KAPITEL 9 – DER LETZTE MENSCH AUF ERDEN
Mit dem Verrücktwerden war das so eine Sache – es passierte nicht auf einen Schlag. Man wachte nicht eines Morgens auf und entschloss sich, ab heute verrückt zu sein, es brauchte Zeit. In Joes Fall hatte es etwa drei Wochen gedauert, und war sehr schleichend passiert. Ganz langsam war er sich immer weniger sicher gewesen, was Realität war und was er sich womöglich eingebildet hatte. Er begann Dinge zu tun, die ihm eine Woche zuvor noch seltsam erschienen wären – wie laut mit sich selbst zu sprechen. Es war einfach so lange her, dass er eine menschliche Stimme gehört hatte - das Stöhnen der Dämonen zählte nicht - dass er unbedingt eine hören wollte, und wenn es nur seine eigene war. Er begann, auf die Fragen zu antworten, die er laut dachte. Allerdings war es nicht seine eigen Stimme, mit der er antwortete. Bald kamen auch Gebete dazu – viele Gebete. Er betete um Erlösung, um einen Ausweg, um einen neuen Sinn für sein sinnlos gewordenes Dasein, das sich nur noch auf den täglichen Kampf ums Überleben beschränkte.
Früher war Joe Bauer gewesen, wie sein Vater und sein Großvater vor ihm. Die einzige Wahl, die Joe dabei jemals gehabt hatte, war die ob er Weizen oder Mais anpflanzen würde. Da ein Bauer keine große Schulbildung brauchte, hatte man ihn mit zehn aus der Schule genommen und von da an hatte er auf dem Feld gearbeitet. Sein Leben war in festen Bahnen verlaufen, im folgenden Jahr hätte er das Mozhayev Mädchen geheiratet und den Hof seiner Eltern übernommen. Sie war ein nettes Mädchen gewesen, hübsch anzuschauen. Außerdem mochte er ihr liebes Wesen. Sie würde eine gute Mutter sein und so war Joe mit sich und der Welt zufrieden gewesen.
Dann eines Nachts stand sie vor seiner Tür, aber sie war nicht sie selbst. Sie hatte Blut im Gesicht und der Ausdruck in ihren Augen war der von Wahnsinn. Joe versuchte alles, er sperrte sie ein, fesselte sie, fütterte sie. Aber sie spuckte alles wieder aus und hörte nicht auf ihn anzugreifen, wo immer sie konnte. Es brach sein Herz, ihr eine Kugel in den Kopf zu schießen. Ihr Körper war der einzige, den er verbrannte hatte. Wenn das auch nicht genau der Zeitpunkt war, zu dem er verrückt wurde, so bildeten sich doch hier die ersten Risse.
Es war in der Woche darauf gewesen, während er in der Kirche von Mogilevka gebetet hatte, als Gott seine Gebete endlich beantwortete. Nicht durch ein Zeichen, sondern mit Worten, gesprochen von der heiligen Madonna, die mit ihrem Kind über dem Altar schwebte. Danach war ihm seine Aufgabe klar. Dies war das Ende aller Tage, wie in der Bibel prophezeit. Die Toten waren auferstanden und seine Aufgabe war es nun, sie vom Angesicht der Erde zu tilgen. Erst dann konnte auch er selbst in den Himmel aufsteigen.
Er hatte nicht mitgezählt, wie viele Dämonen er bereits getötet hatte, aber die Zahl der Leichen in Chernogorsk legte Zeugnis darüber ab, dass es viele waren. Sie lagen überall, außer in der Kirche – er ließ nicht zu, dass diese dämonischen Wesen den heiligen Ort entweihten. Er öffnete die Kirchentür, stieg auf den Turm und läutete die Glocken. Er wusste, dass dieses Geräusch sie anlocken würde, selbst aus großer Entfernung. Nachdem er ein Gebet gesprochen hatte, während er sein Gewehr reinigte, machte er einen Kniefall, bekreuzigte sich und verließ die Kirche.
Joe ging die Straße hinunter, zu einem alten Fabrikgelände mit einem hohen Schornstein, der oben eine kleine Plattform hatte. Das war sein bevorzugter Platz. Von dort oben konnte er alles sehen. Das Militär hatte einst auf dem Gelände einen Vorposten errichtet. Unter ihm gab es Zelte mit medizinischen und militärischen Versorgungsgütern, auch Waffen, die von den Soldaten zurück gelassen worden waren. Aber Joe ignorierte sie, er vertraute auf Gott und auf sein gutes altes CZ550 Jagdgewehr. Es war einfach in der Handhabung, einfach zu säubern und es gab eine Menge Munition dafür. Um seine heilige Mission zu erfüllen, war es das ideale Werkzeug.
Während er die Leiter zum Schornstein hochkletterte, fühlte er wieder, wie er Gott näher kam. Es durchfloss ihn wie eine Offenbarung. Er wusste, wenn er erst seine Mission erfüllt und alle Dämonen vernichtet haben würde, würde auch er in den Himmel aufsteigen, er, der letzte Mensch auf Erden. Er würde die Erde den Pflanzen und Tieren zurückgegeben haben, wie am Anfang aller Tage, um danach seinen rechtmäßigen Platz zur Rechten Gottes einzunehmen.
Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Zufriedenheit. „Amen“, flüsterte er, als er den Staub vom ersten Magazin blies, bevor er es in die Waffe lud. „Dein Wille geschehe“, murmelte er, als er sich bekreuzigte. Dann nahm er den ersten Dämon ins Visier und drückte ab.