19. Krumme Seehunde
Wie durch ein Wunder ließ die Schwüle nach, und es wurde einer jener trockenen Hochsommertage, die keine Wünsche offenließen: 27 Grad, dazu wehte ein angenehmer, leichter Wind. Bei auflaufendem Wasser schwammen unzählige runde Köpfe im Meer, die wie lustig bemalte Bojen aussahen. Überflüssig zu erwähnen, dass die Strandkörbe am Wyker Südstrand ausnahmslos besetzt waren. An so einem prächtigen Tag kamen zu den Inselgästen stets noch unzählige Tagesbesucher vom Festland und von der Nachbarinsel Amrum dazu. Es roch nach Sonnencreme und Pommes, und wer es edler wollte, wurde in den wunderbaren Cafés am Sandwall, der Promenadenstraße hinter dem Strand, bestens bedient. Wyk wirkte in der Sommerhitze wie eine Stadt am südlichen Mittelmeer, nur dass man dort auf die prächtige Kulisse verzichten musste, die hier geboten wurde: Alle Strandgäste schauten direkt auf die vorgelagerte Hallig Langeneß, die sich lang und elegant auf der Südostseite von Föhr erstreckte.
Brockstedt fuhr mit Imke langsam auf den Sandwall. Zu dieser Zeit herrschte hier die wohl größte Gummischlappendichte der Republik, das Tempo war behäbig, und das schlimmste Problem der Menschen war, dass die Eiskugeln schneller schmolzen, als man sie essen konnte. Einige Kurgäste, die die Hitze nicht so gut abkonnten, suchten den Schatten der alten Bäume hinter dem Strand.
Imke fühlte sich unwohl im Polizeiwagen. Sämtliche Passanten glotzten sie neugierig an: Die musste irgendwas verbrochen haben, sonst säße sie da wohl nicht. Am Brunnen vor der Buchhandlung Bubu hielt Brockstedt an.
«Ende der Fahrt», rief er und stieg aus.
«Was machen wir hier? Bücher kaufen?»
«Ortstermin am Strand», brummte Brockstedt.
Imke verstand nicht.
«Weswegen?»
Immerhin hatte Brockstedt sie quasi verhaftet. Was sie nun an diesem Strandabschnitt sollte, war ihr schleierhaft.
«Ich habe uns einen Logenplatz reserviert», sagte Brockstedt und führte sie zu einem der nächsten Strandkörbe. Dort zauberte er eine Flasche Piccolo und zwei Gläser hervor und stellte sie auf das kleine Ausklapptischchen. Er wollte mit Imke anstoßen, aber sie lehnte dankend ab. Ihr war viel zu heiß für Alkohol. Brockstedt schenkte ihr trotzdem ein halbes Glas ein.
«Wie ist es denn nun gelaufen?»
«Arne war so klein mit Hut.» Er zeigte es mit dem rechten Daumen und Zeigefinger. «Bösinger hingegen ist mit mächtigen Schriftsätzen aufgefahren …»
«Und?»
«… die ich vor seinen Augen zerrissen habe.»
Das klang schon mal gut.
«Wieso?»
«Ich wollte ihn nach friesischem Recht bestrafen. Aber er meinte doch tatsächlich, Föhr gehört zur Bundesrepublik Deutschland.»
Imke lachte erleichtert auf. Da war Brockstedts Humor wieder, das beruhigte sie. «Hat er seinen Irrtum eingesehen?»
«Ich habe ihm den Film vom Polizeieinsatz gezeigt. Tja, und dann habe ich ihm klargemacht, dass solche Filme leicht zu kopieren sind. Die landen schon mal im Internet oder im Fernsehen.»
«Erpresser!» Sie lächelte. Aber wenn sie ehrlich war, interessierte sie viel mehr, was mit Arne war. Die Bösingers waren für ihr eigenes Glück verantwortlich.
«Als er den Film gesehen hat, war er plötzlich ganz still. Ich muss dir nicht erklären, warum, du kennst den Film ja bestimmt.»
Imke gab sich ahnungslos: «Welchen Film?»
Brockstedt schaute ihr tief in die Augen. «Hat Maria ihn dir nicht heimlich gezeigt?»
«Ich weiß nicht, wovon du sprichst», sagte Imke und wurde rot.
Brockstedt nickte ihr grinsend zu.
«Ich habe Bösinger dann erläutert, was die Strafe nach friesischem Recht ist, und er fragte, was sei, wenn er sich weigere. ‹Dann treten all jene Paragraphen in Kraft, die Sie bestens kennen›, habe ich geantwortet, ‹Widerstand gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung, Beleidigung …› Da war dann Ruhe im Karton.»
Doch Imke hörte nur noch mit halbem Ohr hin, denn sie hatte soeben Bösinger und seine Frau entdeckt. Sie kämpften sich mit einem riesigen Korb voller Kuscheltiere über den Strand und versuchten sie zu verkaufen. Beide schwitzten vor Anstrengung, und Herr Bösingers Kopf war bedenklich gerötet. Er hätte wohl gern sein T-Shirt mit dem frommen Fisch ausgezogen, aber dann wäre ihm ein Sonnenbrand sicher gewesen. Seine Frau war ungefähr zwanzig Meter vor ihm, sie verkaufte im Gegensatz zu ihm erstaunlich gut.
«Das ist die Strafe?», fragte Imke.
«Hmm.»
«Meinst du, das ist medizinisch vertretbar bei dem Wetter?»
«Im Gefängnis gibt es auch keine Klimaanlage. Außerdem ist es den Bösingers jederzeit gestattet, sich auf eigene Kosten kalte Getränke zu besorgen.»
Plötzlich schoss Arne um die Ecke, ebenfalls mit einem Korb in der Hand. Er stutzte, als er Imke und Brockstedt zusammen im Strandkorb sitzen sah.
«Mama, was machst du denn hier?»
«Ich sonne mich.» Sie war jetzt guter Dinge, weil Arne mit einer zwar entwürdigenden, aber leichten Strafe davonkommen würde. Er umarmte sie.
«Hier am Südstrand?»
Immerhin wohnte sie in Dunsum, wo etliche traumhafte Bademöglichkeiten leichter zu erreichen waren als der Strand in Wyk.
«Es ist mein altes Revier, schon vergessen?» Imke hatte jahrelang direkt gegenüber der Kurmuschel am Sandwall gewohnt. Obwohl sie erst ein Jahr in der WG lebte, kam es ihr vor wie das Leben eines anderen Menschen. Damals hätte sie nicht im Traum damit gerechnet, noch einmal umzuziehen. Aber es war alles viel besser geworden.
«Und was machst du hier?», fragte sie scheinheilig.
«Siehste doch, ich verkaufe Seehunde.»
Imke nahm einen in die Hand. «Wie sehen die denn aus?»
Tatsächlich waren die Kuscheltiere etwas verformt, sie sahen eher aus wie die Karikatur eines Seehundes. Der leichte Höcker auf dem Rücken hätte besser zu einem Kamel gepasst, außerdem waren sie in demselben Lila gehalten wie die Milka-Kühe.
«Die stammen aus der Fehlproduktion einer Fabrik, deswegen haben wir sie umsonst bekommen», erklärte Brockstedt, «so springt am meisten Geld für die Seehundstation raus. In jedem Korb sind zweihundert Tiere, die sollen für drei Euro das Stück verkauft werden. Und zwar alle!», er sah Arne streng an.
Arne verabschiedete sich missmutig und rief laut: «Krumme Seehunde für den guten Zweck, krumme Seehunde …»
«Das ist die gesamte Strafe?», fragte Imke, als er außer Hörweite war.
«Nicht ganz. Nachher gibt es in der Kurmuschel noch ein kleines Musical von Jugendlichen aus einem Hamburger Kinder-Erholungsheim, bei dem Arne und die Bösingers eine entscheidende Rolle spielen werden. Wirst schon sehen.»
«Sadist», flüsterte sie. Sie hätte ihn küssen können!
Brockstedt öffnete den ersten Knopf seines Hemdes. «Wenn einer meiner Beamten verletzt wird, verstehe ich keinen Spaß.» Sagte es, drehte sich mit geschlossenen Augen Richtung Sonne und fügte hinzu: «Überleg mal, was ein Verfahren den Staat gekostet hätte! Drei Angeklagte, Verteidiger, Staatsanwalt, Protokoll, Verwaltung, etc. pp., das können wir uns wirklich sparen.»
«Hast ja recht.»
«Arne hilft Peter Markhoff zusätzlich an vier Wochenenden beim Pferdestallbauen. Als Schmerzensgeld. Er hat sich übrigens schon längst persönlich bei ihm entschuldigt. Weißt du Imke, das sind ja keine Schwerverbrecher. Im Grunde sind sie nur Opfer deiner wahnsinnigen Bowle geworden.»
Imke sah an Brockstedt vorbei zu Bösinger, der sich weiter von Strandkorb zu Strandkorb quälte. «Die Bowle war vollkommen legal.»
«Sagst du! In dieser Stärke fällt sie eindeutig unter das Betäubungsmittelgesetz.»
«Wie willst du das beweisen? Sie ist längst alle.»
«Und noch was, Imke.» Brockstedt räusperte sich. «Also, ich war nach der Party etwas sauer auf Ocke und Christa. Aber die haben nichts mit der Sache zu tun, dass du das nur weißt.»
«Da bin ich erleichtert.»
«Trotzdem muss Christa in Zukunft besser auf dich aufpassen.»
«Ja ja.»
«Jetzt vielleicht doch einen Prosecco?»
Imke nickte und erhob ihr Glas: «Auf das friesische Recht!»
Die weißen Holzbänke vor der Kurmuschel waren voll besetzt. Das war die letzte Hürde, die Arne und die Bösingers heute nehmen mussten. Der stundenlange Seehundverkauf am Strand saß ihnen offenkundig noch in den Knochen, aber Brockstedt ließ keine Gnade walten.
Ein Erzieher mit langen Rastalocken trat ans Mikrophon: «Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen nun ein Musical ankündigen, das das Hamburger Kinder-Erholungsheim selber erarbeitet hat: Muck, der Seehund!»
Freundlicher Applaus.
Ein albernes Windrad (Arne), ein noch albernerer Leuchtturm mit einer Bauchbeule (Herr Bösinger) und ein schiefer, dicker Apfelbaum (Frau Bösinger) schoben sich als Dekoration auf die Bühne, was großes Gelächter und Gejohle hervorrief. Imke saß in der ersten Reihe direkt neben Brockstedt und freute sich mit. Sie war hin- und hergerissen, als sie ihren sonst so eitlen Sohn als unglückliches Windrad auf der Bühne sah. Er tat ihr ein bisschen leid, aber das hier war besser als Gefängnis!
Die Eingangsmusik kam vom Band, und die Handlung begann. Seehund Muck verlor seine Mutter, irrte durch die Welt, erlebte eine Menge Abenteuer und wurde von der Seehundstation gerettet. Windrad, Leuchtturm und Apfelbaum auf der Hallig mussten nichts anderes tun, als einfach da zu stehen. Zum Schluss gab es einen Rap mit der Moral von der Geschicht: Wer einen Seehund rettet, rettet damit die ganze Welt. Als das Windrad mit dem Apfelbaum plötzlich Walzer zu dem Rap tanzte, was gar nicht zur Musik passte, und als sich daraufhin der dicke Leuchtturm schwerfällig wie ein Elefant in Bewegung setzte, tobte das Publikum. Die rappenden Jugendlichen auf der Bühne vergaßen vor Lachen vollständig ihren Text.
Imke blickte auf die wunderbar lebhaften Kinder in der Kurmuschel. Sie stellte sich vor, wie sie ein Urenkelkind mit schwarzen Locken im Arm hielt und mit ihm herumschäkerte. Sämtliche Kitschbilder, die es jemals zu diesem Thema gegeben hatte, tauchten vor ihrem inneren Auge auf, und es fühlte sich prächtig an. Jetzt drehte sie sich zum Publikum um und entdeckte hinter den voll besetzten weißen Bänken Sönke mit Regina. Irgendjemand hatte ihnen wohl gesteckt, dass Arne hier auftreten würde. Aber die beiden schauten nicht auf die Bühne, sondern schienen sich zu streiten. Was war da los? Ihr fiel ein, dass Brockstedt gesagt hatte, in ihrer Familie braue sich etwas zusammen. Kam jetzt etwa wieder die Diskussion auf, ob man sie ins Heim stecken sollte? Wegen der Wattwanderung und der Bowle? Regina konnte sie nicht trauen, das wurde ihr wieder einmal bewusst.
Sie stieß einen Seufzer aus. Eigentlich hatte sie nach der ganzen Aufregung nur den Wunsch, sich auszuruhen. Mit einem Mal war ihr schon die Vorstellung, nach dem Konzert noch nach Hause zu gehen, zu viel. Und jetzt kam auch noch ein Familienstreit hinzu, der wahrscheinlich um sie kreiste. Sie versuchte sich zu beruhigen: Sönke würde nie zulassen, dass sie die Wohngemeinschaft hinterm Deich verließ, da war sie sich sicher. Außerdem gab es ja noch Christa und Ocke. Trotzdem, sie musste so bald wie möglich mit Sönke reden, um den neusten Stand zu erfahren.