11. Badeverbot

Als Sönke über den schmalen Weg durch die Dünen zum Nieblumer Strand kam, winkte Maria ihm heftig gestikulierend aus dem Wasser zu. Sie wohnten nun schon zwei Jahre in dem kleinen Reetdachhäuschen in Nieblum, was er keinen Tag bereut hatte. Seine Hamburger Freunde fragten ihn bei jedem Telefonat nach dem Inselkoller, doch der wollte sich einfach nicht einstellen. Der beste Beweis: Gerade hatte Sönke eine Woche Urlaub von seinem Job in der Kurverwaltung, und er verbrachte ihn dort, wo er auch wohnte: auf der Insel Föhr!

Er schaute prüfend in den Himmel und hoffte, dass die riesige Wolke bald verschwinden würde, um Platz für die Sonne zu machen. Aber auch bei diesem Wetter war es am Strand so voll wie bei Sonnenschein. Der feine Sand unter seinen Füßen fühlte sich noch etwas feucht und kühl an, was die Stammgäste in ihren Strandkörben wenig kümmerte. Sie wussten, wie schnell sich das Wetter am Meer änderte, und braun wurden sie auch so. Es war ja nicht kalt, immerhin war es August. Also lasen sie ihre Zeitungen und Bücher wie sonst auch, dösten vor sich hin oder schauten einfach ins Nichts, um ihre Gedanken schweifen zu lassen. Die älteren Kinder spielten Beachvolleyball, während die Kleinen ihre Phantasiestädte in den Sand buddelten.

Alles war gut.

Zu den lustigsten Erlebnissen auf Föhr zählte für Sönke die Begegnung mit einer Schülergruppe aus Süditalien, die sich letzten Sommer auf die Insel verirrt hatte. Während Insulaner und Touristen den Tag auch bei bedecktem Himmel in Badehose und Bikini genossen, trugen die Italiener Jacken. Sie waren fassungslos darüber, dass die Menschen bei 19 Grad ins Wasser sprangen. Bei der anschließenden Diskussion kam man zu dem Ergebnis, dass Europa angesichts der unterschiedlichen Badetemperaturen nur schwer zusammenwachsen konnte. Was die wenigsten wussten: Um Föhr herum befand sich eine Art geheizte Naturbadewanne, denn das Nordseewasser wird im flachen Wattenmeer besonders schnell von der Sonne erwärmt.

Sönke zog sich um, warf sich kopfüber in die frische See und kraulte zu Maria. Als er sie erreicht hatte, tauchten sie zusammen ab, umarmten und küssten sich unter Wasser, bis sie keine Luft mehr kriegten, dann kamen sie schnaufend wieder hoch.

«Brille wieder klar?», keuchte Maria.

«Perfekt.»

Der Heavy-Metal-Gitarrist mit dem runden Gesicht hatte ihm auf Omas Fete mit einer ungestümen Armbewegung seine Brille heruntergerissen und war anschließend aus Versehen draufgetreten. Sönke war deswegen nach dem Frühstück kurz zu seiner Tante Regina gefahren, die das Gestell in ihrem kleinen Wyker Optikerladen wieder hergerichtet hatte.

«Und wie geht es dir, meine große Liebe?», fragte Sönke.

«Mir ist immer noch etwas schlecht», sagte Maria.

«Omas Bowle war schon heftig.»

«Hallo? Ich habe kaum etwas getrunken. Nee, ich muss was Falsches gegessen haben.»

Sönke spritzte etwas Wasser zu ihr herüber und grinste.

«Vielleicht bist du ja schwanger.»

Maria lachte kurz auf: «Wie kommst du denn darauf?»

«Wegen Oma. Sie hat mir letztens gebeichtet, dass sie sehnlich darauf wartet, Urgroßmutter zu werden.»

«Von Omas Wünschen allein werde ich ja noch nicht schwanger. Was hast du ihr denn gesagt?»

«Dass es nicht geht, weil wir keinen Sex haben.»

Maria musste so sehr lachen, dass sie sich mit Salzwasser verschluckte.

«Kleines Rennen?», forderte sie ihn auf.

«Okay!»

Sie legte ein paar starke Schläge vor, Sönke hatte große Mühe, hinterherzukommen. Es war erbärmlich. Er schwor sich, von jetzt an jeden Tag zu trainieren. Nach einigen Metern brach Maria ab und legte sich flach aufs Wasser. Sie wollte ihm weitere Demütigungen ersparen. Sönke legte sich wie sie auf den Rücken und nahm ihre Hand. So schauten sie beide direkt in den Himmel, der bereits von Grau in Blau changierte. Die pralle Sonne stand kurz vor dem Durchbruch.

«Und, was erzählt Regina so?», fragte Maria.

«Ohne ihre Großfamilie würde es ihr wohl besser gehen.»

Sie schwammen gemächlich auf die Hallig Langeneß mit ihren sechzehn Warften zu, die trotzig aus dem Meer ragten.

«Wie das?»

«Die Gerüchteküche brodelt nach Omas Party.»

«Kann ich mir vorstellen.»

Maria tauchte kurz ab, und als sie wieder hochkam, lagen ihre langen Haare quer über ihrem Gesicht, was sie nicht zu stören schien. Langsam schwammen sie weiter.

«Was erzählt man sich denn so?»

«Ocke ist ein Säufer, Christa baggert junge Kerle an, wir kümmern uns nicht um Oma. Ach ja, Omas Gäste zünden Strandkörbe an und verprügeln die Polizei.»

Jetzt blitzten Marias braune Augen besorgt auf. Kein Wunder, immerhin war sie selbst Polizistin auf der Insel und damit doppelt betroffen, einmal privat, einmal beruflich.

«Sagt wer?»

Sönke drehte sich wieder auf den Rücken.

«Karen-Ann vom Eisladen in Oevenum. Und die hat es natürlich aus erster Hand.»

«Na, denn.»

Maria drehte sich auch auf den Rücken, und Seite an Seite ließen sie sich in Richtung offene See treiben.

«Hast du schon im Revier angerufen?», fragte Sönke vorsichtig.

«Ich habe mich noch nicht getraut.»

«Wir haben im Tanzraum doch gar nichts mitbekommen von dem ganzen Schlamassel.»

«Sönke, mein Vater hat meinen Kollegen Peter Markhoff verprügelt, als der ihn von der Straße aufsammeln wollte.»

«Dann bekommt er wohl ernste Probleme, bei seiner Vorgeschichte …»

Marias Vater Arne hatte vor einem Jahr zusammen mit einem Surfer-Kumpel ein Internet-Unternehmen gegründet. Sie verkauften Zubehör für Surfer, das der Kumpel in China billig einkaufte. Auf Anweisung seines Kompagnons hatte Arne dabei einige Papiere unterschrieben, die er nicht hätte unterschreiben dürfen. Das Dämlichste an der Sache war, dass er sie nicht einmal gelesen hatte. Sein Kumpel behauptete hinterher, er hätte die Verträge nie zu Gesicht bekommen, und Arne war vom Niebüller Amtsgericht wegen Betrugs zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Es war eine harte Lektion für ihn gewesen.

Dass sein Schwiegervater in geschäftlichen Dingen gnadenlos naiv war, wusste Sönke, aber ein Schläger war er nie und nimmer. Der Ausfall letzte Nacht war einfach nicht zu erklären. Sollte man ihn deswegen anklagen, würde seine Bewährung aufgehoben werden – und dann landete er womöglich im Gefängnis.

Maria pustete einen salzigen Wassertropfen weg, der über ihre Oberlippe den Weg in ihren Mund suchte.

«Was machst du denn nun wegen Arne?», fragte Sönke.

Maria streckte sich lang aus.

«Da halte ich mich raus.»

Sönke wusste, dass Maria ein recht kompliziertes Verhältnis zu ihrem Vater hatte, aber er fand, dass sie ihn in diesem Fall nicht hängenlassen durfte.

«Mensch, Maria, vielleicht muss Arne in den Knast.»

«Verstehst du nicht? Er hat einen Kollegen von mir angegriffen. Da kann ich nicht Partei für ihn ergreifen. Wie stehe ich dann da im Revier?»

 

Die Frage erledigte sich wenige Minuten später ohne ihr Zutun, denn vom Land her ertönte eine metallisch-quäkende Stimme übers Wasser.

«Maria, Sönke! Kommt sofort aus dem Wasser!»

Die beiden drehten sich um.

Auf dem DLRG-Turm stand Revierleiter Gerald Brockstedt mit einem Megaphon in der Hand. Der uniformierte Ordnungshüter erzeugte unter den leicht bekleideten Badegästen natürlich riesige Aufmerksamkeit, alle schossen aus ihren Strandkörben hervor, um zu sehen, was da los war. Maria und Sönke schwammen langsam zurück und staksten aus dem Wasser. Brockstedt stand jetzt an der Wasserkante und starrte sie mürrisch an.

«Moin, Gerald», grüßte Maria freundlich.

Doch ihrem Chef war nicht nach Höflichkeit zumute.

«Ich will dich im Revier sehen», grunzte er. «Gleich!»

«Ich habe heute frei», protestierte Maria.

«Jetzt nicht mehr.»

«Wieso?»

Statt einer Antwort wandte sich Gerald an Sönke: «Und du kommst gleich mit.»

«Ich? Wieso das denn?»

«Als Zeuge.»

«Wofür?»

Jetzt explodierte Brockstedt und brüllte los, was sonst gar nicht seine Art war: «Mensch, Sönke, wenn du drauf bestehst, kann ich dich auch schriftlich vorladen!»

Brockstedt stapfte zurück zu dem Polizeipassat, den er hinter dem Café Am Wattenmeer abgestellt hatte.

«Woher wusste der, dass wir hier schwimmen gehen?», fragte sich Sönke laut.

«Du weißt doch, wie das läuft auf der Insel, das kostet ihn drei Anrufe.»

Sönke und Maria trockneten sich ab und begaben sich ohne Eile zum Wagen. Eigentlich hatten sie vorgehabt, nach dem Baden nach Wyk zu fahren. Maria wollte zum Friseur, und danach hätten sie noch ein bisschen bei Bubu im Buchladen und in der Wyker Buchhandlung gestöbert. Daraus wurde jetzt nichts.

In diesem Moment zersprengte die Sonne die riesige Wolke in Einzelteile, und der Strandsand blendete wie wahnsinnig. Er wäre schön gewesen, zu bleiben.

 

Das rot geklinkerte Polizeirevier am Hafen wirkte wie eine abweisende Burg. Maria parkte ihren Mini One, und bei schönstem Sonnenschein gingen sie die Treppe zum Revier hoch. Als Maria die Tür mit ihrem amtlichen Schlüssel öffnete, kam ihnen ihr übermüdeter Kollege Burki im Flur entgegen:

«Moin.»

«Moin, Moin.»

Maria und Sönke verdrückten sich erst einmal in Marias Büro, von wo aus sie auf die Masten der unzähligen Segelboote im Hafen schauten. Amtsräume verströmten immer einen ganz eigenen Geruch, fand Sönke, nämlich gar keinen. Bis auf die zarte Note von muffeligem, altem Papier, das in unzähligen Leitz-Ordnern lagerte.

Gerald Brockstedt streckte den Kopf durch die Tür: «Frau Riewerts, kommst du?», grummelte er.

Mit Nachnamen angesprochen zu werden, musste für Maria ungewohnt sein; sie und Gerald hatten sich von Anfang an geduzt. Jetzt wirkte Brockstedt so sauer, als würde er am liebsten zum «Sie» zurückkehren.

«Kannst gleich mitkommen, Sönke.»

Sönke fühlte sich wie verhaftet, als er hinter Maria ins schmucklose Büro des Revierleiters trottete. Brockstedt nahm an seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch Platz. Der einzige Farbfleck im Raum war der Kalender der Polizeigewerkschaft, der in diesem Monat eine Schafherde in der Schwäbischen Alb zeigte. Maria und Sönke setzten sich unaufgefordert auf die zwei Besucherstühle, während sich Brockstedt Richtung Fenster drehte und stumm auf den sonnenbeschienenen Sportboothafen direkt vor dem Polizeirevier blickte. Er wirkte, als müsse er sich erst einmal sammeln, dann legte er los.

«Was ist gestern Nacht bei Imke passiert?»

«Wir haben getanzt», antwortete Maria.

«Ich feiere ja auch gerne», sagte Brockstedt, «und da kann schon mal ein Glas zu viel dabei sein. Aber gestern war das eine ganz andere Dimension.»

«Ich habe keine Straftaten begangen und auch keine geduldet», erklärte Maria trotzig. Als Polizistin wäre sie verpflichtet gewesen, so etwas anzuzeigen.

«Mann, dein Kollege Peter ist verletzt», brüllte Brockstedt plötzlich los, «und zwar weil dein Vater auf ihn losgegangen ist wie ein Berserker!»

«Das ist totaler Mist und muss geahndet werden, da bin ich deiner Meinung. Aber noch mal zum Mitschreiben: Ich habe nichts damit zu tun. Oder komme ich deswegen in Sippenhaft?»

Brockstedt schüttelte den Kopf und schaute ihr in die Augen.

«Es geht gar nicht um dich, Maria.»

«Sondern?»

Er holte tief Luft.

«Um eure Oma.»

«Aber …»

«Ocke und Christa sind nicht der richtige Umgang für Imke. Die haben sich zu Chaoten entwickelt. Ich kann es selbst kaum glauben, aber es ist so.»

Maria wurde jetzt richtig sauer.

«Woher nimmst du das? Ocke und Christa haben doch gar nichts gemacht.»

«Die laden sich einen Haufen Wahnsinniger ein, die ganz Dunsum aufmischen und deine Kollegen angreifen. Sogar Touristen sind in die Sache verwickelt. Wie kommt das, frage ich mich?»

Jetzt senkte Brockstedt die Stimme auf Zimmerlautstärke: «Du schreibst einen Bericht über alles, was du gesehen hast, und zwar sofort.» Er nahm einen Papierlocher in die Hand – so etwas gab es tatsächlich noch bei der Polizei – und spielte damit herum.

«Mal so von Mensch zu Mensch: Nehmt eure Oma da raus! Christa hat ihre Aufgabe als Pflegerin nicht im Griff, das ist offensichtlich. Imke soll vorgestern auf eigene Faust durchs Watt nach Amrum gelaufen sein, stimmt das?»

«Was? Keine Ahnung», stammelte Maria.

Sönke musste schlucken. Er hatte Maria noch nichts von der Rettungsaktion erzählt, das musste er dringend nachholen. Wenn es selbst ihr Revierleiter schon wusste …

Brockstedt glaubte ihr kein Wort und schüttelte nur verständnislos den Kopf: «Muss denn noch mehr passieren?»

In diesem Moment piepste Sönkes Handy. Eine SMS von Regina. Sie rief zur Familiensitzung am Utersumer Strand.

Von der harmonischen Stimmung, wie sie gestern Abend bei der Geschenkübergabe noch geherrscht hatte, war nichts mehr zu spüren.