2. Frühstück mit Beweismitteln

Nachdem Imkes Wohnung am Sandwall vor einem Jahr beinahe abgebrannt wäre, weil sie den Herd angelassen hatte, hatte Ocke ihr selbst vorgeschlagen, bei ihm einzuziehen. Er fand das selbstverständlich, denn es war klar, dass seine gute alte Freundin nicht mehr allein wohnen konnte, und außerdem hatte er genug Platz. Christa kam mehr oder weniger spontan mit. Sie war Imkes beste Freundin und nach dem Vorfall ganz offiziell zu ihrer Pflegerin ernannt worden. Sie bekam es hin, Imke bei Dingen zu helfen, die ihr schwerfielen, und ihr ansonsten alle Freiheiten zu lassen. Ocke unterstützte sie gerne dabei. Zugegeben, er hatte dabei auch ein bisschen aufs Geld geschielt – allein vier Zimmer zu bewohnen, war auf Dauer einfach zu teuer geworden.

Doch seit gestern Abend war für Ocke in der WG nichts mehr so wie vorher. Die halbe Nacht tigerte er in seinem Zimmer, das so eingerichtet war wie die Kapitänskajüte auf einem Handelsschiff, auf und ab. In seiner Zeit als Seemann hatte er es vom Maschinenraum aus nicht bis zum Schiffsführer gebracht und deshalb an Bord in schmucklosen Kajüten wohnen müssen. Aber das war alles ein paar Jahre her, er war nun Taxifahrer und wollte auf nichts mehr verzichten. Also hingen an der mit Teak ausgeschlagenen Wand ein Poster des Segelschulschiffs Gorch Fock und eine Wetterstation aus Messing. Ein Sekretär und zwei riesige Ledersessel standen im Raum, darüber hinaus gab es einen riesigen Flachbildschirm mit Soundsystem. Am liebsten sah er sich DVDs an, die er auf seinen Fahrten aufgenommen hatte: das Meer in allen Farben, vom Atlantik bis zur Südsee. Dazu hörte er seine Lieblingsmusik, das Meeresrauschen. Jahrzehntelang hatte er in engen Kojen geschlafen, deswegen hatte er sich in seinem Zimmer einen Bettschrank mit Seitenwänden und tiefer Decke gebaut, nur ohne Türen. Auf die Enge an Bord konnte er nicht ganz verzichten, so gelang ihm das Einschlafen immer noch am besten. Am liebsten wäre ihm gewesen, das Haus hätte auch geschaukelt, aber man konnte nicht alles haben.

Ocke war außer sich. Nach einem Jahr in der WG hatte sich so einiges bei ihm angestaut, was dringend raus musste. Seine Mitbewohnerinnen konnten einfach keine Ordnung halten, außerdem hatte er es satt, ständig übergangen zu werden. Dass Christa nachts Herrenbesuch empfing, ohne ihn zu informieren, setzte dem Ganzen die Krone auf. An Bord eines Schiffes wurde gemacht, was der Kapitän befahl, basta.

Kurz entschlossen riss er das große Poster mit der Gorch Fock von der Wand. Der Viermaster hatte Föhr im Sommer 1985 für ein paar Tage besucht, was Tausende von Schaulustigen angezogen hatte. Das Poster hatte ihm der damalige Kapitän des Segelschulschiffes höchstpersönlich geschenkt, er war gebürtiger Föhrer und ein guter Kumpel von Ocke. Aber das war längst Geschichte.

Ocke legte das Poster mit der Rückseite nach oben auf den Laminatboden. Wenn er seine Thesen schwarz auf weiß hier drauf malte, hatte das etwas Unausweichliches. Also schrieb er mit Edding in großen Blockbuchstaben seine Beschwerden zur aktuellen Lage auf. Anschließend las er sich den Text noch einmal durch und grunzte zufrieden: Ja, so war es richtig.

So leise wie möglich schlich er in den Flur, schleifte Christas Staffelei – sie war eine leidenschaftliche Malerin – vom Gemeinschaftszimmer in die Küche und befestigte das Plakat daran. So würden Christa und Imke es morgen noch vor dem Frühstück sehen.

 

Die handgemalten Thesen erlebten den Übergang von der Nacht zum Morgengrauen, lagen zwischenzeitlich im neutralen Licht grauer Wolken, um ab acht Uhr direkt von der Sonne beschienen zu werden.

Was gar nicht geht:

  1. Nach jedem Duschen bleiben Schamhaare im Abfluss!

  2. Versucht ihr, Pilze in gebrauchten Kaffeebechern zu züchten, die ihr auf dem Dachboden lagert?

  3. Holzbrettchen bekommen Risse, wenn sie nass werden. Sie haben nichts in der Spülmaschine zu suchen!

  4. Meine Zeichenstifte verleihe ich gerne – wenn man mich fragt!

Obwohl er so spät ins Bett gegangen war, wachte Ocke am nächsten Morgen viel früher als sonst in seiner Koje auf. Missmutig sah er in den sonnig blauen Himmel, am weißen Fahnenmast im Garten kräuselte sich der Wimpel mit den friesischen Farben Gelb-Rot-Blau im auffrischenden Wind. Schlechtwetter hätte ihm besser gepasst. Das alte Backsteinhaus aus dem 19. Jahrhundert wurde beidseitig von riesigen Büschen geschützt, vorne wuchs eine hohe Hecke, und auf der Rückseite schaute man auf eine Weide, hinter der sich in sattem Grün die flache Marsch erstreckte. Im Haus befanden sich vier Zimmer, Küche und Abstellräume. Das Reetdach war leider schon in den zwanziger Jahren durch feste Ziegel ersetzt worden, die weißen Sprossenfenster waren aber immer noch aus altem Holz.

Ocke wusste, dass das gemeinsame Frühstück heute anders verlaufen würde als sonst. Draußen auf dem Flur vernahm er bereits Christas Schritte. Nicht nur, dass er sie von Imkes unterscheiden konnte, er hörte auch, ob sie Strümpfe trug oder barfuß lief, und an der Art, wie sie auftrat, spürte er, ob es ihr gut ging oder nur mäßig. Heute war ihre Laune offensichtlich prächtig, was mit Sicherheit dem Herrenbesuch der letzten Nacht zuzuschreiben war. Aber wenn sie erst das Plakat erblickte, würde ihre Laune schnell auf Grund laufen.

Sein Mund wurde trocken.

Gleich würde Christa an seiner Tür klopfen und ihn zur Rede stellen. Bevor das geschah, sollte er sich lieber sturmsicher machen. Also raus aus der Koje und ab zur Tür. Behutsam drückte er die Klinke runter und linste auf den schattigen Flur.

Alles frei.

In Rekordgeschwindigkeit huschte er ins gegenüberliegende Bad und schloss ab. Das hatte ihn fast so außer Atem gebracht wie ein Viertelmarathon. Er holte den Trockenrasierer aus dem Wandschrank und begann behutsam, seinen graumelierten Bart zu stutzen. Anschließend ließ er sich unter der Dusche abwechselnd heißes und kaltes Wasser über Kopf und Nacken laufen und trocknete sich sorgfältig ab. Im Ganzkörperspiegel, den Christa in die WG mitgebracht hatte, sah sein Körper gut aus. Seine Haut war gebräunt, er war noch schlank, wenn auch nicht gertenschlank, sein Haar voll und grau. Für siebenundsechzig war er noch gut beieinander, fand er, einer, der sich in Form hielt und dennoch nicht auf Genuss verzichtete.

Zurück in seinem Zimmer, entschied er sich bewusst gegen seine Berufskleidung, Jeans und blaues Fischerhemd mit rotem Tuch um den Hals. Als Taxifahrer entsprach er sonst gerne dem Bild, das Touristen von einem Einheimischen hatten. Aber heute kramte er aus dem Schrank das graue Designerhemd und die helle Hose hervor. Beides hatte er vor einem halben Jahr in Flensburg gekauft, aber noch nie getragen.

Der Ganzkörperspiegel signalisierte ihm, dass alles so saß, wie es sollte.

Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, dass er einen kapitalen Fehler begangen hatte. Schon beim Einzug hatte er seine Mitbewohnerinnen darum gebeten, nach jedem Duschen die Kacheln mit einem Lederlappen trocken zu wischen und die Haare aus dem Abfluss zu entfernen. Ordnung an Bord war überlebenswichtig! Die beiden hatten sich sofort einverstanden erklärt, hielten sich aber nur jedes dritte Mal daran.

Nun hatte er es selbst vergessen. Schnell schlüpfte er ins Bad zurück und begann mit dem Lederlappen die Kacheln zu wienern. Blöderweise landete dabei von der Dusche ein Tropfen auf seinem grauen Designerhemd und vergrößerte sich sofort auf das Dreifache. Ocke war das egal, denn was er gerade entdeckte, ließ seine Halsschlagader heftig anschwellen: Im Abfluss befanden sich schwarze Haare!

Christa war blond, Imke blond gefärbt, er selbst grau.

Mit anderen Worten: Diese Haare mussten von Christas Lover stammen, oder, schlimmer noch, von dessen Köter. Ekliger ging es nicht.

Ocke sah sich um.

Auf einem Badezimmerschränkchen lag eine durchsichtige Plastiktasche mit ein paar Cremetuben. Er schüttete die Tuben ins Waschbecken, stülpte die kleine Tasche nach außen, fasste hinein und nahm damit die Haare aus dem Abfluss wie Hundebesitzer den Haufen ihrer Tiere. Triumphierend schloss er die Tasche mit dem Zippverschluss. Das war wichtiges Beweismaterial, das er nicht zurückhalten würde, wenn er gleich die Terrasse enterte.

 

An der Tür nach draußen hielt Ocke kurz inne. Christa und Imke hatten sich offenbar gerade an den Frühstückstisch gesetzt.

«Moin, Christa, gut geschlafen?», erkundigte sich Imke mit brüchiger Stimme.

«So gut wie lange nicht mehr», gurrte Christa durch ihre Müdigkeit hindurch. «Und selbst?»

«Ging so.»

«Kein Wunder, wenn du so spät noch unterwegs bist.»

«Du siehst auch nicht gerade ausgeschlafen aus.»

Bevor die beiden auf Details der letzten Nacht zu sprechen kamen, gab Ocke sich einen Ruck und schoss durch die Tür.

«Moin!»

Im hellen Sonnenlicht musste er sich erst einmal orientieren. Der Tisch war mit allem gedeckt, was er gerne mochte: Brötchen, Marmelade, Käse, Wurst, Ei und Kaffee. Imke lackierte sich gerade die Zehennägel neongrün, was für ihn am Frühstückstisch eigentlich gar nicht ging. Anstatt einzuschreiten, saß Christa im Bademantel daneben und biss ungerührt in ein Krabbenbrötchen. Er musste sich eingestehen, dass sie mit ihren strahlend blauen Augen und den hohen Wangenknochen auch ungeschminkt wunderbar aussah. Ihre schulterlangen Haare wurden vom warmen Wind in alle Richtungen gewirbelt.

«Ocke!», riefen Christa und Imke wie aus einem Munde und rissen ihn aus seinen Gedanken.

«Hast du noch was vor?», erkundigte sich Christa begeistert.

«Wieso?», grummelte er, ohne seine Mitbewohnerinnen anzuschauen.

«Na, du hast dich so aufgebrezelt.»

«Nicht gut?», fragte er mürrisch.

«Doch, klasse!», bestätigte Imke.

Auch Christa strahlte: «Steht dir hervorragend!»

Ocke nickte geschmeichelt, doch dann fiel ihm auf, dass die beiden gar keinen Kommentar zu seinem Plakat abgegeben hatten. Imke und Christa konnten die Staffelei in der Küche wohl kaum übersehen haben. Wie auch immer, er war bestens vorbereitet, in seiner Gesäßtasche steckte die Tüte mit den Haaren, die er im Duschabfluss gesichert hatte.

«Was ist denn nun mit morgen, Imke?», erkundigte sich Christa. «Wir müssen uns dringend noch ein paar Gedanken machen.» Für Imkes achtundsiebzigsten Geburtstag am nächsten Tag waren über hundert Gäste eingeladen worden.

«Am liebsten wäre mir eine altmodische Siebziger-Jahre-Party», seufzte Imke, während sie ihren rechten großen Zeh ausmalte. «Das war so eine schöne Zeit!»

Ocke wusste, worauf Imke anspielte: Damals hatte sie, verheiratet und Mutter von vier Kindern, Johannes von der Nachbarinsel Amrum kennengelernt, der für Jahrzehnte ihr heimlicher Geliebter wurde und vor zwei Jahren verstorben war. Ocke war einer der wenigen, die sie eingeweiht hatte.

«Wir haben Attika geraucht», schwelgte Imke. «Die gab es in einer grünen Packung.»

Christa nickte. «Erinnert ihr euch noch an Ata-Scheuerpulver? Heute würde man das Zeugs wahrscheinlich als chemischen Kampfstoff einstufen.»

«Gerochen hat es damals schon so», sagte Ocke.

Christa schaute Imke begeistert an. «Wir sollten Glitzeranzüge und Plateauschuhe tragen!»

«Ich komme als Einheimischer», grummelte Ocke. Da musste er sich wenigstens nicht verkleiden, er war nicht gerade ein begeisterter Anhänger des Karnevals.

Imke fuchtelte mit ihrem Brötchen in der Hand herum. «Heute feiern die Leute so, als ob sie alle schwer krank sind, mit Gemüsedips und Tofu-Frikadellen. Ich möchte, dass wir mal wieder eine rauchen, und es soll Unmengen von Cholesterin geben. Außerdem soll schwer getrunken werden – so wie früher, als noch richtig gefeiert wurde.»

«Und was hast du noch für Wünsche?», erkundigte sich Ocke. Immerhin mussten er und Christa das Ganze vorbereiten.

«Ich mache eine Weißwein-Bowle.»

Christa verschluckte sich vor Lachen fast an ihrem Brötchen: «Eine Bowle? Das Wort habe ich Jahrzehnte nicht gehört.»

Imke schob Ocke ein Glas mit eingeweckten Erdbeeren hin. «Kannst du das mal aufmachen?»

Ocke drückte die Metallbügel nach unten, dann sprang der Deckel auf. Eine schwere Duftwolke aus süßem Alkohol waberte in seine Nase.

«Probier mal», forderte Imke ihn auf.

Er nahm einen kleinen Löffel und kostete eine Spitze. Imke und Christa warteten gespannt auf sein Urteil.

Das Zeug schmeckte genau so, wie es roch.

«Ich bin ja viel rumgekommen in meinem Leben», sagte er, «aber so einen heftigen Rumtopf habe ich noch nie getrunken. Mannomann, ist der stark!»

«Der wird ja noch mit Weißwein verdünnt», beruhigte ihn Imke.

«Na, dann …», lachte Christa.

«Ich habe noch einige Gläser davon im Keller, die müssen dringend weg.»

«Wir sollten das Gemeinschaftszimmer ausräumen», sagte Christa. «Irgendwo müssen wir ja tanzen, oder was meinst du, Imke?»

«Absolut! Das soll auf keinen Fall eine Alte-Leute-Party werden, immerhin werde ich erst achtundsiebzig. Ocke, was ist mit Musik? Baust du deine Anlage auf?» Sie war offenbar fertig mit Frühstücken und hatte sich bereits erhoben.

«Ayaye, Sir», sagte er. «Aber für den Garten muss Arne seine Boxen mitbringen.»

Das hatte Ocke mit Imkes ältestem Sohn schon besprochen, Arne würde singen, und er würde ihn an der Gitarre begleiten.

«Ich komme gleich wieder.» Imke erhob sich und verschwand im Haus.

Sobald Imke weg war, rückte Christa ganz nahe an Ocke heran und nahm seine Hand. Und obwohl Ocke eigentlich sauer auf sie sein sollte, merkte er, dass er schwach wurde.

«Ich muss dir etwas beichten», flüsterte sie geknickt. «Du hast es wahrscheinlich schon mitbekommen, oder?»

Ocke schluckte, jetzt kam es also. Er wurde ganz nervös. Aber nein, er würde sich nicht bestechen lassen. Vorsorglich fasste er sich an die Hosentasche, um die Tüte mit den Haaren blitzschnell herausziehen zu können.

«Ja?»

«Ich bin ja nun mal Imkes Pflegerin, ich hätte einfach besser aufpassen müssen.»

Christa war ganz offiziell zuständig für alles, was Imke nicht mehr konnte. An manchen Tagen war es das Anziehen, aber das kam selten vor, es ging eher um Dinge wie Herdplatte ausschalten und Zimmer aufräumen.

«Was ist denn passiert?»

Christa rückte noch näher.

«Imke hat in deinem Zimmer das Foto mit der Gorch Fock abgerissen und hinten etwas draufgekritzelt. Sie hat das Bild auf die Staffelei gestellt und in der Haushaltskammer versteckt.»

Ocke machte der Hautkontakt mit Christas Hand ganz unruhig, er winkte lässig ab: «Wenn’s nur das ist …»

«Ab jetzt werde ich sie besser im Blick behalten, da kannst du dich drauf verlassen.»

Einen Moment überlegte er noch, ob er das Poster holen und ihr die Rückseite präsentieren sollte. Aber irgendwie hatte er den richtigen Zeitpunkt verpasst. Christa hatte ihn wieder mal völlig aus dem Konzept gebracht. Imkes Geburtstagsfeier, so viel stand fest, würde eine Tortur für ihn werden – und zwar nicht wegen des Cholesterins …