15. Frauen bringen Unglück
Der Warteraum der W.D.R.-Reederei war voller Touristen, die in den ausliegenden Zeitschriften und Katalogen blätterten. Imke war nass geworden, aber es machte ihr nichts aus. Mit dem Regen hatte sie sich angefreundet, sonst hätte sie nicht ihr ganzes Leben auf Föhr verbringen können. Nun wartete sie, bis sich der Himmel wieder aufklarte, dann wollte sie mit dem Bus nach Hause fahren.
Ein junger Mann neben ihr hatte auf seinem Laptop den Regenradar des Wetterdienstes eingestellt und verfolgte, wie die Wolke Richtung Festland abzog. Was heutzutage alles möglich war! Imke ließ es sich dreimal erklären, war aber am Schluss genauso schlau wie zuvor. Sie schnappte sich einen der ausliegenden Kataloge und studierte das Angebot an Piratenfahrten, Insel- und Hallighopping sowie Kurzflügen nach Sylt. Es gab wahlweise «Sylt Royal» mit dem Bus, Schiffstörns zu den Seehundbänken, nach Amrum, auf die Hallig Gröde, die Hallig Langeneß und natürlich auf die Hallig Hooge mit dem Königspesel, einer alten Friesenstube aus dem 18. Jahrhundert. Imke hielt die rechte Katalogseite mit der Hand zu und versuchte sich zu erinnern: Hatte der dänische König Friedrich VI. dort in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 1825 wegen einer Sturmflut übernachtet? Diese Jahreszahl musste zu ihrer Schulzeit jedes Insulanerkind im Schlaf kennen, als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gab. Imke nahm die Hand wieder weg, die Zahl stimmte. So schlecht konnte es um ihr Gedächtnis nicht stehen.
Ihre Gedanken schweiften zu Brockstedt. Hoffentlich hatte sie Arne vor dem Knast bewahren können. So chaotisch die Familie Riewerts auch manchmal war, im Gefängnis hatte noch niemand von ihnen gesessen, und das wollte Imke auf ihre alten Tage nicht noch erleben. Zum Glück liefen die Uhren auf der Insel manchmal etwas anders – in diesem Fall allerdings nur, wenn Brockstedt es wollte.
Als die Regenwolke endlich Richtung Festland abgezogen war, kam die Sonne raus. Erst etwas zögerlich, dann immer entschlossener. Imke machte sich auf zur Bushaltestelle, die sich direkt vor dem W.D.R.-Gebäude befand, und erwischte einen Sonderbus nach Dunsum. Dort angekommen, empfing sie ein fröhlicher, warmer Wind, der am wolkenlosen Himmel von Sylt herüberzog. Am liebsten wäre sie zum Deich getapert, um einen Blick aufs Watt zu werfen, aber sie wollte es nicht übertreiben. Es waren allein die Tabletten, die ihr diese Tour ermöglicht hatten, jetzt sollte sie ihr Schicksal besser nicht mehr herausfordern. Also schlenderte sie die wenigen Meter zum Haus, das wie eine schlafende Schönheit in der Nachmittagssonne lag. An den verschiedenen Rotfärbungen der Steine erkannte man deutlich, dass die Wände zu unterschiedlichen Zeiten ausgebessert worden waren.
Draußen war niemand zu sehen, obwohl Ockes Taxi mit geöffnetem Kofferraum vor der Tür stand. Was sollte das? Ocke war eigentlich immer draußen, im Winter legte er sich sogar mit einem Mumienschlafsack auf die Terrassenliege, um Mittagsschlaf zu halten.
Sie betrat das Haus und ging über den schattigen Flur in die Küche. Es war nichts zu hören, Ocke und Christa schienen nicht da zu sein. Sie setzte ihre Brille auf, gab ein paar gehäufte Löffel Kaffeepulver in die Kaffeemaschine, füllte Wasser ein und stellte sie an. Ein starker Bohnenkaffee würde ihr guttun. Erst als sie sich an den Küchentisch setzen wollte, fiel ihr auf, dass vor der Anrichte mindestens ein Dutzend Umzugskartons standen.
Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich hörte sie ein Geräusch aus Ockes Zimmer. Er war also doch da? Sie ging hin und blickte auf das pure Chaos. Ocke hatte all seine Bücher kreuz und quer auf den Boden geworfen und war gerade dabei, sein Regal von der Wand zu schrauben. Das Foto von der Gorch Fock lag neben dem Schreibtisch auf dem Boden. Ohne nachzudenken, stürmte Imke auf ihn zu und warf sich ihm um den Hals. Nirgendwo fühlte sie sich sicherer als in den Armen ihres starken Mitbewohners, der immer einen festen Stand zu haben schien. Eigentlich wollte sie ihm beichten, dass sie sich, ohne ihn zu fragen, sein Mofa geliehen hatte, aber zuerst musste die gute Nachricht raus.
«Stell dir vor, ich war eben mit Brockstedt angeln.»
«So?»
«Mit Glück habe ich damit Arne bei der Polizei rausgehauen.»
«Sehr gut.»
«Mehr nicht? Kein Wort der Anerkennung? So etwas wie, ‹Hey, Imke, wie hast du das hinbekommen?›?»
Ocke schaute sie traurig an. «Hast du gut gemacht.» Er faltete einen Umzugskarton auf und legte seine Wetterstation behutsam hinein.
«Du hast doch erst gerade renoviert», wunderte sich Imke.
Ocke legte mehrere Lagen Zeitungspapier über die Wetterstation und packte darüber seine messingfarbene Tischlampe mit dem Zugschalter aus einer Perlmuttkette aus Malaysia.
«Ich ziehe aus.»
Imke hörte die Worte wohl, konnte sie aber nicht glauben.
«Nein.»
Ocke schraubte weiter an seinem Regal herum.
«Tut mir leid, es geht nicht anders.»
«Warum?»
Sie nahm das Bild von der Gorch Fock in die Hand, stellte es mit der Rückseite nach vorne. Irgendetwas stand dort geschrieben. Sie setzte ihre Brille auf und konnte nun deutlich Ockes Thesen lesen:
Was gar nicht geht:
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Nach jedem Duschen bleiben Schamhaare im Abfluss!
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Versucht ihr, Pilze in gebrauchten Kaffeebechern zu züchten, die ihr auf dem Dachboden lagert?
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Holzbrettchen bekommen Risse, wenn sie nass werden. Sie haben nichts in der Spülmaschine zu suchen!
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Meine Zeichenstifte verleihe ich gerne – wenn man mich fragt!
Imke nahm die Brille ab und schaute Ocke stirnrunzelnd an.
«Deswegen?»
«Nee», murmelte Ocke.
«Von den Schamhaaren in der Dusche habe ich nicht mal etwas geahnt!»
Ocke schüttelte den Kopf: «Es hat nichts damit zu tun.»
«Geld oder Liebe?», Imke nahm ihm den Schraubenzieher aus der Hand.
Da Ocke ihrem Blick auswich, lag die Lösung auf der Hand.
«Also Liebe.»
Ocke nahm den Schraubenzieher wieder an sich, setzte sich mit verschränkten Armen auf die Couch und schaute unglücklich aus dem Fenster. Draußen war bestes Sonnenwetter, viel zu schade, um trübe in der Bude zu sitzen.
«Kenne ich sie?», fragte Imke.
Ocke nickte.
«Wer?»
Ocke verschränkte die Arme vor dem Bauch. «Sage ich nicht!»
«Wer?»
«Ist doch egal.»
«Lass mich raten – Rita vom Edeka-Markt in Utersum?»
Rita war die attraktive fünfzigjährige Kassiererin mit dem riesigen Busen, mit der Ocke an der Kasse gerne mal einen Klönschnack hatte. Nach großer Liebe hatte das für sie nicht ausgesehen. Aber selbst wenn, war das ein Grund auszuziehen?
«Christa.»
Imkes Augen flackerten begeistert auf: «Du hast dich in Christa verliebt?»
«Wehe, du sagst es ihr, Imke! Hast du gehört?»
Imke strahlte. «Wie toll!»
Ocke haute wütend mit der Hand auf die Armlehne seines roten Sofas.
«Was soll daran toll sein? Du hast doch selbst mitbekommen, dass Christa einen anderen hat. Der mit dem Köter. Sie hat ihn auf der Party geküsst, direkt auf den Mund!»
«Er war auf unserer Party? Da war ich wohl schon im Bett.»
«Ja. Und weißt du, wer es ist? Unser Vermieter, Stefan Petersen. Kommt aus Hannover und greift hier unsere Frauen ab.»
Das hatte Imke nicht erwartet. Ausgerechnet Petersen, dieser Angeber. Sie ließ sich ihr Entsetzen aber nicht anmerken.
«Na und? Woher willst du wissen, dass der Kuss ernst gemeint war?»
Ocke sah schwermütig aus dem Fenster.
«Frauen bringen nur Unglück.»
«Aber nur an Bord, dachte ich. – Und wie geht es nun weiter?»
«Jetzt kommen die üblichen Wochen mit zu viel Alkohol. Dann reiße ich mich wieder zusammen und mache Sport. Im besten Fall bin ich in einem halben Jahr durch mit der Sache. So war das mein ganzes Leben lang, da drin hab ich Routine.»
«Wenn das so klar ist, warum willst du dann ausziehen?», fragte sie spitzfindig. Selbstmitleidige Männer reizten sie immer zur Boshaftigkeit, dagegen konnte sie nichts machen.
«Tür an Tür mit ihr habe ich keine Chance, sie zu vergessen.»
Seine Liebe zu Christa erzeugte offensichtlich mehr Ängste als alle Orkane auf hoher See zusammen, Imke war beeindruckt. Natürlich wollte sie ihm helfen – aber wie?
«Du weißt doch gar nicht, was mit Petersen wirklich ist! Wenn Christa mit ihm zusammen gewesen wäre, hätte sie ihn ja wohl von Anfang an auf der Party dabeigehabt und ihn offiziell als ihren Freund ausgegeben, oder?»
Es war ein Versuch. Imke war aber nicht sicher, ob Ocke sie überhaupt gehört hatte.
«Weißt du, heute Mittag waren Christa und ich richtig zusammen», murmelte er abwesend, «also vielleicht nicht ganz, aber kurz davor. Wir haben noch zusammen die letzten Reste der Party aufgeräumt, und jedes Mal, wenn sie mir über den Weg lief, hat sie mich angelächelt. Das habe ich dann wieder als Hoffnungszeichen gesehen. Als wir mit dem Putzen fertig waren, haben wir sogar einen Piccolo zusammen auf der Terrasse getrunken.»
Imke klatschte begeistert in die Hände.
«Das klingt wunderbar! Besser könnte es doch gar nicht sein.»
Ocke schüttelte den Kopf.
«Es war alles Illusion. Nach dem Sekt verschwand Christa im Bad und kam geföhnt und geschminkt wieder heraus. Sie hatte sich schick gemacht – für ihren Lover.»
«Woher willst du wissen, dass sie zu ihm wollte?»
«Ich Idiot habe sie sogar zu ihm gefahren.»
Und dann erzählte Ocke ganz leise, wie Christa neben ihm in seinem alten Mercedes-Taxi gesessen hatte. Und hellwach und erwartungsvoll auf die Gräser und Bäume geschaut hatte, die vom Wind in alle möglichen Richtungen geweht wurden. Wie sie die Beifahrerscheibe heruntergekurbelt und ihren Kopf immer wieder herausgehalten hatte, um die frische Luft zu inhalieren – ohne Rücksicht auf ihre Frisur.
So hatte Imke Ocke noch nie erlebt. Es stand ihm hervorragend, verliebt zu sein.
«Ich wäre vor Verzweiflung am liebsten gegen einen Baum gefahren.»
«Wo hast du sie denn abgesetzt?»
«Am Wyker Tennisplatz.»
Jetzt schleuderte Ocke den Schraubenzieher in eine Zimmerecke und schaute Imke mit Bernhardinerblick an.
«Meine Entscheidung steht fest, Imke, ich mach die Biege.»
Imke schüttelte den Kopf. «Kommt nicht in Frage!»
«Doch.»
«Das ist kindisch.»
«Und wenn.»
«Wieso kämpfst du nicht wie ein richtiger Mann?»
«Weil ich längst verloren habe.»
«Das weißt du erst, wenn du auf dem Tennisplatz warst.»
«Wie bitte?»
«Was hast du zu verlieren?»
Eigentlich war ihr das nur so rausgerutscht. Aber vielleicht war es gar keine schlechte Idee.
«Niemals!», stöhnte Ocke.
«So ein Bussibussi auf einer Fete muss doch gar nichts bedeuten. Aber das kannst du nur rausfinden, wenn du hinfährst.»
Er sah sie zweifelnd an, aber sie hatte das Gefühl, er war am Haken. Klar war, dass wenn Ocke ihrem Plan folgte, er das nur in ihrer Begleitung tun würde. Sie musste sich ein weiteres Mal aufraffen. Dabei hatte der Tag sie bis jetzt schon viel zu viel Kraft gekostet. Aber sie konnte Ocke jetzt nicht hängenlassen, außerdem war dies die letzte Chance, ihre Dreier-WG zu retten. Und es lag ihr sehr viel daran, weiter mit Ocke und Christa in dem alten Ziegelhaus hinterm Deich zu wohnen. Mit Hilfe des pharmazeutischen Hilfsmotors von Dr. Behnke würde sie es schon irgendwie schaffen. Medizinisch grenzte das nicht an Drogenmissbrauch, es war einer! Egal, danach würde sie sich ein paar Tage Ruhe gönnen. Apropos Hilfsmotor … Aber das mit dem Mofa hatte noch Zeit.
«Mach dich fertig, ich begleite dich. Keine Widerrede!», befahl sie und verschwand in ihrem Zimmer, um sich für die bevorstehende Fahrt zu stärken.