4. Putzen und lieben
Als Erstes nahm sich Ocke das Gemeinschaftszimmer vor. Im Grunde war diese Bezeichnung falsch, denn das eigentliche Gemeinschaftszimmer in ihrer WG war – wie in den meisten WGs – die Küche. Nicht einmal zum Fernsehgucken trafen sie sich hier in diesem Raum, da bevorzugten sie die Riesenglotze in Ockes Zimmer. Aber da das Zimmer nun mal da war, hatten sie es etwas lieblos mit all den Möbeln zugestellt, die sie in den anderen Räumen nicht haben wollten, zum Beispiel Christas dunkelbrauner Cord-Stoffcouch, die einen Platz im Museum verdient hätte, wenn sie nicht so durchgesessen gewesen wäre, oder Imkes klobige schwarze Ledersessel, die in ihrer alten Wohnung im Keller gestanden hatten und die überhaupt nicht zur Couch passten.
An der Wand hingen großformatige Schwarzweißfotos, sie zeigten verkantete Eisschollen, die sich im Watt zu bizarren Gebilden auftürmten, wie Trümmer von Häusern, die gesprengt worden waren. Die Bilder hatte Christa fotografiert und entwickelt. Sie stammten nicht aus dem ewigen Eis, sondern vom letzten Winter auf Föhr. Eigentlich schneite es nicht oft auf der Insel, das Meeresklima sorgte dafür, dass das Thermometer selten weit unter null ging. Aber das Wetter verhielt sich hier so wie die meisten Menschen, die auf Diät waren: Es machte gerne mal eine Ausnahme. Eine davon war jener eiskalte Januar gewesen, wo an manchen Tagen die Fährverbindung zum Festland wegen starken Eisgangs eingestellt werden musste.
Nachlässig wischte Ocke mit dem Staubwedel über die großen Blätter der zahllosen Pflanzen. Grünzeugs hatte es in den fünf Jahren, in denen er vorher hier gewohnt hatte, nicht gegeben. Dieses Zimmer war seine Mofa-Werkstatt gewesen, während Christas jetziges Zimmer als Ersatzteillager gedient hatte. Auch an Land konnte er als ehemaliger Schiffsmaschinist nicht ganz von Motoren lassen. Er baute aus zwei, drei alten Mofas ein funktionstüchtiges zusammen und wurde so zur heißen Adresse für die Erstmotorisierung von Jugendlichen auf Föhr. Als Imke und Christa bei ihm eingezogen waren, hatte er die Zahl der Mofas halbiert und sie in den Gartenschuppen verbannt.
Plötzlich fragte er sich, ob er in der Zeit vor Gründung der WG nicht glücklicher gewesen war als jetzt, auch wenn er manchmal sehr unter seiner Einsamkeit gelitten hatte.
Die Antwort lautete ganz klar: ja!
Da gab es keine fremden Männer, die erst seine Mitbewohnerin beglückten und dann übers Fenster abhauten – nicht ohne büschelweise Hundehaare in der Dusche zu hinterlassen. Keine Diskussion übers Putzen, Aufräumen und Bügeln. Trotzdem, das musste er sich eingestehen, hatte man es allein auch oft schwer, und nicht nur an kalten Wintertagen.
Imke hatte schon seit Jahrzehnten zu seinen festen Freunden gezählt, obwohl sie deutlich älter war als er. Die beiden hatten sich in einem Kochkurs kennengelernt, den er in der Wyker Volkshochschule gegeben hatte: «Asiatische Küche für Anfänger». Auf seinen Schiffsreisen hatte Ocke den Köchen in der Kombüse immer interessiert über die Schulter geschaut, und auch auf seinen Landgängen, die oft Wochen dauerten, hatte er einige Rezepte aufgeschnappt. Für den Kurs in Wyk war er damals extra nach Hamburg gefahren, um seltene Originalgewürze zu kaufen, die es auf Föhr nicht gab.
Christa kannte er vorher nur vom Sehen. Am liebsten saß sie auf dem Deich und fotografierte. Dazu brauchte sie nicht mehr als ihren Klappstuhl und den Blick in die Weite, und das bei jedem Wetter: im Winter notfalls mit arktistauglichem Schlafsack. Gleichzeitig war sie eine lebensfrohe, weltoffene Frau, die gern lachte und fünfe gerade sein ließ. So diszipliniert sie mit ihren vegetarischen Essgewohnheiten und dem regelmäßigen Joggen war, so spontan war sie auch, wenn es ums Feiern ging.
Ja, Christa war eine großartige Frau, das musste er sagen, und noch dazu unglaublich attraktiv. Dass sie einen wildfremden Kerl einfach so bei sich übernachten ließ, hätte er ihr trotzdem nicht zugetraut. Abgesehen davon fand er es eine Frechheit, schließlich war er hier immer noch der Hauptmieter! Solch ein Verhalten musste er sich nicht bieten lassen.
Er könnte Christa kündigen, aber dann müsste er auch Imke hinauswerfen, denn die war auf Christas Pflege angewiesen. Wie sollte er ihr das verklickern, wo sie sich hier dermaßen wohl fühlte? Nein, das ging nicht. Also gab es nur eine Möglichkeit: Der Kerl musste weg.
Ocke schnappte sich den neuen Riesenstaubsauger und stellte ihn mit dem Fußschalter an, während Christa gerade im Flur auf allen vieren an ihm vorbeirobbte, Eimer mit Putzlappen neben sich. Sie hatte sich ein rotes Kopftuch mit gelben Punkten umgebunden und machte sich nun an den Fußleisten zu schaffen.
Grinsend schwenkte er den Saugrüssel in Richtung ihres Kopfes. Die Kraft des neuen Staubsaugers war beeindruckend: Schwupp, war das Kopftuch weg.
Christa reagierte schneller als gedacht.
Im Bruchteil einer Sekunde landete ihr Putztuch auf seinem Kopf. Als er es wegnehmen wollte, hatte Christa bereits den Staubsauger erobert und fuchtelte mit dem Saugrüssel vor seinem Mund herum. Dafür bekam sie den Lappen wieder – auf die Schulter. Sie tauchte ihn tief ins Wasser und schleuderte ihn Ocke an den Kopf. Der nahm die Fehde an und stürmte auf den Flur, wo er mit einem Schwall Wasser begrüßt wurde, der seinen Oberkörper vollständig einnässte. Quietschend vor Lachen, rannte Christa nach draußen auf die Terrasse. Ocke machte einen kurzen Abstecher ins Bad, füllte dort seinerseits einen Eimer mit Wasser und nahm ihn mit auf die Terrasse.
Dort empfingen ihn die pralle Sonne und ein kühler Wind – nur Christa war nicht zu sehen. Mit dem Eimer in der Hand lief er in den Garten, um sie zu suchen. Da erwischte ihn von hinten der Wasserstrahl des Gartenschlauchs, jetzt war er vollständig nass. Der anschließende Kampf um die Hoheit über den Schlauch wurde erbittert und mit allen Mitteln ausgefochten. Ockes Kraft setzte Christa ihre Geschicklichkeit entgegen, keiner von beiden gewann, am Ende war jedenfalls auch Christa pitschnass. Sie fiel Ocke in die Arme und bat, nach Luft japsend, um Gnade: «Ich kann nicht mehr.»
Sie schauten sich lachend an und wischten sich das Wasser aus dem Gesicht.
Der Kerl in Christas Leben wäre Ocke vollkommen egal gewesen – wenn sie nicht seine absolute Traumfrau gewesen wäre!