17. See-Neurotiker

Inzwischen ging es auf Sonnenuntergang zu. Ocke war eigentlich ein besonnener Fahrer, aber auf dem Rückweg peitschte er den alten Diesel auf hundertzwanzig. Er würde seine Koffer packen und noch heute Abend in ein Hotel aufs Festland ziehen. Auf Föhr wurde das nichts mehr mit ihm. Selbst wenn er sich eine andere Wohnung nahm, würde er Christa und Petersen auf der Insel andauernd begegnen.

Undenkbar.

Vor einigen Jahren hätte die Lösung für ihn auf der Hand gelegen: Er wäre auf große Fahrt gegangen, möglichst weit weg, nach Südamerika oder China. Heute würde es aufs Festland hinauslaufen – bloß wo? Bayern vielleicht, oder Österreich, Schottland könnte ihm auch gefallen, doch das war zu teuer.

«Hast du eine dringende Verabredung, oder was?», erkundigte sich Imke, als die Tachonadel über hundertdreißig ging – ziemlich riskant für die schmale Landstraße.

«Mein Leben lang war ich für Frauen nur der Kumpel», knurrte er.

«Und was war mit Uschi aus Bremerhaven?»

Die hatte Imke zwar nie kennengelernt, aber Ocke hatte manchmal von ihr erzählt. Ansonsten hatte er nicht viel über sein Liebesleben geredet, und Imke hatte auch nicht nachgefragt.

«Mit Uschi ging das fast ein Jahr. Dann hat sie mich mit meinem besten Freund betrogen, als ich auf großer Fahrt war.»

«Und die käufliche Liebe?»

Obwohl er gerade zwei Autos nacheinander überholte, sah er sie empört von der Seite an: «Also Imke!»

«Schau auf die Straße, bitte.»

«Okay, mit Geld habe ich es zwei-, dreimal probiert. Aber ohne Gefühl funktioniert es bei mir nicht. Eine erbärmliche Bilanz für einen Siebenundsechzigjährigen, oder?»

Imke kratzte sich am Kinn.

«Du musst was tun.»

Ocke lachte bitter auf. «Imke, mal im Ernst! Ich befinde mich auf der Zielgeraden in meinem Leben, was soll sich da noch groß ändern?»

«Noch bist du nicht tot», hielt Imke dagegen.

Ocke ging etwas vom Gas. Sie meinte es nur gut, das wusste er.

«Aber so gut wie.»

«Ach was! Dich muss nur mal jemand auf Kurs bringen. Aber einer, der sich auskennt!»

«Wer bitte sollte das sein? Wo es bisher noch nie geklappt hat?»

Imke schaute Ocke aufmerksam von der Seite an.

«Es gibt jemanden.»

«Eine Wahrsagerin, oder was?»

Imke schüttelte den Kopf.

«Nein, ein Therapeut.»

Jetzt wurde er richtig sauer. «Ich bin doch nicht verrückt!»

«Weißt du’s?»

Therapeuten hatte er höchstens mal im Kino gesehen, in der Großstadt sollten die ja richtig in Mode sein, aber er? Deprimiert sah er auf den grauen Asphalt vor ihm. «So weit bin ich also schon, deiner Meinung nach?»

«Besser als Doppelkorn aus der Flasche.»

Ocke nahm eine Hand vom Lenkrad und fuchtelte damit in der Luft herum.

«Selbst wenn, wo soll ich denn so einen Seelenklempner herzaubern, bitte sehr?»

«Es gibt sogar auf Föhr welche.»

«Na, super! Dann sehen mich alle in sein Haus huschen, oder seine Putzfrau ist gerade da, die mich vom Taxi kennt, und schon ist das rum.»

«Das stimmt», sagte Imke. «Besser, du suchst dir einen auf dem Festland.»

Ocke stöhnte auf. «Da kenne ich auch keinen. Und jedes Mal mit der Fähre nach sonst wohin tuckern, ist mir zu teuer. So hoch ist meine Rente auch wieder nicht. Was meinst du, warum ich Taxi fahre?»

«Perfekt wäre ein Psychologe, der dir auf Föhr hilft und dann aufs Festland verschwindet.»

«Vergiss es, wo sollte der herkommen?»

Imke lächelte. «Der Optikerladen in Wyk, in dem Regina arbeitet, wird von Nicole Feddersen aus Oldsum geputzt, die auch Ferienhäuser sauber macht», murmelte sie. «Die hat mal von einem Psychologen aus Essen erzählt, der ein Haus in Goting besitzt. Ich habe den Mann sogar kurz kennengelernt, auf einer Parkbank in Nieblum. Ein smarter Typ, Ende dreißig, hohe Stirn, gute Manieren. Angeblich kommt er jedes zweite Wochenende mit dem eigenen Flugzeug von Essen nach Föhr, er muss also sehr erfolgreich sein.»

«Was erzählst du denn da für ein Zeug?»

«Jetzt fällt mir sein Name wieder ein, Dr. Kohfahl. Das ist dein Mann!»

«Weil du mit ihm auf einer Parkbank gesessen hast?» Das war wieder eine von Imkes Schnapsideen.

«Bieg ab», rief Imke, «wir müssen nach Witsum.»

Ocke zögerte. Einerseits glaubte er nicht an diesen ganzen Psycho-Quatsch, andererseits hatte er tatsächlich nichts zu verlieren, da hatte Imke recht. Also nahm er den Weg nach Witsum über die sogenannte Traumstraße. Konnte es einen schöneren Weg zu einem Seelenklempner geben?

 

Als Ocke in den schmalen Ual Hiaswai abbog, wurde ihm mulmig zumute. Imke hatte auf der Fahrt ein Nickerchen gemacht und öffnete jetzt die Augen.

«An der nächsten Kreuzung musst du rechts ab», sagte sie.

Es war eine Sackgasse mit dem Hinweis «Keine Wendemöglichkeit». Das Haus von Kohfahl war das letzte in der Straße. Ocke fuhr erst einmal ein paar Meter daran vorbei und stellte den Wagen dann auf einer Wiese ab.

«Ich überleg’s mir noch mal.»

«Das ist deine letzte Chance», sagte Imke und stieg aus.

Das riesige Reetdachhaus war an sich schon ein Traum, aber es stand auch noch auf einem der seltenen Hügel auf der Insel. Von der leichten Anhöhe aus schaute man über die Godelniederung und das Wattenmeer auf die Insel Amrum mit dem Leuchtturm in Nebel. Schöner ging es nicht. Dort unten am Wasser hatte Ocke am Donnerstag gestanden, als er vor der Fete geflohen war. Noch während er überlegte, an welchem der beiden Tage er sich schlechter gefühlt hatte, heute oder am Donnerstag, klingelte Imke an der Haustür. Ocke kam sich vor wie ein Volltrottel. Auf einen Samstagabend störte man niemanden, der nur übers Wochenende auf Föhr war, und schon gar nicht mit so einem Kinderkram!

Ein leicht verschlafener Mann öffnete die Tür. Er war barfuß, trug Shorts und ein albernes T-Shirt mit einer Diddl-Maus. Trotzdem sah er aus wie aus einem Reklame-Katalog, energisches Kinn, volle Haare, selbstbewusster Blick, höchstens Ende dreißig.

Neben seinem guten Aussehen verdient er auch noch viel Geld, dachte Ocke. Manchen schenkte es der Herrgott wirklich im Schlaf …

«Moin, ich bin Imke Riewerts, ich kenne Ihre Putzfrau Nicole Feddersen um ein paar Ecken. Und wir haben uns schon mal auf einer Bank in Nieblum getroffen. Das ist Ocke Hansen.»

«Moin», grummelte Ocke und blickte zu Boden.

Kohfahl brauchte eine Sekunde, dann erinnerte er sich.

«Richtig», sagte er und lächelte. «Sie haben mir damals geraten, meine Jugend zu verschwenden und bloß nicht zu vernünftig zu werden.»

Imke legte ihren unwiderstehlichen Augenaufschlag auf. «Das soll ich gesagt haben?»

Statt einer Antwort bat Kohfahl sie herein. Er führte sie durch einen langen Flur und ein riesiges Wohnzimmer mit Kamin auf eine windgeschützte Terrasse, wo ein Strandkorb stand. Zahlreiche Bücher und Zeitschriften lagen auf einem großen Holztisch und überall auf dem Boden herum.

«Entschuldigen Sie bitte die Unordnung», sagte Kohfahl, «aber ich lasse mich gerade so richtig gehen.» Er packte ein paar Zeitungen vom Strandkorb auf den Tisch. Erstaunlicherweise hatte er nicht einmal gefragt, worum es ging. Imke musste einen guten Eindruck bei ihm hinterlassen haben. Es war auch besser so, denn sonst hätte er sie bestimmt gleich wieder weggeschickt. Der wollte hier Ferien machen und nicht arbeiten!

Imke setzte sich gar nicht erst hin, sondern kam gleich zur Sache: «Nicole Feddersen hat mir gesagt, Sie sind Psychologe, und ich habe ein Problem.»

Ocke wurde schlecht.

Kohfahl lächelte immer noch.

«Oh, das ist ein Irrtum. Ich arbeite in der Personalabteilung eines Energiekonzerns.»

«Aber Sie haben Psychologie studiert, oder nicht?», fragte Imke.

«Schon, aber das ist ein weites Feld. Was Sie suchen, ist ein Therapeut.»

Ocke hatte gleich gewusst, dass dies hier eine Panne-Aktion war. Ihm konnte sowieso keiner von diesen kackschlauen Seelenklempnern helfen.

«Um mich geht es gar nicht», sagte Imke. «Es geht um meinen Freund hier, Ocke Hansen. Der braucht Hilfe.»

Kohfahl schaute Ocke an. «So?»

Am liebsten wäre Ocke im Boden versunken. Die ganze Situation war vollkommen absurd. Eine alte Frau, die Kohfahl nicht kannte, bat ihn, einen alten Mann, den er auch nicht kannte, zu therapieren, obwohl er gar kein Therapeut war. Und das im Urlaub, in seiner eigenen Villa!

«Äh.»

«Ich wohne in einer WG, und er ist mein Mitbewohner», ergänzte Imke.

Kohfahl blinzelte Imke amüsiert an: «Sie wohnen in einer WG

«Das ist cool, oder?»

Kohfahl lachte.

Sie waren vollkommen falsch hier! Ocke brauchte keinen Top-Manager, der es bis nach ganz oben geschafft hatte, für solche Menschen war er der geborene Verlierer.

«Mein Studienschwerpunkt lag, wie gesagt, im Personalmanagement.»

«Psychologe bleibt Psychologe. Sie haben mit Sicherheit ein paar mehr Tricks drauf als der Schnitt der Bevölkerung.»

«Was ist mit Freunden?», fragte Kohfahl Ocke.

Er hatte recht, es war erbärmlich.

«Freunde sind schön und gut», sagte Imke, bevor Ocke sich erklären konnte. «Aber er braucht einen neutralen Ratgeber.»

«Was erwarten Sie von mir?», erkundigte sich Kohfahl.

«Lass uns wieder gehen», bat Ocke und wandte sich an Kohfahl. «Tut mir leid, dass wir Sie gestört haben.»

Kohfahl schaute ihn an und legte seine Stirn in Falten. «Es ist schon etwas verrückt, dass Sie zu mir kommen. Im Büro würde mir so etwas nie passieren. Da ist der ganze Tag verplant, und meine Assistentin hält mir alles Unvorhergesehene vom Leib, was gar nicht anders geht bei meinem Terminplan. Aber auf der anderen Seite ist es auch stinklangweilig.»

Sie schwiegen eine Weile

«Also gut, ich kann es probieren», sagte Kohfahl. «Aber ohne Garantie.»

«Jetzt oder nie, Ocke Hansen!», rief Imke und huschte grußlos hinaus.

 

Ocke stand mitten auf der fremden Terrasse und wusste nicht wohin mit sich. Das schlimmste Orkantief seines Lebens raste auf ihn zu, und er saß allein in einer Nussschale ohne Ruder. Ihm war so unwohl, dass es ihn am ganzen Körper schüttelte.

«Muss ich mich hinlegen?», erkundigte er sich zaghaft.

«Hinlegen?»

«Na, auf eine Couch.»

Kohfahl lachte. «Wo denken Sie hin? Nein, kommen Sie …»

Er führte Ocke an einen kleinen Holztresen in einer lauschigen Ecke des Gartens, die von Büschen und Sträuchern umgeben war. Die Sonne stand als roter Feuerball über dem Meer.

«Bier», fragte Kohfahl, «oder was Härteres?»

«Ist das denn erlaubt beim Therapieren?»

«Bei mir ja.»

«Bier klingt sympathisch.»

Kohfahl fischte aus der Bar zwei Flaschen heraus, beide tranken ohne Glas, was Ocke sehr entgegenkam. Er stellte sich vor, dass Kohfahl kein Psychologe war, sondern ein Barmann, und schon fühlte sich alles deutlich entspannter an.

«Dann mal raus damit», forderte Kohfahl ihn auf.

Ocke holte tief Luft und atmete aus. Aber es war noch viel schwerer, als er gedacht hatte. Die Worte blieben ihm einfach im Hals stecken. So etwas hatte er noch nie erlebt. Das Ganze also noch einmal: Tief einatmen, ausatmen …

«Genau genommen habe ich mich verliebt», kam es dann mit heiserer Stimme. Er räusperte sich und ergänzte: «Bloß sie hat einen anderen.»

Kohfahl sah ihn erstaunt an. Probleme mit der Liebe waren wohl nicht gerade das, was er von einem Mann in Ockes Alter erwartet hätte.

«Sind Sie sicher, dass sie sich nicht für Sie interessiert?»

«Mmh, ja.»

«Und woran machen Sie das fest?»

«Sie macht keine Annäherungsversuche.»

Kohfahl nahm einen Schluck aus der Flasche.

«Und Sie? Haben Sie ihr Ihre Gefühle mal gezeigt oder sich geäußert?»

Ocke wurde fast sauer. «Soll ich einfach meinen Arm um sie legen und sie küssen? Ich bin nicht Curd Jürgens.»

«Wer ist Curd Jürgens?», fragte Kohfahl.

«Dafür sind Sie zu jung.»

Kohfahl nickte. «Als Wirtschaftsmann würde ich sagen, greifen Sie an! Was haben Sie zu verlieren?»

Ocke nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und schüttelte den Kopf. «Obwohl es einen anderen Mann gibt?»

«Nur wer nicht kämpft, hat schon verloren.»

Der hatte gut reden, mit Villa und Flugzeug liefen ihm die Frauen bestimmt scharenweise hinterher. Aber Ocke riss sich zusammen. Es ging ja nicht um Kohfahl, sondern um ihn.

«Meinen Sie, das kann noch klappen, wenn man sein Leben lang nichts hinbekommen hat auf dem Gebiet?», erkundigte er sich vorsichtig.

«Woran lag’s denn?»

«Ich war als Seemann immer viel unterwegs.»

Kohfahl nickte begeistert. «Ich hatte einen Onkel in Emden, der war auch Seemann. Er war der Held meiner Kindheit.»

«Mal was anderes als die üblichen Stadtneurotiker, was?»

«Tja, Sie sind eher See-Neurotiker», befand Kohfahl.

«Was bedeutet das?»

«Sie sind kein Mann des Wortes, stimmt’s?»

«Schriftlich drei, mündlich fünf, würde ich sagen.» Ocke kratzte sich am Bart: «Ich bin im Shantychor. Aber was hat das in diesem Zusammenhang …?»

«Mir kommt da gerade eine Idee. Die ist zwar altmodisch, aber zielführend.»

Ocke blickte ihn in einer Mischung aus Neugier und Skepsis an.

 

Eine Stunde später kam Ocke aus dem Haus. Er tanzte geradezu auf das Taxi zu. Imke lag schnarchend auf dem Rücksitz. Ocke wollte sie schlafen lassen, aber als er den Diesel anwarf, schoss sie sofort in die Senkrechte.

«Alles klar?», fragte Ocke.

«Und selber?»

«So klar wie lange nicht.»

«Was hat Kohfahl mit dir angestellt?»

«Ich habe mir so eine Therapie immer ganz anders vorgestellt», sprudelte es aus ihm heraus. «Aber das war reines Vorurteil, muss ich zugeben. Weißt du, so ’n Therapeut ist im Grunde nichts anderes als ein Barmann.»

Imke zog skeptisch die rechte Augenbraue hoch: «Ihr habt gesoffen

«Nur ein Bierchen, ich kann noch fahren, keine Angst.»

«Hat er dich nach deiner Mutter gefragt?»

«Nee.»

«Echt nicht?»

«Nee.»

«Ich kannte deine Mutter gut, das weißt du, Ocke. Für Swantje lege ich meine Hand ins Feuer.»

Ocke rangierte das Taxi mit aufheulendem Motor rückwärts aus der Sackgasse.

«Es gibt immer einen Weg.»

«Du redest in Rätseln, Ocke. Was hat Kohfahl denn nun gesagt?»

«Wo hat Arne seine Anlage? Die er auf der Party mithatte?»

Imke überlegte. «In der Utersumer Strandkorbhalle, glaube ich.»

«Dann fahren wir dahin.»

«Ziehst du immer noch aus?», erkundigte sie sich vorsichtig.

«Erst mal nicht.»

Imke atmete laut auf.

«Alles andere ergibt sich», lachte Ocke übermütig.

Oder eben nicht.