22. Diät ist auch kein Leben

«Heute mache ich gar nichts», kündigte Ocke am nächsten Morgen nach dem Frühstück an und streckte sich auf seiner Liege aus. Ein warmer Luftzug ging über die WG-Terrasse und huschte weiter in Richtung Marsch. Hoch «Hanne» hatte ganz Nordfriesland im Griff, der Friesenwimpel überm Haus hing schlaff an der Stange. Es tat gut, richtig auszuspannen und zwischendurch einfach mal wegzudämmern. Ocke hatte sich im Gesicht mit Lichtschutzfaktor dreißig eingecremt, weil seine Haut dort, wo sein Bart jahrzehntelang gestanden hatte, schneeweiß war. Alles war getan, alles erledigt. Er schloss die Augen.

«Ich gehe nie wieder weg von dieser Terrasse», sagte Imke, die ihm gegenüber lag.

«Und gekocht wird heute auch nicht, wir lassen uns was kommen», ergänzte Christa. Sie lag im Bikini neben ihm auf der Liege.

Nach der Geburtstagsfeier und dem anschließenden Trubel schienen sie alle froh, dass wieder so etwas wie Alltag eingekehrt war. Wobei ihr Sonnenbad auf der Terrasse den Alltag natürlich um einiges toppte. Für Ocke war das alles jedoch völliger Unsinn: Er lag neben Christa und war entspannt? Wie sollte das gehen?

Nach seinem Ständchen vor Christas Fenster war für ihn nichts mehr normal in der WG, schon gar nicht ein Sonnenbad auf der Terrasse, wenn seine Liebste im Bikini direkt neben ihm lag. Das heißt, seine Liebste war sie ja nicht, sondern – ja, was eigentlich? Es war Ocke egal, dass sie das Hoch «Hanne» genannt hatten, für ihn war es Hoch «Christa» – und das würde auch so bleiben, wenn daraus ein Tief werden sollte. Wie auf Föhr alles für ihn nur noch «Christa» war: ihre ehemalige Schule, die Meierei, in der sie gelernt hatte, ihr Elternhaus in Wyk und sogar die Fähre, mit der sie so oft gefahren war. Alles, was mit ihrem Leben zusammenhing, wurde eine Sehenswürdigkeit, und die Insel war voll davon.

Ocke musste sich sehr beherrschen, um sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen und nicht permanent auf seiner Liege herumzuzappeln. Der einzige Gedanke, der ihn seit Stunden beschäftigte, war, was wohl passieren würde, wenn er einfach Christas Hand nähme. Dies war ja noch ein sehr keuscher Gedanke, aber schon der versetzte ihn in blankes Entsetzen. Natürlich musste es nach dem Ständchen irgendwie weitergehen, und auch das lag jetzt an ihm. Andererseits: Wenn Christa ihn zurückwies, würde für ihn alles zusammenbrechen, die WG und sein Leben. Wenigstens wusste sie seit gestern Bescheid über seine Gefühle. Wirklich? Oder könnte sie sein Lied auch als nette Geste werten und nicht mehr? When a man loves a Woman hätte für sie genauso Yellow Submarine sein können? Einfach nur ein schöner Song?

Auf den ersten Blick taten sie beide so, als sei alles wie immer.

Und auch wieder nicht.

Ocke nahm genau wahr, was Christa tat oder vorhatte. Er war zur Stelle, wenn sie etwas brauchte, eine Taxifahrt etwa, ein aufmunterndes Wort oder ein Stück Schokolade. Und sie war irgendwie immer dort, wo er sich aufhielt, in der Küche, auf der Terrasse. Aber das konnte auch Einbildung sein.

«Wollen wir etwas spielen?», fragte Christa.

«Bist du wahnsinnig?», sagte Imke mit geschlossenen Augen. «Mir wäre es jetzt schon zu anstrengend, einen Würfel in die Hand zu nehmen.»

«Reden?», fragte Christa.

«Worüber?»

«Ein Wortspiel vielleicht? Dafür brauchen wir keine Würfel.»

«Viel zu aufregend. Ich möchte nur noch dumpf sein.»

«Ocke?»

Ocke hätte gerne mit ihr gespielt, aber er fühlte sich befangen. Wenn er die Augen öffnete, schaute er auf Christas Bauchnabel, der bei jedem Atemzug bebte, ihre sinnlichen Lippen, den wundervollen Busen, nicht zu groß, nicht zu klein. Ein Spiel, bei dem er mitdenken musste, war in seinem Zustand eine komplette Überforderung.

«Danke, nein», brummte er.

Verdammt, jetzt hielt Christa ihn für einen Spielverderber, er hatte es endgültig vergeigt. Um sich nichts anmerken zu lassen, summte er leise die Melodie der Muppet Show. Und staunte nicht schlecht, als Christa sofort mit ihrem glockenhellen Sopran einstimmte:

Jetzt tanzen alle Puppen,

macht auf der Bühne Licht!

Macht Musik bis der Schuppen

wackelt und zusammenbricht!

 

Und dann ahmten sie unisono den knödeligen Tonfall von Kermit, dem Frosch, nach: «Die sensationellteste, fabelhaftellteste, blödelhaftellteste, muppetionellteste – ja jetzt kommt die super Muppet Show!»

«Wie geht das Lied noch mal weiter?», rief Imke amüsiert.

Bevor jemand eine Antwort geben konnte, stand der blonde Bernd, ihr Postbote, auf der Terrasse.

«Moin!»

Bernd hielt ein Päckchen und einige Briefe in der Hand. Er war ungefähr fünfzig und trug seit den siebziger Jahren immer dieselbe Frisur: lange blonde Koteletten, die dünnen Haare halb über die Ohren. Das Einzige, was sich verändert hatte, war sein Gewicht, das jedes Jahr etliche Kilo nach oben gegangen war. Ocke kannte ihn noch als spitteligen Teenager in Badehose, bei dem jede Rippe unter der Haut zu erkennen war, das konnte sich heute niemand mehr vorstellen.

«Moin, Bernd», grüßte Ocke und kam mühsam hoch. «Willst du ’nen Eistee? Oder Bier?»

Bernd überlegte nicht lange: «Biä? Gähnä.»

Er setzte sich an den großen Tisch, um den herum alle Liegen postiert waren. Ocke stand auf und reichte Bernd eine Flasche, die neben seiner Liege gestanden hatte und sogar noch einigermaßen kühl war. Bernd legte die Post auf den Tisch und blickte neidisch in die Runde.

«Euch geht das bestens, was?»

Ocke zuckte mit den Achseln.

«Wir kommen zurecht. Und selber?»

Bernd verzog das Gesicht.

«Dr. Behnke meint, bei der Post sollten wir wieder umstellen auf Fahrräder.»

Bernd kam immer mit einem knatternden Diesel-Lieferwagen.

«Wieso das denn?», frotzelte Christa. «Bis du die Briefe aus Wyk mit dem Rad bei uns in Dunsum hast, ist längst Sonnenuntergang.»

Bernd sah sie beleidigt an.

«Wenigstens im Winter», schwächte Christa ab.

«Aber Umwelt dankt», sagte Imke.

Jetzt rieb Bernd sich seinen kugelrunden Bauch: «Nee, der Dokter meint das nicht wegen die Natur, sondern wegen meine Blutwerte.»

«Ärzte sind immer viel zu streng», beruhigte ihn Ocke.

Bernd schöpfte sofort Hoffnung. «Meinst du?»

«Guck dir Dr. Behnke doch mal an mit seiner runden Plauze, ist der ein Vorbild?»

Bernd nickte. «Diät ist auch kein Leben, ich sag euch das!»

Ocke lachte: «Schon mal ausprobiert?»

«Kurz. Ist aber nicht mein Ding.»

Und so plauderten sie noch ein bisschen weiter, abwechselnd über Diäten und Schlemmereien, dann musste Bernd los. Die Post blieb erst einmal unbeachtet auf dem Tisch liegen. Seit überwiegend Rechnungen und kaum noch persönliche Nachrichten kamen, waren Briefe kein besonderes Ereignis mehr. In dem einzigen Päckchen befand sich die neue Ultraschall-Zahnbürste, die Ocke für Christa im Internet bestellt hatte. Das hatte Zeit, sie lehnten sich wieder zurück und genossen die Sonne.

«Summertime …», summte Christa, und Imke fiel mit geschlossenen Augen ein: «… and the living is easy.»

Irgendwann nahm Ocke dann doch den ersten Brief und riss ihn mit seinen schmalen Fingern auf. Zuerst sagte er gar nichts, dann starrte er nach oben.

«Nein!», rief er. «Verdammt.»

Imke und Christa hatten sich gerade eingesungen und wirkten ein bisschen sauer, dass er sie unterbrach.

«Was ist denn?», fragte Imke.

«Wir sind gekündigt worden!»

Christa und Imke schossen synchron von ihren Liegen hoch: «Was?»

Ocke hielt den Brief hoch.

«Petersen kündigt wegen Eigenbedarf, er will in dieses Haus einziehen.»

Ocke reichte Christa den Brief, die das hochoffizielle Schreiben Wort für Wort las.

«Das ist seine Rache für das Siel», stöhnte sie.

«Welches Siel?», fragte Ocke.

Christa winkte ab. «Und jetzt?»

«Ich würde sagen, das ist ein Fall für unseren WG-Anwalt», sagte Imke.

«Der da wäre?» Ocke war schleierhaft, wie sie einen Anwalt bezahlen sollten.

Imke schaute ihn verständnislos an: «Na …?»

Ocke überlegte eine ganze Weile, dann war der Groschen gefallen.

«Bösinger? Meinst du das ernst?»

«Kennst du einen anderen?»

«Du weißt nicht, was der kostet …»

Imke grinste: «Da mach dir mal keine Sorgen, der schuldet mir noch was. Aber das weiß er noch nicht.»

Ocke hatte natürlich geahnt, dass die Bösingers nicht freiwillig krumme Seehunde am Strand verkauft hatten. Zumal das Strafverfahren gegen sie anschließend wie durch ein Wunder eingestellt worden war.

«Hast du die Bösingers rausgehauen?»

Imke winkte ab. «Bin ich der Polizeipräsident, oder was?»

Doch Ocke kannte sie zu gut, als dass er ihr Dementi glauben konnte. Er fragte aber nicht weiter nach.

«Wir müssen uns wehren!», sagte Christa.

«Ach, Leute wie Petersen sitzen doch immer am längeren Hebel», seufzte Ocke resigniert.

«Ausgerechnet Stefan», hielt Christa dagegen, «dieses Weichei!»

Das hörte Ocke natürlich gerne.

«Es wäre schlimm, wenn wir unsere WG auflösen müssten», sagte Imke betrübt.

«Wer redet denn davon?», munterte Christa sie auf. «Bösinger wird uns da raushauen.»

Ocke war da nicht so sicher. «Ob der vor Gericht so schnell ist wie an der Gitarre?»

Alle mussten lachen. Imke bat Christa, von ihrem Schreibtisch die Visitenkarte zu holen, die Bösinger ihr gegeben hatte.

«Dr. jur. Friedrich Bösinger», murmelte Christa, als sie zurückkam.

«Der große Fritz», blödelte Ocke.

Imke stand auf, nahm das tragbare Telefon und verschwand damit in Richtung Marsch. Ocke und Christa sahen sich an. Wollte Imke das im Alleingang lösen? Als sie zurückkam, blickten sie Ocke und Christa erwartungsvoll an.

«Wir können jederzeit zu ihm kommen, er ist noch auf Amrum.»

«Geht das nicht telefonisch?», nörgelte Ocke. Er hatte eigentlich keine Lust, dem Mondgesicht noch mal persönlich zu begegnen.

«So was bespricht man lieber von Angesicht zu Angesicht, es ist zu wichtig.»

«Meint ihr wirklich, er ist der Richtige?», fragte Ocke.

«Als Anwalt wünscht man sich einen Pitbull, der seine Beute nicht loslässt, sobald er einen Fitzel davon zu fassen bekommen hat», sagte Imke. «Und Bösinger ist so einer.»

«Zumindest sieht er aus wie ein Pitbull», rutschte es Ocke heraus. Als Christa und Imke darüber lachten, tat er so, als sei er ehrlich über seine Worte erschrocken: «Das meine ich gar nicht so!»

«In Ordnung», erklärte Christa. «Dann fahre ich mit Ocke zu ihm. Imke, du wirst dich ein bisschen schonen. Wir regeln das.»

«Das hier ist auch mein Zuhause, ich will dabei sein», protestierte Imke und fügte beleidigt hinzu: «Außerdem ist Bösinger mein Anwalt!»

«Mensch, Imke, erst auf die Fähre und dann in den Bus nach Norddorf, das ist viel zu anstrengend», mahnte Christa. Womit sie vollkommen recht hatte.

Schließlich hatte Imke die rettende Idee: «Lasst uns mit dem Taxi auf die Fähre fahren. Ich bezahl das auch.»

«Einverstanden», sagte Ocke. Wenn er fuhr und Christa neben ihm saß, konnte Imke es sich hinten bequem machen.