28. Familie Riewerts hebt ab

Der Wyker Flughafen lag in der Nähe des Golfplatzes und erinnerte eher an eine Schafweide als einen Airport in der Großstadt. Vom Kinderspielplatz blickte man über den hüfthohen Zaun auf die Landebahn direkt dahinter, man konnte nur hoffen, dass ein zu hoch gespielter Ball nicht mal ein startendes Flugzeug erwischte. Neben dem Zugang zum Rollfeld befand sich ein Hundenapf mit Wasser für die Vierbeiner. Der Tower sah so aus, als hätte man ihn einer Modellanlage entnommen und gerade so weit vergrößert, dass echte Menschen mit gebücktem Rücken darin Platz fanden.

Sönke und Maria kamen etwas zu früh. Wenn man genau hinschaute, sah man inzwischen einen kleinen Bauch bei ihr, und wenn man noch genauer hinschaute, bei Sönke auch. Warum er in der Schwangerschaft zunahm, war ihm ein Rätsel und nervte ihn. Aber das wollte er heute vergessen, denn heute war Omas großer Tag! Maria und er passierten den Clubraum des Luftsportclubs Föhr und setzten sich in das kleine Flughafenrestaurant mit den Holzpaneelen an den Wänden. Auch das erinnerte eher an eine Skatkneipe als an einen Airport. Der Raum war vollgehängt mit Ölbildern von den Doppeldeckern.

Durchs Fenster hatten sie Ausblick auf den kleinen Parkplatz draußen und sahen nun, wie Ocke mit seinem alten Taxi vorfuhr und Imke, Christa, Regina und Arne mitbrachte. Christa und Ocke strahlten sich mit leuchtenden Augen an und gingen Hand in Hand aufs Restaurant zu. Sönke fand, dass sie das schönste Paar der Insel waren. Als Oma hereinkam, lachte Sönke sie erst einmal aus: Sie war in einem ockerfarbenen Overall erschienen, wie Piloten ihn zu Zeiten der Doppeldecker trugen, es fehlte nur noch die Ledermütze.

«Oma, die Maschinen sind heutzutage geschlossen», beruhigte sie Sönke.

Imke hob beleidigt den Kopf.

«Weiß ich doch. Aber sicher ist sicher.»

Außer dem Piloten durften noch drei Leute mit in dem Sportflugzeug sitzen. Sönke hatte sich auf einen Familienstreit um die Plätze eingestellt, doch komischerweise war außer ihm und Maria niemand versessen darauf, das kleine Flugzeug zu besteigen.

Ein blonder Hüne mit einer großen Nase kam nun an ihren Tisch. Sie kannten ihn, er hieß Thies und hatte auf Omas Party CDs aufgelegt.

«Moin! Ihr wollt einmal übers Wattenmeer?»

«Bist du etwa der Pilot?», fragte Regina misstrauisch.

Thies fand das gar nicht witzig. «Was dagegen?»

«Nee, nee.»

Thies hatte auf Omas Party erst extrem viel von der Bowle getrunken und dann irgendwann sein DJ-Pult verlassen, um selbst alberne Verrenkungen auf der Tanzfläche zu machen. Sönke konnte sich schwer vorstellen, dass dieser Mann in der Lage war, ein Fluggerät sicher zu steuern.

«Der ist vorbestraft wegen Betrugs», flüsterte Maria Sönke zu.

«Und du bist schwanger, das ist viel schlimmer», wisperte Sönke.

«Wie jetzt?»

«Muss man denn alles riskieren?»

«Wenn du alleine fliegst, und es passiert was, wächst unser Kind ohne Vater auf. Auch nicht schön.»

«Also alle oder keiner?»

Oma deutete jetzt auf eine Holzleiste neben dem Tresen, an der zwei Dutzend abgeschnittene Schlipse hingen.

«Was ist das?», fragte sie Thies.

«Eine alte Fliegertradition. Nach dem dritten Alleinflug ohne Lehrer wird dem Piloten der Schlips abgeschnitten.»

«Ich hoffe, das haben Sie lange hinter sich!»

«Keine Sorge.» Thies verschwand kurz, um die letzten Vorkehrungen für den Flug zu treffen.

 

Regina drückte ihre Mutter zum Abschied fest an sich. «Mama, alles Gute, Mast- und Schotbruch.» Sie überreichte ihr ein Lunchpaket in einer Tupperdose, was reichlich übertrieben war, denn sie flog ja nicht nach Australien, sondern nur eine Runde übers Wattenmeer.

Auf die Tupperdose verzichtete Imke lieber: «Das ist lieb gemeint, Reginchen, aber ich esse das lieber hinterher. Ich bin froh, wenn mein Magen den Flug ohne Probleme übersteht.» Sie zeigte Regina eine Spucktüte, die sie sich in die Brusttasche ihres Overalls gesteckt hatte.

Arne umarmte seine Mutter ebenfalls. «Ich wollte nicht mit», gestand er verlegen. «Das Wasser hat zwar keine Planken, aber die Luft irgendwie noch weniger.»

«Ich wusste gar nicht, was ihr alle für Memmen seid», rief Imke und lachte ihnen ins Gesicht. Der bevorstehende Flug versetzte sie in Hochstimmung. Das sei das schönste Geburtstagsgeschenk ihres Lebens gewesen, betonte sie immer wieder. Auch Ocke und Christa verabschiedeten sie mit Küsschen auf die Wange. Thies schlurfte nun lässig an den Tisch und baute sich schlecht gelaunt vor Sönke, Oma und Maria auf.

«Die Maschine ist betankt, es kann losgehen», nölte er freundlich.

«Mensch, Maria, und du willst wirklich mit?», sorgte sich Imke.

«Was soll denn passieren, Oma?»

Regina machte ein letztes Foto mit ihrem Handy von ihrer Mutter, dann stand Imke auf und hakte sich bei Maria und Sönke unter. Langsam gingen sie auf das Flugfeld zu der Cessna.

«Das Wetter könnte besser sein», warnte Thies, «der Wind liegt heute bei fünf bis sechs, es kann also etwas wacklig werden.»

Oma winkte ab: «Vollkommen egal, wenigstens scheint die Sonne.»

Sie bestand darauf, hinten bei Sönke sitzen zu dürfen. Es war gar nicht so leicht, sie in die Maschine zu hieven. Sönke legte ihr den Bauchgurt um und schnallte sich selbst an. Einen Moment zögerte er. Oma sah zwar zu allem entschlossen, aber doch etwas blass aus. Hoffentlich übernahm sie sich nicht. Doch da startete Thies bereits den Motor, der überraschend laut war. Maria drehte sich lächelnd nach hinten und hob den Daumen. Thies verteilte Kopfhörer mit eingebauten Mikrophonen an alle, sodass sie sich trotz des Motorenlärms verständigen konnten, nur Oma lehnte ab.

Langsam lenkte Thies die C-172 auf dem unebenen Rasen auf Startposition und bat beim Tower um Starterlaubnis.

«Geit klor», rief der Fluglotse über Funk. Das lief vom Tonfall hier etwas lockerer ab als auf den großen Verkehrsflughäfen.

Dann tauschte Thies noch in schlechtem Englisch irgendwelche Zahlen mit dem Tower aus. Plötzlich schoss die Cessna mit aufheulendem Motor nach vorn und rumpelte über den unebenen Rasen, was für Sönke gewöhnungsbedürftig war. Es dauerte ewig, bis die kleine Maschine Fahrt aufnahm: Würde sie den Weg über die Baumwipfel schaffen? Er vergewisserte sich kurz bei Thies, dass alles in Ordnung war.

Statt einer Antwort hoben sie ab.

Als sie gerade über Baumhöhe waren, erfasste eine starke Seitenböe das Flugzeug und ließ es nach Steuerbord über den Golfplatz abdriften, Thies korrigierte ruckartig mit dem Steuerknüppel nach, die Maschine wurde kräftig durchgerüttelt. Oma lachte nur darüber und schaute begeistert durch das Seitenfenster nach unten. Föhr lag wie eine satte, grüne Perle im Wattenmeer, eingefasst und beschützt von Amrum und Sylt. Der Kirchturm von St. Johannis in Nieblum war deutlich zu erkennen, die bunten Strandkörbe in Utersum, das Nordseewasser, das Föhr umgab, glitzerte fast überirdisch in der Sonne, Seehunde lümmelten sich auf den Sandbänken. Thies zog die Maschine langsam weiter hoch und steuerte Richtung offene See, das Flugzeug lag nun viel ruhiger in der Luft.

Sönke drehte sich um zum Leuchtturm von Hörnum. Zwischen den Inseln und Halligen lagen unzählige Priele, die sich gerade mit frischem Wasser füllten. Selbst von hier oben konnte man die reißende Strömung erahnen. Im Watt waren die Abschnitte mit Sandrippeln deutlich zu erkennen, dazwischen die Sandbänke mit den Seehunden und die Stellen, die sich unter der Fußfläche anfühlten wie kalt gewordener Griespudding, wie Sönke von seinen unzähligen Wattwanderungen wusste. Er stellte sich vor, dass die großen und kleinen Pfützen miteinander sprechen konnten, zusammen mit den Sandbänken und den Seehunden, den Steinen und dem Wasser. Alle würden durcheinanderreden, und trotzdem würde sich aus den vielen Stimmen ein harmonischer, überirdischer Chor ergeben.

«Es ist das Paradies», seufzte er ins Mikrophon.

Dann nahm er den Kopfhörer ab und rief es noch mal seiner Oma entgegen, die ohne Verkabelung einfach so auf ihrem Sitz saß: «Es ist wunderbar, oder?»

Doch Oma war ganz tief eingeschlafen.

Sönke lächelte.

Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass sich bei ihr etwas verändert hatte.