das Wasser prasselte auf sie nieder, und plötzlich musste sie daran denken, wie sie sich unter der Dusche mit Johannes geliebt hatte. Es fühlte sich wie gestern an. Doch da stellte Frau Bösinger den Hahn auch schon wieder aus, offensichtlich reichte es.

Ersatzkleidung hatte sie auch schon bereit gelegt: eine viel zu weite Jogginghose, die Herrn Bösinger gehören musste, und ein weißes T-Shirt, ebenfalls mit einem stilisierten Fisch darauf.

«Malen Sie Ihre Zehen immer so an?», fragte Frau Bösinger.

Imke starrte auf ihre quietschgrünen Nägel. Am liebsten wäre sie sofort abgehauen, aber dann würden die Bösingers bestimmt die Polizei rufen. Es war taktisch klüger, nett zu sein, ein bisschen Kuchen zu essen und sich dann höflich zu verabschieden.

 

Herr Bösinger wartete bereits am gedeckten Kaffeetisch im sonnenbeschienenen Garten auf sie. Hier hinterm Haus war es windgeschützt und damit etliche Grad wärmer als auf der Seeseite, wo der Nordseewind heftig blies.

«Machen Sie hier Urlaub?», erkundigte sich Herr Bösinger in fröhlichem Plauderton. Was wie ein nettes Gespräch klingen sollte, fühlte sich an wie ein Verhör.

«Nein, ich wohne auf Föhr.»

«Ah, das ist ja interessant … Dann war das ein Tagesausflug?»

Imke konnte sich jetzt deutlich erinnern, warum sie heute Morgen das Weite gesucht hatte.

«Ich hatte Putzdienst.»

«Sie wohnen in einem Heim?»

Müsste sie dann putzen?

«Nein, in einer Kommune.»

Vermutlich war es die falsche Vokabel, aber ihr fiel das richtige Wort nicht ein.

«Mit freier Liebe?», Herr Bösinger lachte nervös.

Imke spielte am Henkel ihrer Kaffeetasse herum. Wie kam sie hier bloß wieder raus?

«Ja», antwortete sie provokativ.

«Friedrich, die Zwillinge!», wies Frau Bösinger ihren Mann zurecht. Das Ehepaar warf sich verstohlene Blicke zu, als wüssten sie nun endgültig, dass Imke abgehauen war. Freie Liebe in ihrem Alter, da konnte etwas nicht stimmen.

Nun nickte Frau Bösinger ihrem Mann auffordernd zu.

«Ich möchte vor dem Essen ein Gebet sprechen», sagte er.

«Nichts dagegen», sagte Imke, obwohl sie sich schon wunderte. Bisher kannte sie, wenn überhaupt, Tischgebete nur zu den Hauptmahlzeiten.

Herr Bösinger hob mit geschlossenen Augen die Arme Richtung Himmel, und seine Frau gab ein Zeichen, dass Sie nun alle die Augen zu schließen hätten.

«Lieber Herrgott», begann er, «Vater, du hast deinen Sohn Jesus Christus auf diese Erde gesandt, um uns alle zu erlösen. Dafür möchte ich dir danken. Ich möchte dir auch danken für den Kuchen, die Sahne, dieses Ferienhäuschen …»

Imke nahm an, dass das hier länger dauern würde, also öffnete sie vorsichtig die Augen. Genau darauf hatten die Zwillinge gewartet, sie zwinkerten ihr fröhlich zu. Doch ihre Mutter, die schon so etwas geahnt hatte, öffnete nun ihrerseits die Augen und blinzelte empört dazwischen. Da sie das Gebet nicht unterbrechen durfte, blieb ihr nur die Pantomime mit angestrengt zusammengekniffenen Augen, unter besonderer Einbeziehung ihrer starken dunklen Brauen.

«… und danke, dass du uns Imke Riewerts geschickt hast …»

Imke horchte erschrocken auf: Hielten die Bösingers sie für eine Gesandte Gottes? In was für einer Sekte war sie hier gelandet?

«… bitte schenke uns deinen Segen. Amen.»

Herr Bösingers Mondgesicht, das beim Beten ganz verkniffen ausgesehen hatte, schnellte in seine ursprüngliche Form zurück und strahlte nun zufrieden in die Runde. Die Familie fasste sich an den Händen, ohne Imke auszuschließen, dann riefen sie laut «Guten Appetit» und ließen sich wieder los.

«Und nach dem Kaffee bringen wir Sie nach Hause», sagte Herr Bösinger.

«Kommt gar nicht in Frage!», protestierte Imke, «ich nehme mir ein Taxi zur Fähre.»

«Haben Sie denn Geld bei sich?»

Das war leider ein guter Einwand.

«Nein.»

Mist, sonst verließ sie das Haus nie ohne Portemonnaie.

«Ich übernehme das gerne», gab sich Herr Bösinger generös. Offenbar sollte sie das beruhigen, dabei fühlte sich Imke den Bösingers vollkommen ausgeliefert, was die irgendwie zu genießen schienen. Die ganze Zeit taten sie so, als sei sie ein Gast, den sie eingeladen hatten. Andererseits hätte es Imke schlimmer treffen können; beim Anblick einer fremden Frau im eigenen Schlafzimmer hätten andere sofort die Polizei gerufen.

Bösingers taten das nicht, sondern fotografierten sie stattdessen nach dem Kaffeetrinken von allen Seiten. Leider gehörte Imke nicht zu der Sorte Senioren, die ihre Eitelkeit schon vor dem Ableben begraben hatten. Im Gegenteil, sie war berüchtigt für ihre engen Jeans und die viel zu knappen T-Shirts in den schrillsten Farben. Außerdem war sie in Herbst und Winter Dauergast im Sonnenstudio, ihre Haut war immer lederbraun gebrannt. Insofern war es ein Albtraum, in der ausgeleierten Jogginghose von Herrn Bösinger und einem christlichen T-Shirt für die Ewigkeit auf digitalen Datenträgern festgehalten zu werden.

«Dürfte ich bitte telefonieren?», fragte Imke nun.

Das Grundrecht jedes Inhaftierten.

«Aber natürlich, liebe Frau Riewerts, Ihre Kommunarden machen sich sicher längst Gedanken, wo Sie stecken.»

Aber Imke hatte nicht vor, ihre WG anzurufen. Um Gottes willen, Ocke und Christa durften das hier nie erfahren! Dann würde Christa sie keine Sekunde mehr aus den Augen lassen, und das wäre ihrer Freundschaft nicht zuträglich. Womöglich würde sie sogar ihre Geburtstagsfete absagen, und das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Es gab nur einen, der sie retten konnte, und dessen Nummer hatte sie zum Glück im Kopf.