KAPITEL 27 – PARANOIA
Kurz bevor Yuri zum schlafenden Simpel am Lagerfeuer schlich, hatte Janik in Elektro ein ganz anderes Erlebnis mit Feuer. Er ging seine Möglichkeiten durch, während er in dem Wachhäuschen saß. Seine Chancen standen nicht besonders gut.
Er könnte es aussitzen und bis zum Morgen warten. Aber dann wäre es wieder hell und er würde kaum Deckung finden, um unbemerkt zu verschwinden. Er könnte auch einfach hinausgehen und sich zu erkennen geben, aber dann würden sie ihn vermutlich erschießen, also war das auch keine Option. Wenn er nur irgendwie das Feuer zum Erlöschen bringen könnte, dann würde er im Schutz der Dunkelheit entkommen. Allerdings würde es wahrscheinlich auffallen, wenn plötzlich das Feuer ausging, und die anderen würden kommen, um nachzusehen.
Keine dieser Möglichkeiten schien sonderlich erfolgversprechend. Die einzige Option, die eine gewisse Erfolgsaussicht hatte, war Harrison aus dem Hinterhalt zu töten und sich dann heimlich davon zu machen. Allerdings konnte er Harrison nicht sehen und ihn daher auch nicht erschießen. Er durchstöberte die Schubladen des alten Schreibtisches in dem Wachhäuschen und fand einige Bengalische Fackeln. Er überarbeitete seinen Plan, er könnte doch eine davon auf das Dach der Feuerwache werfen und dann auf Harrison schießen. Natürlich würde das rote Licht die anderen anlocken, also würde er nicht viel Zeit haben, Harrison zu erledigen und zu entkommen.
Janik drehte die Fackel in der Hand und dachte nach, ob es nicht einen anderen Weg gäbe. Aber er kam immer wieder zum selben Punkt zurück. Er dachte nur noch, wirf die Fackel, tu es endlich. Er hatte sich festgefressen, eine andere Idee würde ihm nicht einfallen. Widerstrebend brach er die Fackel und warf sie auf das Dach.
Dir Wirkung trat sofort ein. Das Dach war in leuchtendes Rot getaucht und er konnte Harrison sehen, als er verwirrt vor der Fackel zu seinen Füssen stand. Janik trat aus dem Wachhäuschen und hob seine Armbrust. Er hatte Harrison genau im Visier. Harrison nahm die Bewegung wahr und rief: „Wer ist da?“ Er versuchte seine Augen mit der Hand von der Helligkeit abzuschirmen, aber er konnte nur eine schemenhafte Gestalt erkennen. Er ging näher an den Rand des Daches, um besser nach unten sehen zu können.
Janik sah durch sein Visier als Harrison näher kam. Du hast ihn im Visier, genau vor dir, ein sicherer Schuss, drück endlich ab. Sein Finger lag auf dem Abzug, aber er konnte es nicht, konnte nicht abdrücken und das Leben dieses Mannes so einfach beenden.
„Wer ist da?“, fragte Harrison erneut. Seine Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt und er konnte Janik nun besser sehen.
„Waffe weg“, rief Janik. Er hatte lange Zeit nicht gesprochen und seine Stimme brach, als er das Kommando bellte, so klang es mehr wie ein Krächzen.
„Shorty? Bist du das, Janik?“
„Ich hab gesagt, du sollst die Waffe fallen lassen.“
„Du hast es auch geschafft. Super. Komm, schließ dich uns an. Wir haben jede Menge Essen.“
„Ich sag’s nicht noch mal. Lass – sie – fallen.“, befahl Janik als er langsam näher ging.
Harrison konnte Janik nun unten am Boden sehen, wie er die Armbrust auf ihn richtete.
„Warte doch mal. Der ganze Mist muss doch nicht sein“, er nahm die AK-74 von der Schulter und legte sie auf das Dach. „Da, ich hab sie fallen lassen. Jetzt lass uns reden.“
„Schieb sie hier runter.“
„Zum Teufel mit Dir, das mach‘ ich nicht.“
„Schieb sie runter, hab ich gesagt.“
„Und ich hab gesagt zum Teufel mit Dir.“
„Zwing‘ mich nicht dazu.“
„Wozu? Mich umzubringen. Ich hab’ heute wegen euch Mistkerlen bereits einen Freund verloren. Ihr habt ihm nicht mal eine Chance gelassen.“
„Davon weiß ich nichts. Ich will nur, dass du mir das Gewehr gibst.“
„Wenn du mich umbringen willst, dann tu’s. Aber das Gewehr bekommst du nicht.“
Janik starrte durch das Visier auf Harrison. Harrison starrte herausfordernd zurück. Janik hob den Arm, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Dieser kurze Moment der Unaufmerksamkeit genügte Harrison. Er warf sich flach auf den Boden und griff nach seiner AK-74.
Dann fing er an, blind vom Dach im Janiks Richtung zu schießen. Die Kugeln flogen in alle Richtungen und verfehlten Janik, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er trat das Ölfass mit dem Feuer um und verschwand in die Dunkelheit. Harrison spähte über die Kante und sah, dass der Parkplatz leer war.
„Komm doch zurück, Shorty. Ich dachte, wir wollen verhandeln“, schrie er, als er in die Dunkelheit feuerte.
Shutov, Alejandro und der Butcher bogen um die Ecke und kamen auf den Parkplatz gerannt.
„Was ist hier los? Auf wen schießt du?“, herrschte Shutov ihn an.
„Einer von denen war gerade hier. Er ist da raus ins Dunkel gelaufen“, antwortete Harrison.
Der Butcher lächelte: „Ich hab doch gesagt, sie kommen zurück. Lass mich ihn verfolgen. Wo ist er hin?“
„Hab ich nicht gesehen. Den Hügel rauf denke ich, aber sicher bin ich mir nicht.“
„Also könnte er noch in der Nähe sein?”, fragte Shutov.
„Weiß nicht.“
„Waren da noch andere oder war er allein?“
„Ich hab bloß ihn gesehen, aber das muss ja nicht heißen, dass da nicht noch andere sind.“
„Zu viele Unbekannte, Butcher. Du bleibst hier. Ich will, dass der Bus und die Kirche bewacht werden.“
„Lass mich ihn verfolgen. Ich finde schon raus, was er weiß“, sagte der Butcher.
„Nein!“, befahl Shutov. „Wenn das nur eine Ablenkung war, dann könnten sie jetzt schon bei unserem Bus sein. Ich will, dass alle wach bleiben und die Sicherheitszone decken. Alejandro, du siehst dich um und versuchst sie zu finden. Aber sei vorsichtig und komm zurück, wenn du was entdeckst, um Bericht zu erstatten. Lass dich nicht auf einen Kampf ein.“
„Wenn sie da draußen sind, dann finde ich sie“, sagte Alejandro in übertriebenem Selbstvertrauen.
„Ich verlass mich auf dich, Bruder. Jetzt geh und stöbere diese kleinen Ratten in ihren Löchern auf.“
Alexandro verschwand in der Dunkelheit. Shutov sah zu Harrison hinauf.
„Und du hörst auf, Munition zu verschwenden und auf Schatten zu schießen. Geh wieder auf Beobachtungsposten und ruf, wenn du etwas siehst, dann kommen wir.“ Harrison nickte. „Butcher, du kommst mit mir. Wir sehen jetzt zuerst nach dem Bus und dann kontrollieren wir die Sicherheitszone.“
Ohne auf eine Antwort zu warten verließ Shutov den Parkplatz. Der Butcher warf noch einen letzten Blick in die Dunkelheit, bevor er sich umdrehte und Shutov folgte.
Janik rannte schnell und verbissen, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Sein Gesicht war aufgeschlagen, weil er gestürzt war. Er warf einen Blick zurück, die Feuerwache war in den Schatten der Nacht verschwunden und so erlaubte er sich einen Moment der Rast. Mit dem ersten klaren Gedanken, den er fassen konnte, tadelte er sich selbst. Du bist ein Feigling. Sieh bloß, was du angerichtet hast. Jetzt wissen sie, wer du bist und werden dich verfolgen. Janik sah sich um, aber abgesehen von seinem eigenen Keuchen war alles ruhig.
Er blickte den Hügel hinauf und bemerkte in der Ferne das flackernde Licht eines Feuers. Das Licht verschwand und tauchte wieder auf, als ob es immer wieder durch etwas verdeckt würde. Janik wischte sich den Schweiß von der Stirn und aus den Augenbrauen und versuchte festzustellen, was dort passierte. Und dann wurde es ihm klar.
Da war ein Lagerfeuer, aber es wurde immer wieder durch den Schatten eines Mannes verdeckt, der auf ihn zu gerannt kam. Janik hastete herum, um sich irgendwo zu verstecken, aber er war auf freiem Feld, konnte nirgends hin und sich nirgends verstecken.
Die Gestalt kam weiter auf ihn zugelaufen und Janik erkannte, dass sie eine Axt trug. Er hob die Armbrust und zielte auf den Mann.
„Bleib da stehen wo du bist“, rief Janik.
„Janik?“, fragte die Gestalt.
„Rory?“
„Janik, bist du das?”, Rory blieb drei Meter vor ihm stehen und kam dann näher.
„Bleib da stehen, Rory.“
„Wir müssen hier weg. Da sind Männer mit Gewehren bei dem Feuer.“
Janik sah an Rory vorbei zum Feuer hinauf.
„Wer? Welche Männer?“
„Es war Yuri. Er hat mit dem Gewehr auf mich gezielt.“
„Yuri ist da oben?“ Rory nickte. „Warum hat er auf dich gezielt? War es, weil du zu denen gehörst?“
„Ich gehöre nicht zu denen. Ich war alleine. Ich hab geschlafen.“
„Aber ich hab dich mir denen gesehen. Mit Kai und Harrison an der Tankstelle. Da wart ihr zusammen.“
„Kai ist tot.“
„Hast du ihn umgebracht?”
„Nein, sie wollten mich umbringen, aber Vuk hat mich gehen lassen.“
„Vuk ist auch bei ihnen?“
„Und Shutov. Er ist der Chef – wie auf dem Schiff.“
Janik versuchte, das alles zu verstehen: „Warum hast du Mitch ermordet?“
„Ich hab Mitch nicht ermordet, das war Kai.“
„Warum bist du dann voller Blut?“
„Ich wollte ihm helfen, aber er hat nicht aufgehört zu bluten.“
„Und warum haben die Mitch ermordet?“
„Ich weiß nicht. Das sind böse Männer. Vuk hat gesagt lauf und da bin ich gelaufen.“
„Hör zu Rory, ich hab jetzt für all das keine Zeit. Ich muss Yuri und die anderen finden. Vielleicht glaube ich dir, vielleicht auch nicht. Die bösen Männer sind in der Stadt, also gehst du da besser nicht hin. Ich gehe zum Lagerfeuer und ich will nicht, dass du mir folgst. Darum läufst du dorthin“, er zeigte nach Westen, „und du bleibst nicht stehen, bis du ein sicheres Versteck findest.“
„Warum darf ich nicht mitgehen?“
„Weil ich dir nicht traue, darum. Du willst leben, dann geh‘ nach Westen, du willst sterben, dann nimm eine andere Richtung. Wenn ich dich hinter mir sehe, erschieße ich dich.“
„Ich hab gedacht, wir sind Freunde.“
„Das war früher, bevor wir hier gestrandet sind. Hier gibt es keine Freunde mehr, nur Leute, die dich bisher noch nicht umgebracht haben.“
Und damit ging Janik nach Norden, in Richtung des Lagerfeuers. Rory stand da und versuchte sich darüber klar zu werden, was er jetzt machen sollte. Er ging ein paar Schritte hinter Janik her, aber dann schüttelte er den Kopf und begann nach Westen zu laufen, in die Richtung, die Janik ihm gezeigt hatte.