6. Omas Lieblingsretter
Sönkes schwanenweißes Boot wartete in einer einsamen, sandigen Bucht vor den Dünen an der Nordspitze, die sich an dieser Stelle des Strandes hoch auftürmten. Er war nach dem panischen Anruf seiner Oma sofort losgefahren.
Sie hatten so einiges zusammen erlebt, hatten abenteuerliche Reisen in alle Welt unternommen, waren in Hamburger Musik-Clubs gestrandet, und eigentlich hatte er damit gerechnet, dass seine Oma auf ihre ganz alten Tage etwas ruhiger wurde. Aber da hatte er sich wohl getäuscht. Jetzt war es allerdings mehr Tüdeligkeit als Abenteuerlust, die seine Oma in derartige Situationen brachte.
Er schob das Boot in die unruhige Nordsee, sodass es gerade genug Wasser unter dem Boden hatte. Dann half er seiner Oma hinein, was gar nicht so einfach war, denn das leichte Boot kippelte bedenklich hin und her. Oma setzte sich nach vorne auf die Bank, und Sönke startete mit einer Schnur den Außenborder, der sofort ansprang. Die Abgase des Zweitakters mischten sich mit dem salzigen, kühlen Nordseewasser.
Über den Aufzug seiner Oma amüsierte er sich insgeheim: Imke war mit Abstand die eitelste Frau Nordfrieslands (und angrenzender Gebiete), freiwillig hätte sie nie eine ausgeleierte graue Jogginghose und ein T-Shirt mit Fischmotiv angezogen. Das bedeutete für sie die Höchststrafe.
«Es war Wahnsinn, allein durchs Watt zu gehen», rief ihr Sönke gegen den Wind zu, als sie langsam Richtung Föhr lostuckerten.
Oma warf verächtlich den Kopf in den Nacken. «Ich bin es gewohnt, weißt du doch.»
Früher war es ihr wöchentlicher Weg von Föhr zu ihrem Geliebten Johannes gewesen. Aber inzwischen war sie viel zu schwach für eine solche Strecke.
«Und weswegen legst du dich zu wildfremden Leuten ins Bett?»
«Mooment, die Bösingers sind nicht wildfremd! Wir kennen uns von früher, wenn auch nur flüchtig. Deswegen habe ich sie auch zu meiner Geburtstagsfeier eingeladen.»
Das war schlecht gelogen.
«Oma, ich bin nicht blöd.»
«Ist ja gut», lenkte Imke ein. «Aber das mit der Geburtstagsfeier stimmt wirklich. Und sie haben zugesagt.» Verlegen sah sie auf ihre grünen Fußnägel.
«Was war denn das Peinlichste, was du je erlebt hast?», fragte sie nach einer Pause.
Sönke überlegte eine Weile, bis es ihm wieder einfiel:
«Lieber nicht.»
«Siehste!»
Damit war das Thema erledigt, und sie schauten schweigend übers Wasser Richtung Föhr. Das heißt, Sönke machte sich schon Sorgen, denn bei dieser Aktion hätte sonst was passieren können. Christa hätte besser auf Oma aufpassen müssen, das war ja wohl klar!
Die Insel Föhr zeigte in der warmen Abendsonne noch einmal alles, was sie zu bieten hatte. Die Deiche leuchteten in einem warmen, satten Grün, das an einigen Stellen von ockergelben Stränden unterbrochen wurde. Der Kirchturm von Nieblum zeigte starr in den blauen Himmel. Über der Godelniederung schwebte ein riesiger dunkler Vogelschwarm auf und nieder, was wie eine gigantische Tanzvorführung wirkte. Sönke hatte es nie bereut, vor zwei Jahren hierher gezogen zu sein, sein früheres Leben in Hamburg erschien ihm so weit weg wie ein anderer Planet. Was natürlich auch an Maria lag, die er letztes Jahr geheiratet hatte. Maria war seine Kusine, sein Onkel Arne hatte sie adoptiert, und früher, wenn Sönke mit seinen Eltern auf Föhr zu Besuch war, hatten sie zusammen im Sand gespielt.
Er musste zugeben, sie war immer noch seine Traumfrau, daran hatte sich nichts geändert. Sie wohnten zusammen in einem kleinen, reetgedeckten Hexenhäuschen in Nieblum, das sie von ihrem Opa geerbt hatten. Mittlerweile arbeitete Sönke bei der Kurverwaltung als Marketingleiter und fühlte sich dort pudelwohl.
Aus dem Augenwinkel sah Sönke, wie Oma sich eine stille Träne wegdrückte.
«In letzter Zeit ging es mir nicht so gut», sagte sie. «Ich habe mich schwach gefühlt und alles Mögliche durcheinandergebracht.»
«Ja.»
Daran gab es nichts zu deuteln.
Sie lächelte ihn an: «Das ist plötzlich weg, als wäre es nie da gewesen.»
«Was soll das heißen?» Sönke sah sie skeptisch an.
«Es ist ein Wunder. Als ich bei den Bösingers aufgewacht bin, war ich wieder fit und klar, wie früher.»
«Vorsicht, Oma.»
«Papperlapapp! Auch wenn das nur eine Phase ist, werde ich sie schamlos ausnutzen. Auf meinem Geburtstag lasse ich es richtig krachen.»
Genau so liebte Sönke seine Oma.
Er ging mit dem Tempo runter und wich gekonnt einer Sandbank aus, die fast unsichtbar unter knöcheltiefem Wasser lag. Ihm kamen die seltsamen Namen der Seegebiete um Föhr in den Kopf, die er für seinen Motorbootführerschein gelernt hatte: Theeknobsrinne, Nordmannsgrund und Rütergatt.
«Wann werde ich endlich Urgroßmutter?», fragte Oma unvermittelt.
Sönke zog eine Augenbraue hoch. Was war das denn schon wieder?
«Oma, findest du nicht, mein Sexleben ist meine Privatsache?»
Imke schüttelte vehement den Kopf. «Die Folgen davon betreffen auch die Familie.»
«Du hast immerhin vier Kinder und vier Enkel, ist das nicht genug?»
«Nein.»
«Du bist unersättlich.»
«Ja.»
In Utersum machte Sönke das Boot an einer Boje fest. Es würde nur noch Minuten dauern, bis die Anlegestelle trocken fiel und das Boot im Schlick zur Seite kippte. Erst mit auflaufendem Wasser käme es wieder frei. Er hatte den Wagen hier hinter den Dünen geparkt, und natürlich fuhr er seine Oma die paar Kilometer nach Dunsum in ihre WG.
Christa saß im Bikini am Terrassentisch, um ihre schlanken Beine hatte sie einen Sarong geschlungen. Neben ihr saß Ocke in grauem Designerhemd und kurzer Sporthose. Auf dem Tisch standen bestimmt zwanzig Einmachgläser mit Früchten und an die siebzig Weinflaschen. Es roch nach schwerem, hochprozentigem Rum und Weißwein. Christa verteilte die Früchte in vier bauchige Bowletöpfe zu ihren Füßen, während Ocke eine Flasche Wein nach der anderen darüberkippte. Die beiden schienen eine Menge Spaß zu haben, das eine oder andere Glas hatten sie wohl schon gekostet.
Hatten sie sich keine Gedanken gemacht, wo Imke abgeblieben war? Sie irrte einfach so durchs Watt, und ihnen fiel das noch nicht mal auf? Unglücklicherweise hatte seine Oma ihm im Boot hochfeierlich den Schwur abgenommen, in der WG über die Vorkommnisse auf Amrum erst einmal die Klappe zu halten, daran fühlte er sich gebunden.
«Ach, war Imke bei dir?», fragte Christa Sönke beiläufig, als sie sie kommen sah. «Ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen.»
Das klang in Sönkes Ohren etwas zu locker. Immerhin hatte er, als amtlicher Vormund seiner Oma, Christa zur Pflegerin ernannt. Er würde mit ihr sprechen müssen, denn so etwas durfte sich auf gar keinen Fall wiederholen. Aber jetzt war es besser, das Thema zu wechseln.
«Wer soll das denn alles trinken?», fragte er mit Blick auf die Flaschen.
«Wenn wir uns alle ein bisschen Mühe geben, kriegen wir das schon hin», sagte Ocke achselzuckend.
Sönke schnupperte an einem Einmachglas.
«Waldbeeren», verriet Oma. «Reine Vitamine.»
«Ist das nicht ein bisschen heftig?», Sönke war wie betäubt vom starken Alkoholgeruch.
Seine Oma stemmte empört die Hände in die Hüften.
«Ihr seid alle viel zu vernünftig geworden!», schimpfte sie und nahm sich erst einmal ein Glas Wein. Dann verschwand sie im Haus, um sich umzuziehen.
Sönke sah ihr besorgt nach. Er bekam das ungute Gefühl, dass Omas Fete mit dieser Bowle aus dem Ruder laufen würde.