20. Ein zartes Fiepen
Am nächsten Morgen wachte Sönke mit einem Glücksgefühl auf und tastete neben sich. Doch da war niemand. Maria war schon zum Dienst gefahren. Eigentlich war es ihm gar nicht recht, dass sie sich in ihrem Zustand mit Besoffenen oder Kriminellen rumschlagen musste. Besser, sie verschanzte sich im Innendienst. Doch dazu müsste Maria Brockstedt erst einmal mitteilen, dass sie schwanger war, und das wollte sie so lange wie möglich hinauszögern.
Sönke hatte vor Aufregung die ganze Nacht kaum geschlafen, er war auch jetzt immer noch aufgewühlt. Väter waren immer nur andere geworden, Bekannte, Freunde, Verwandte. Nun er? So richtig konnte er es sich nicht vorstellen, schlaflose Nächte, Windelwechseln, und mit Kinderprodukten kannte er sich überhaupt nicht aus, von ferngesteuerten Monster-Trucks und Ähnlichem mal abgesehen. So etwas schenkte er gerne seinem Patenkind, sehr zum Entsetzen der Waldorfkindergarten-Eltern. Hoffentlich ging alles gut.
Er beschloss, dass Wickelkommode und Kinderwagen noch Zeit hatten, jetzt gab es erst einmal anderes zu tun. Es war bereits neun, Zeit für ein Frühstück mit Christa, um mit ihr über Oma zu sprechen. Regina hatte ihn während der Vorführung in der Kurmuschel abgefangen und regelrecht gedroht, in Sachen Oma sofort aktiv zu werden. Sie konnte nicht einmal das Ende des Stücks abwarten, dabei war es total lustig gewesen, Arne als Windrad zu sehen. Und gleichzeitig erleichternd, denn dadurch musste er nicht in den Knast! Regina hatte das überhaupt nicht beeindruckt. Sie hatte nur kurz mit verächtlichem Blick auf die Kurmuschel geschaut und ihn dann angekeift, wieso er nicht schon längst bei Christa gewesen sei, wie er versprochen hätte. Sönke war keine gute Begründung eingefallen. Er durfte ja nicht verraten, dass inzwischen etwas noch Wichtigeres in sein Leben getreten war. Die Geheimnistuerei ging ihm mächtig gegen den Strich, aber Marias Wort galt in diesem Fall nun mal mehr als seines. Statt die Neuigkeit überall hinauszuschreien, wie er es gerne getan hätte, musste er sich nun darum kümmern, dass Christa Oma besser überwachte oder zumindest mehr im Blick behielt. Keine leichte Aufgabe, Christa besaß ein Recht auf ihr eigenes Leben, da musste ein Kompromiss gefunden werden. Regina hatte ihm ein Ultimatum bis zum Abend gestellt, dann wollte sie mit der Heimsuche beginnen. Und wie Sönke sie kannte, würde sie das auch tun.
Er stieg in Marias uralten Mini One, der vor dem Haus parkte. Maria fuhr in letzter Zeit meist mit dem Fahrrad zur Arbeit. Beim Anlassen des Motors fiel ihm auf, dass sie auch ein neues Auto brauchen würden, denn ein Kinderwagen passte in diese kleine Kiste nur mit Not. Er nahm den geteerten Wirtschaftsweg nach Süderende. Der Westwind bog die Bäume in Richtung Osten, wirbelte vergessenes trockenes Laub vom letzten Herbst auf und warf es übermütig in die Luft. Die Spitzen der Schilfhalme standen wie Peitschenantennen in den Gräben und wurden von quertreibenden Windböen in die Waagerechte gedrückt. Das einzig Unbewegte schienen die Häuser und Straßenlampen zu sein, aber auch die vibrierten bei genauerem Hinsehen. Manchmal erwischte eine Böe den Wagen, der zum Glück immer brav in der Spur blieb, weil er so tief lag wie ein Gocart.
In Süderende fuhr er langsam am Friedhof St. Laurentii vorbei. Dort gab es Grabsteine, auf denen die Lebensgeschichte seiner Vorfahren eingemeißelt war – und nun würde es bald neues Leben bei den Riewerts geben! Mit seinem Nachwuchs würde der Stab in der Familie weitergereicht. Er selbst rückte eine Generation weiter nach hinten, genau wie alle anderen in der Familie auch. Sönke drehte das Radio an, ein dänischer Sender war zu hören, der Moderator erzählte kichernd eine Geschichte, von der Sönke zwar nichts verstand, die aber wie Musik in seinen Ohren klang. Danach wurde ein Uralt-Titel von Roxette gespielt: Listen to your heart. Das war die erste CD gewesen, die er sich von seinem eigenen Taschengeld gekauft hatte. Damals war er elf gewesen. Sönke sang alle Strophen laut mit, und es gelang ihm gar nicht mehr runterzukommen. Eigentlich war dies die komplett falsche Stimmung für das ernste Gespräch, das ihm bevorstand.
Als er den Ortseingang von Dunsum erreichte, traute er seinen Augen nicht. Seine Oma kam ihm leicht schwankend auf der Straße entgegen. Sie trug ihren alten roten Hosenanzug, der in der Landschaft leuchtete wie ein Warnsignal. Schritt für Schritt kämpfte sie sich voran. Sönke hielt sofort an und schaltete die Musik aus. Obwohl sie ihm gestern Abend am Telefon versichert hatte, dass sie mindestens vierundzwanzig Stunden schlafen würde, sah sie müde und matt aus. Im letzten halben Jahr war sie sehr gealtert, da gab es nichts zu beschönigen. Das Schlimme daran war: Man konnte nicht mehr damit rechnen, dass es noch mal besser wurde. Ihre gemeinsamen Touren nach Amsterdam, Berlin oder Venedig würden sich nicht wiederholen lassen, sie waren nichts als Erinnerungen, wenn auch besonders schöne. Der Raum, in dem seine Oma sich bewegen konnte, wurde immer enger und würde schließlich dem eines kleinen Kindes ähneln. Als Sönke aus dem Wagen sprang, erwischte ihn sofort eine frische Windböe, was ihm guttat.
«Na, Oma, trainierst du gerade?», rief er fröhlich.
«Meine Zwischenzeiten sind ziemlich im Keller», grummelte Imke mit einem Lächeln.
Er nahm seine Oma in den Arm. «Moin erst mal. Hü gungt et?»
«God.»
Was stark übertrieben sein durfte.
«Soll ich dich im Wagen mitnehmen?» Es waren zwar nur hundert Meter bis zum Haus, aber immerhin.
Imke schüttelte den Kopf und deutete auf sein Auto. «Bis ich mich bei dir auf den Sitz gepult habe, laufe ich die Strecke dreimal hin und zurück.»
Also parkte Sönke den Wagen an der Straßenseite und hakte sich bei seiner Oma unter. «Ist Christa zufällig da?»
«Ja, aber sie kann nicht mit dir sprechen.»
Das kam ziemlich schroff.
«Wieso nicht?»
Oma sah ihn prüfend von der Seite an: «Willst du mit ihr über mich schnacken?»
Sönke wurde heiß und kalt: erwischt!
«Sie ist immerhin deine Pflegerin, und ich soll mich offiziell um deine Angelegenheiten kümmern.»
Dass er der Vormund seiner Oma war, erwähnte er nicht gerne. Aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig.
Imke blieb stehen und holte tief Luft. «Weißt du, warum ich auf dieser blöden Straße laufe und nicht auf dem Deich?»
«Nein.»
Sie sah die Straße hinunter. «Weil ich es nicht mehr schaffe, den Deich hochzukommen. Ich glaube, die haben den nur gebaut, um mich vom Watt fernzuhalten.»
«Klar, warum auch sonst?» Sönke lachte.
Oma schüttelte den Kopf. «Ich kann nicht mal mehr abhauen, wenn ich tüdelig werde. So sieht es aus. Also mach dir keine Sorgen.»
«Ich will trotzdem mit ihr reden. Sie soll dich unterstützen, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, organisieren wir Hilfe von außen.»
«Du kannst Christa gerade nicht sprechen», wiederholte Oma energisch und hielt ihren Enkel am Arm fest.
«Warum nicht?»
Sie ließ ihren Blick bedeutungsvoll zum Horizont schweifen: «Lass uns einen kleinen Umweg machen, aber unauffällig …»
Sönke hielt das für eine schlechte Idee, denn Oma konnte nicht mal eben einen Umweg machen. Doch sie ließ sich nicht davon abbringen und lotste ihn zu dem Maisfeld, das direkt gegenüber vom Haus lag. Die Blätter der mannshohen Pflanzen und die schweren Früchte schlugen ihnen gegen Gesicht und Bauch, Oma steckte das erstaunlich gelassen weg. Bald standen sie an einem Punkt, von dem aus sie auf die Vorderseite des Hauses blicken konnten. Ein irrsinnig lautes Fiepen war zu hören, schlimmer als ein startendes Flugzeug. Oma zog ein kleines Fernglas aus ihrer Jacke und drückte es Sönke in die Hand.
«Ich habe meine Brille nicht dabei, schau du lieber.»
Sönke blickte durch das Fernglas.
«Was siehst du?», löcherte sie ihren Enkel.
Sönke stellte den Fokus schärfer. «Vor Christas Fenster steht Ocke mit seiner E-Gitarre. Er hat eine Anlage und einen Mikrophon-Ständer vor sich aufgebaut.»
Oma nickte, als hätte sie so etwas erwartet. «Sind die Gardinen bei Christa zu?»
«Da regt sich nichts.»
«Die wird sich wundern.» Oma lächelte.
Sönke behielt Christas Fenster fest im Blick. «Es passiert immer noch nichts.»
«Gib mir mal das Fernglas, bitte», sagte Imke und riss es ihm bereits aus der Hand. «Mist, ohne Brille kann ich wirklich nichts erkennen.»
«Was hat das alles zu bedeuten?», fragte Sönke.
Seine Oma strahlte ihn an, aber sie sagte nichts.