29. Biikebrennen
Der folgende Winter auf Föhr war ungewöhnlich kalt, der Frost hatte die Insel mit Minustemperaturen bis 15 Grad fest im Griff. Felder, Bäume und Reetdächer waren von einer dicken weißen Schneedecke überzogen. Im Wyker Hafen stauten sich die Eisschollen, die Fähren hatten Mühe, zum Festland durchzukommen.
Am Nachmittag des 21. Februar war es besonders kalt, und die rötlich-gelbe Sonne musste einige Himmelsschichten mehr als im Sommer durchdringen, weshalb die Lichttemperatur so warm wie in keiner anderen Jahreszeit war. Auch wenn man sich mehrere Pullover und Jacken übereinander anziehen musste, waren das für Insulaner die schönsten Momente auf Föhr.
Vor dem Polizeirevier am Hafen hatte sich eine Gruppe von annähernd fünfzig Menschen versammelt, die bibbernd und mit roter Nase auf einen Reisebus warteten, den Revierleiter Brockstedt bestellt hatte. Alle waren anwesend, die gesamte Familie Riewerts: Sönke, Maria und ihr Baby, Sönkes Mutter Geeske und sein Vater Harald, Regina, ihr Mann Holger und ihr gemeinsamer Sohn John, sogar Cord war mit seiner adretten Tochter Jade aus Frankfurt angereist. Jade hatte vor gut zwei Jahren die Insel als Gruftie ziemlich aufgemischt und war äußerlich kaum wiederzuerkennen, seit sie ihre Banklehre machte. Imkes Hausarzt Dr. Behnke war auch da sowie alle Beamten des Reviers, bis auf zwei, die Dienst hatten; Freunde und Bekannte von Imke, sogar Tamara und Carla waren aus Bottrop angereist, und natürlich waren die Bösingers aus Kiel samt Zwillingen dabei. Ach ja, und Kutschen-Hauke, der sich wieder gefangen hatte.
Der vorgeheizte Bus hielt vor dem Polizeirevier, alle huschten schnell hinein in die Wärme. Arne gab dem Busfahrer eine CD, die sofort eingeworfen wurde. Und so lieferten Cindy und Bert sowie ABBA den Soundtrack für die Tour. Arne, Dr. Behnke und fünf andere Passagiere hatten riesige Bowletöpfe auf dem Schoß, den größten hatte Revierleiter Brockstedt. Alle hatten sie genau darauf geachtet, dass viel Rumtopf zum Weißwein kam.
Der Bus musste wegen Schneeverwehungen in der Marsch einen Umweg nehmen, die Landschaft hatte durch den Raureif vollkommen ihren Ausdruck verändert, Eis und Frost formten aus Zäunen und Büschen im Sonnenlicht ein weißes Märchenrelief. Diesen Anblick würde keiner von ihnen je vergessen.
Der Bus hielt am Deich.
Dahinter, am Dunsumer Strand, wurde das riesige Feuer, die «Biike», von Feuerwehrleuten entzündet. Haushohe Flammen schlugen aus dem Holz, dahinter lag das Meer im zarten Rot des Sonnenuntergangs. Zu den Gästen aus dem Bus kamen noch Dorfbewohner und einige Touristen hinzu, die extra zu diesem Ereignis angereist waren.
Das traditionelle Biikebrennen auf Föhr findet seit Jahrhunderten am 21. Februar statt, früher wurden damit die Walfänger verabschiedet. Die zurückbleibendHolzhaufenen Frauen zündeten die Feuer entlang des Strandes an, um ihren Männern noch lange sicheres Geleit zu geben. Schon Wochen vorher wurden riesige Holzhaufen am Strand zusammengetragen. In manchen Dörfern wurde eine Strohpuppe verbrannt, woanders stellte man auf die Biikespitze ein altes Holzfass; wenn es fiel, war der Winter vorüber. Heute bestand das Biikefeuer meist aus alten Weihnachtsbäumen und Gestecken, die bis zum Biikebrennen aufgehoben wurden, viele schnitten in der Zeit ihre Gartenbüsche, um die Zweige hier zu verbrennen.
In der Mitte, ganz dicht vorm Feuer, saß Oma in einem Rollstuhl. Christa und Ocke hatten sie in ganz viele Daunendecken eingewickelt, sie war kaum zu erkennen. Ihre Augen strahlten in die mächtigen Flammen, sie war die ungekrönte Königin der Veranstaltung. Familie und Freunde standen um sie herum, Sönke und Maria mit der kleinen Anna Imke im Kinderwagen, Arne und Regina, Ocke, Christa, Gerald Brockstedt und viele mehr.
Nach dem Rundflug war Oma in einen tiefen Schlaf gefallen, mehrere Tage lang, sodass sich alle große Sorgen um sie gemacht hatten. Die Familie hatte sie ins Inselkrankenhaus gebracht, wo alles für sie getan wurde. Oma wachte nach fast einer Woche wieder auf, es ging ihr gut, sie fühlte sich wohl.
Aber sie konnte nicht mehr sprechen. Oder mochte nicht mehr.
Natürlich hätte man noch eine Menge aufwendiger Untersuchungen durchführen lassen können, um herauszubekommen, woran das lag. Aber das wollte ihre Familie ihr nicht zumuten. Jeden Tag war mindestens einer von ihnen bei ihr in Dunsum und unterstützte Christa und Ocke bei ihrer Pflege. Alle machten mit, Arne, Sönke, Maria, Regina. Sönke hatte Wände und Decke ihres Zimmers mit Fotos aus allen Epochen ihres Lebens beklebt, von der Kindheit bis zu ihren Kindern und Enkeln. Aber in der Mitte klebte ein großes Foto von der kleine Anna Imke, das Oma jeden Tag stundenlang verliebt anschaute. Ansonsten gehörte sie weiter selbstverständlich dazu, sie wurde immer mitgenommen, wenn es etwas zu unternehmen galt.
Nur dass sie eben nicht redete. Aber dadurch achteten alle noch viel mehr darauf, dass es ihr gut ging.
Noch war es hell, die tiefliegenden Winteraugen der Zuschauerinnen und Zuschauer waren berührt davon, dass die Sonne einen rosa Streif an den Himmel zauberte. Man schaute über das gefrorene Wattenmeer, das im Winter ganz sich selbst gehörte, drüben auf Sylt waren ebenfalls große Biikefeuer zu erkennen. Durch die Biike wurden die Insulaner mit Zeiten und Menschen verbunden, die zwar längst vergessen waren, aber die Energie der Vorfahren war für alle in diesem Moment spürbar. Gegen halb acht war es stockdunkel, nur das Feuer glühte noch.
Dann wurde in der Dunsumer WG gefeiert. Der gecharterte Bus sollte dafür sorgen, dass alle viel trinken konnten und die anschließende Transportfrage geklärt war. Sämtliche Mäntel wurden in Ockes Zimmer aufs Bett geworfen, überall waren Kerzen aufgestellt. Christa und Ocke hatten in der Küche das traditionelle Grünkohlessen nach der Biike gekocht. Ja, und sie waren tatsächlich zusammengekommen und waren immer noch schwer verliebt. Ihre Reise nach Grönland hatten sie verschoben, in einem Monat sollte es losgehen: vier Monate ins ewige Eis, sie freuten sich jeden Tag mehr darauf. Für Imke war in der Zeit gesorgt. Ihre Familie war groß genug.
An langen Tischen im Flur und in den Zimmern servierten sie nun Grünkohl mit Kasseler und Kochwurst. Maria legte die kleine Anna Imke in den Schoß ihrer Urgroßmutter, wo sie sich wohlig streckte. Und dann wurde gefeiert, wie es Imke gefiel: mit großen Mengen Alkohol und Cholesterin.