1. Lust

Als Imke jünger war, hatte sie immer befürchtet, Altsein fühle sich an wie eine permanente Magenverstimmung oder ein fürchterlicher Kater. Stattdessen lag sie nun mit ihren siebenundsiebzig Jahren unter der Bettdecke und kam sich vor wie ein Mädchen im Hochsommer. Vorhin hatte sie ein heißes Bad genommen, sich danach von Kopf bis Fuß mit Bodylotion eingecremt und dann den verwegenen roten Seidenpyjama angezogen. Durch das gekippte Fenster kam ein kühler Hauch vom nahen Meer herein, der eine zarte Liaison mit dem Himbeerduft der frischen Bettwäsche einging. Gardinen besaß sie nicht, der volle Mond streichelte ihr sanft übers Gesicht und warf sein Licht auf den weißen Elefantenschädel auf dem Bild ihres Lieblingsmalers Brée, das über ihrem Bett hing. Sie streckte sich einmal genüsslich aus und streichelte mit den Zehen über den weichen Bettbezug.

Dieses wohlige Gefühl ließ sich noch steigern, was ihr kleines Geheimnis war. Imke grinste glücklich ins Mondlicht. Auf dem kleinen Nachttisch wartete der obligatorische duplo-Riegel auf sie; die Verpackung hatte sie schon vorm Zubettgehen abgestreift. Kaum eine Verhaltensregel aus der Kindheit wurde im Erwachsenenalter noch konsequent befolgt, außer dieser: Keine Schokolade nach dem Zähneputzen!

Das galt jedoch nicht für sie.

Was mit dem Inhalt des Wasserglases neben dem duplo zusammenhing, in dem es übermütig spritzte und sprudelte. Ganz unten auf dem Grund lagerte ihr Gebiss. Natürlich war es für Imke ein Schock gewesen, als ihr erklärt wurde, dass sie ihre Zähne überlebt hatte. Ein Gebiss hatte sie zunächst strikt abgelehnt, aber was hätte sie tun sollen? Nur noch Brei essen? Monatelang Torturen erleiden, bei denen ihr Implantate in den Kiefer getrieben wurden? Zum Glück, musste sie im Nachhinein sagen, hatte sie so heftige Zahnschmerzen bekommen, dass die Entscheidung beschleunigt wurde: Alles war besser als das, also Augen zu und durch!

Imkes Körper hatte unter der Decke die optimale Wohlfühltemperatur erreicht. Nun schnellte ihr linker Arm hervor, die Finger griffen routiniert nach dem Schokoriegel, dann wanderten die ersten Zentimeter Schokolade in ihren Mund. Ihre Lippen freuten sich einen wunderbaren Moment lang über die zarte Riffelung auf der Oberfläche, bevor die Schokolade langsam schmolz. 49,5 Prozent Anteile Vollmilchschokolade explodierten an ihrem Gaumen, und damit war das Fest noch lange nicht zu Ende. Darüber legte sich nämlich eine zweite Welle aus Vanille, besten Haselnüssen und Kakao. Beim Lutschen summte sie Lieder aus ihrer Kindheit – Üb immer Treu und Redlichkeit, Die Gedanken sind frei, Wenn die bunten Fahnen wehen –, ihre Bauchdecke vibrierte von innen, und ihr wurde richtig heiß.

Plötzlich schreckte sie zusammen: Ein Mann stand in ihrem Zimmer. Sein mächtiger Schatten war im Mondlicht deutlich zu erkennen. Vermutlich ein Einbrecher. Hatte er sie bemerkt? Es war viel zu dunkel, um zu sehen, wohin er schaute. Sie wollte schreien, aber die Stimme blieb ihr im Hals stecken.

«Imke?», flüsterte eine raue Bassstimme.

Entwarnung. Das war Ocke, ihr Mitbewohner. Hätte er nicht anklopfen können? Was wollte er um diese Zeit von ihr? Schnell ließ sie das duplo unter der Decke verschwinden, das sollte ihr Geheimnis bleiben. Noch wichtiger war es jedoch, das Glas zu verstecken; außer ihrem Zahnarzt hatte bisher niemand das Gebiss zu sehen bekommen. Sie hörte das Wasser neben sich sprudeln, tastete nach dem Glas, doch leider stieß sie es dabei zu Boden. Anscheinend war es nicht kaputtgegangen, aber wo lag bloß das Gebiss?

«Hast du das gehört?», flüsterte Ocke.

Ihre Verzweiflung verwandelte sich in Ärger.

«Das Glas!», beschwerte sie sich laut, als wäre Ocke dafür verantwortlich. Sie bekam den S-Laut einigermaßen authentisch hin, was ohne Zähne eine Spitzenleistung war.

«Komm mal her», raunte Ocke ihr heiser zu.

So nervös kannte sie den ehemaligen Seemann gar nicht, der in vier Jahrzehnten alle sieben Weltmeere befahren hatte. Was war bloß mit ihm los?

Widerwillig schälte sich Imke aus der warmen Decke und berührte aus Versehen mit dem linken Fuß ihre kalten, nassen Zähne auf dem Teppich. Sie hätte schreien können vor Ekel, riss sich aber zusammen. Dann eilte sie zur Zimmertür, die Ocke einen Spalt geöffnet hielt. Er schwitzte stark und roch nach hochprozentigem Alkohol.

«Hörst du das?», fragte er noch einmal.

Imke lauschte auf den Flur, ihr Gehör war immer noch gut. Tatsächlich, aus dem Zimmer ihrer gemeinsamen Mitbewohnerin Christa vernahm sie ein Stöhnen, genauer gesagt stöhnte dort ein Mann, und zwar ziemlich lustvoll. Dann war es wieder still.

«Christa hat Herrenbesuch», stellte sie ungerührt fest.

Deswegen holte sie Ocke aus dem Bett?

«Der Typ hört sich einiges jünger an», raunte er. Vor Aufregung war aus seinem Flüstern normale Zimmerlautstärke geworden.

Imke verstand das Problem nicht: «Es scheint ihr doch gut zu gehen.»

Christa war die Jüngste in ihrer Dreier-WG, sie wurde meist auf Anfang fünfzig geschätzt. Ihr wirkliches Alter hielt sie seit Jahren streng geheim. Imke kannte es, hätte es aber nicht einmal unter Todesandrohung verraten.

«Ich will verdammt noch mal wissen, wer unter unserem Dach pennt», zischte Ocke. «Das kann sonst wer sein!»

Imke war empört. Sie waren hier nicht in einem Heim, sondern in einer Wohngemeinschaft, und jeder konnte tun und lassen, was er wollte. Andererseits musste sie zugeben, dass ihr ein Fremder in der eigenen Wohnung auch ein bisschen unheimlich war.

«Lass uns nachschauen», schlug Ocke vor.

«Bist du verrückt?»

«Nur mal ’n büschen luschern.»

Ocke schloss die Tür zum Flur und huschte durch Imkes Zimmer zur Terrasse. Während sie betete, dass er im Dunkeln nicht auf ihre Zähne trat, folgte sie ihm hinaus.

Draußen herrschten nicht gerade Pyjamatemperaturen. In der Nacht war die Luft noch erheblich kühler als am Tag.

Vor einigen Jahrhunderten hatte Föhr noch zum Festland gehört, bis eine riesige Sturmflut weite Teile des Landes auseinandergerissen hatte. Föhr war als Inselvorposten weit draußen zurückgeblieben. Hier traf der Wind, der direkt aus Island kam, nach dem langen Weg übers Meer das erste Mal auf festen Boden. Die See gab niemals Ruhe, sie versuchte unablässig, den Fremdkörper in seinem Terrain zu vereinnahmen. Allein durch den mächtigen Deich hinter ihrem Haus fühlte sich Imke gut beschützt, ohne ihn wäre der Boden unter ihr längst eine Sandbank, das war ihr, wie allen Insulanern, immer bewusst.

Die feuchte Kälte kroch ihr unangenehm an den Beinen hoch. Vorsichtig schaute sie um die Hausecke. Christas Zimmer lag zur Straße hin. Ihr Fenster war weit geöffnet, die Deckenlampe warf ein helles Lichttrapez auf die Büsche des winzigen Vorgartens. Plötzlich kletterte ein Mann aus dem Fenster, den man im Dunkeln nicht erkennen konnte, ein großer schwarzer Hund sprang hinterher.

Wieso nahm der nicht die Haustür?

Mann und Hund verschwanden in einem schwarzen Geländewagen, der direkt hinter Ockes altem Mercedes-Taxi parkte.

«NF-SP 23», nuschelte Ocke, als sei er Polizeifahnder und spreche in ein Funkgerät. Als der Unbekannte Motor und Scheinwerfer anschaltete, wurden Ocke und Imke so hell angeleuchtet wie Schauspieler auf einer Theaterbühne. Leider war es ein grottenschlechtes Stück, das hier gespielt wurde, instinktiv hielten sie sich die Hände vor die Augen. Zum Glück drehte das Licht schnell ab und verschwand auf der Dorfstraße.

«Mist», fluchte Ocke, «der hat uns gesehen.»

«Mir ist kalt», Imke huschte, barfuß, wie sie war, über das feuchte Gras zurück. Ihre Zähne hätten jetzt wohl laut geklappert, wenn sie noch welche gehabt hätte. Dann trat sie auch noch auf einen spitzen Stein und quiekte vor Schmerz laut auf.

Bloß zurück ins Bett!

Imke rüttelte an der Terrassentür. Doch die war vom Wind zugeschlagen worden und klemmte blöderweise seit einigen Tagen, sodass sie sich nicht von außen öffnen ließ.

«Auch das noch», stöhnte Ocke hinter ihr.

Wie um sie zu ärgern, frischte der Wind einmal kurz und bedrohlich auf, woraufhin Imkes Blase und Nieren heftig zu protestieren begannen.

«Ich klingele vorne», entschied sie.

«Wie sieht das denn aus?»

«Bevor ich mir was weghole …»

Also gingen sie wieder ums Haus, und Imke klingelte an der Tür. Sie kam sich vor wie ein unangemeldeter Vertreter, der einem Fremden etwas verkaufen wollte, dabei stand ihr eigener Name doch auf dem Klingelschild.

Es dauerte eine Weile, bis Christa öffnete. Sie sah verschwitzt aus, und da ihr weißer Bademantel einen winzigen Spalt geöffnet war, ahnte man, dass sie darunter nackt war. Christa starrte mit ihren klaren blauen Augen auf ihre beiden Mitbewohner.

«Wo kommt ihr denn her?»

Ocke sah Imke an, die wusste aber auch nichts zu sagen.

«Wir waren am Meer», murmelte Ocke schließlich und legte den Arm um Imkes Schultern.

«Im Pyjama, wie romantisch», lächelte Christa entzückt. «Ich hab euch gar nicht weggehen gehört.»

«Wir waren ganz leise, weil wir dich nicht wecken wollten», log Ocke, was Imke albern fand. Christa musste klar sein, dass sie ihren Gast wegfahren gesehen hatten, was sollte diese Geheimnistuerei? Christa überging die Bemerkung und wandte sich neugierig an Imke.

«Was hast du da für einen braunen Fleck auf dem Pyjama?», fragte sie.

Imke fiel ein, dass sie ihr duplo hastig unter der Decke versteckt hatte, als Ocke plötzlich im Raum gestanden hatte. Dort war es anscheinend ziemlich schnell geschmolzen.

 

Als sie wieder in ihrem Zimmer war, fand sie die Überreste des Schokoriegels auf dem frisch bezogenen Laken. Sie legte ihn auf das Nachtschränkchen und huschte unter die Decke, die in der Zwischenzeit ziemlich kühl geworden war. Bibbernd wartete sie, bis ihr Körper warm wurde. Sie war hellwach und blieb es den Großteil der Nacht.