KAPITEL 1 – DAS SINKENDE SCHIFF
Kapitän Nestorenko suchte die Küste von Chernarus durch sein Fernglas ab. Alles schien ruhig und er wunderte sich, dass dort draußen keine Lichter zu sehen waren. Die Küstenorte waren dunkel, obwohl sie erleuchtet hätten sein müssen. Er kannte diese Küste gut und er wusste, dass es - irgendwo in der Finsternis vor ihm - zwei Leuchttürme gab, die mit ihren Leuchtfeuern vorbeifahrenden Schiffen Sicherheit geben sollten. Aber er sah nur Dunkelheit, endlose Schwärze, unterbrochen nur durch die Silhouetten der Bäume vor dem Hintergrund des Sternenhimmels.
Der Erste Offizier Shutov war besorgt: „Kapitän, ich sehe keine Leuchtfeuer, wir sollten nicht so dicht unter Land laufen.“
Nestorenko nickte. Shutov hatte natürlich recht, nur ein Narr würde ohne Leuchtfeuer so dicht an der Küste fahren. Aber Nestorenko tat es, weil er die Küste mit eigenen Augen sehen musste, weil er sehen musste, ob die Berichte über Chernarus wahr waren. Und jetzt, wo er hier war, musste er feststellen, dass er gar nichts sah.
Die Berichte hatten vor zwei Monaten begonnen, verstümmelte, panische Berichte, meist auf zivilen Kanälen. Sie handelten von gewöhnlichen Leuten, die sich plötzlich in stumpfsinnige, instinktgetriebene Wesen verwandelt hatten. Man hatte sie ‚Infizierte‘ genannt, aber es war nichts über die Art der Infektion verlautbart worden. Mütter hätten ihre eigenen Kinder angegriffen, sie ohne Zögern in Stücke gerissen, getrieben vom Heißhunger sich am Fleisch der Lebenden zu nähren. Tief religiöse Menschen sprachen vom Armageddon – dem Anfang vom Ende – wo die Toten auf Erden wandelten.
Eigentlich hätte nur Nestorenko die Berichte bekommen sollen, doch auf einem so kleinen Schiff machten Gerüchte schnell die Runde. Zuerst waren es nur Scherze gewesen, niemand hatte wirklich an die Existenz dieser lebenden Toten geglaubt. Dann waren die Berichte dringlicher geworden, die Geschichten zu fantastisch, um erfunden zu sein. Einheiten der russischen Streitkräfte waren auf die Insel beordert worden. Sie hatten Schlüsselpositionen und Flugplätze gesichert und waren dabei sogar von den USA militärisch unterstützt worden. Sogar in dem relativ entspannten Klima nach dem Kalten Krieg schien diese Zusammenarbeit ungewöhnlich, ja alarmierend.
Dann waren die Truppen immer häufiger von den Infizierten angegriffen worden. Der Kampf gegen sie war anders als der gegen Soldaten, man konnte nicht mit ihnen verhandeln, sie hatten auch keine Nachschublinien, die man unterbrechen konnte. Sie kannten keine moralischen Bedenken und sie griffen erbarmungslos und unaufhörlich an. Schließlich waren die Truppen überrannt worden. Eine nach der anderen waren die gesicherten Positionen verloren gegangen. ‚Chernarus um jeden Preis meiden‘, so hatten die letzten verzweifelten, fast flehentlichen Meldungen gelautet. Das war vor einem Monat gewesen. Seitdem hatte es keine weiteren Funksprüche mehr gegeben.
Ohne diese Warnungen zu beachten hatte Nestorenko Kurs auf Chernarus gesetzt, ein klarer Missbrauch seines Kommandos. Er kommandierte ein Handelsschiff mit 40 Mann Besatzung und sollte eigentlich zum Hafen zurückkehren. Aber er war in Chernarus aufgewachsen, in der Nähe einer Ortschaft namens Zelenogorsk. Er hatte in den Docks von Elektrozavodsk gearbeitet bis er alt genug war, auf einem Schiff anzuheuern. Seine Eltern lebten immer noch auf ihrem kleinen Bauernhof. Er musste einfach zurückkommen. Es war, als besuche er einen todkranken Verwandten ein letztes Mal, bevor er sterben würde. Er musste Chernarus ein letztes Mal sehen. Und jetzt, als er endlich angekommen war, sah er nichts als die Schwärze einer undurchdringlichen Nacht.
„Shutov, sie haben recht. Hier gibt es nichts“, gab er zu, während er auf die Küste sah.
„Dann lassen sie uns diese Küste verlassen. Es war verrückt, hierher zu kommen“, antwortete Shutov.
„Und wo sollen wir ihrer Meinung nach jetzt hin?“, schnarrte der Kapitän. „Wir hatten keinerlei Funkverkehr, kein anderes Schiff, alles ist tot, seit einem Monat. Chernarus ist so gut oder schlecht wie jeder andere Ort.“
„Dann bleiben wir eben auf See. Wir haben genügend Vorräte. Und auch wenn der Treibstoff langsam zur Neige geht, können wir leicht noch einen Monat aushalten, bevor wir irgendwo anlanden müssen.“
„Sie schieben das Unausweichliche doch nur auf. Früher oder später müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen.“
„Dann bin ich für später“, gab Shutov zurück.
Plötzlich gab es einen Ruck und eine Erschütterung ging durch das Schiff. Das Knirschen von brechendem Stahl durchschnitt das gleichmäßige Brummen der Maschine. Verwirrung brach aus, als das Schiff aufstöhnte und begann, sich zur Seite zu legen. Am Bug lehnte ein Matrose über der Reling und zeigte auf ein Loch in der Schiffswand.
„Wir sind auf ein Felsenriff gelaufen. Der Riss ist zu groß“, rief er.
„Kapitän?“, fragte Shutov und sah den überraschten Nestorenko an, der versuchte sich auf den Beinen zu halten, während das Schiff sich neigte.
„Kapitän, wir müssen das Schiff aufgeben!“, seine Worte klangen mehr nach einem Befehl als nach einem Vorschlag.
Nestorenko sah seinen Ersten Offizier an. Sein Gesicht war ohne Ausdruck, er war geschlagen. An der Küste, da war er sich sicher, wartete der sichere Tod auf ihn und seine Mannschaft. Er nickte geistesabwesend, fast automatisch, und Shutov begann zu handeln.
Er sprach über die Bordkommunikation des Schiffes: „Wir evakuieren. Das ist keine Übung. Das Schiff sinkt. Nehmt eure Überlebensrucksäcke und verlasst das Schiff. Wir sind nahe am Ufer…“, zu nahe wollte er fast sagen, „ihr könnt also schwimmen, Rettungsboote sind nicht erforderlich. Das Schiff sinkt. Alle Mann von Bord. Das ist keine Übung.“
Er sah von der Brücke aus zu, wie die Mannschaft das Schiff verließ. Die Erfahreneren holten sich ihre Überlebensausrüstung und warteten ab, während sie versuchten, am Ufer einen Punkt zu finden, in dessen Richtung sie schwimmen konnten. Die weniger erfahrenen sprangen einfach ins Wasser und schwammen los.
Nur noch Shutov und Nestorenko waren auf der Brücke geblieben. Shutov sah zu, wie der Kapitän den Safe des Schiffs aufschloss. Was gibt es denn in dieser Situation noch wichtiges im Safe? fragte sich Shutov.
„Kapitän, wir sollten kontrollieren, ob alle von Bord sind, bevor wir das Schiff verlassen?”
Der Kapitän antwortete nicht. Stattdessen nahm er einen Colt M1911 aus dem Safe. Shutov war überrascht, dass der Kapitän an eine Waffe gedacht hatte. Er sah zu, wie er ein Magazin in die Waffe schob. Wir werden am Ufer für Ordnung sorgen müssen, dachte er, da kann eine Waffe ganz nützlich sein. Er war beeindruckt von der Weitsicht Nestorenkos.
„Was habe ich bloß getan?“, sagte der Kapitän.
„Kapitän?“, Shutov war verwirrt.
„Sind alle von Bord?“
„Scheint so, aber ich weiß nicht, ob noch jemand unter Deck ist.“
„Und sie schwimmen ans Ufer. An das verseuchte Ufer von Chernarus?“
„Ja, Kapitän.“ Shutov wurde ungeduldig.
„Dann frage ich sie jetzt nochmal. Was habe ich getan?“
„Kapitän, ich bin verwirrt. Wir müssen zusehen, dass niemand mehr unter Deck ist und dann ans Ufer schwimmen.“
Der Kapitän lud die Waffe durch und richtete sie auf Shutov.
„Dann hören sie auf, mir auszuweichen und beantworten sie die Frage. Was habe ich getan?“
„Sie haben‘s versaut, das haben sie. Sie haben uns an diese gottverlassene Küste geführt und uns wahrscheinlich alle umgebracht“, schrie Shutov ihn an und ließ seinem Ärger freien Lauf.
Nestorenko war etwas überrascht über Shutovs Ausbruch, aber er fasst sich gleich wieder.
„Danke Shutov, dass sie ehrlich sind, wenigstens dieses eine Mal.“
Er hielt sich die Waffe an die Schläfe und drückte ab. In dem kleinen Raum war der Knall ohrenbetäubend. Während das Klingeln in seinen Ohren nachließ, sah Shutov auf den toten Kapitän. Er war schwach gewesen. Seine Schwäche hatte sie zu nahe an die Küste gebracht und seine Schwäche war es auch, die ihn den leichten Weg hatte wählen lassen. Er fühlte kein Mitleid mit dem Kapitän. Er versuchte stattdessen, seine Gedanken zu ordnen. Er wusste, dass nun, wo der Kapitän tot war, er die Männer würde kommandieren müssen, sobald sie das Ufer erreichten.
Sie waren keine disziplinierte Mannschaft. Sicher, einige hatten beim Militär gedient, aber sie waren trotz dessen in erster Linie Handelsmatrosen. Die meisten waren vor einem Leben weggelaufen, das sie nicht gewollt hatte. Um diesen Haufen zu führen, würde er die Männer kontrollieren müssen. Und um sie zu kontrollieren, brauchte er eine Waffe - diese Waffe. Er wand die Pistole aus der Hand des Toten und wischte das Blut an dessen Hemd ab. Dann nahm er ein zweites Magazin aus dem Safe und steckte es ein.
Als er die Brücke verließ, sah er sich noch einmal um. Blut und Gehirnmasse des Kapitäns liefen langsam an der Wand neben seinem toten Körper herunter. „Feigling“, murmelte er, als er hinausging. Nestorenko war das erste Todesopfer der Mannschaft der „MV Rocket“, ein unpassender Name für ein langsames und schwerfälliges Schiff. Der Kapitän mochte das erste Opfer gewesen sein, aber er würde vermutlich nicht das letzte bleiben.
Shutov warf einen kurzen Blick unter Deck, es könnten noch Männer dort unten sein. Er hatte nun die Verantwortung des Kapitäns und es war seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass alle von Bord waren. Nach Seerecht könnte er dafür bestraft werden, wenn er es nicht tat. Welches Seerecht? Er spuckte aus. Nur das Recht des Stärkeren zählt jetzt noch, dachte er, während er in die kalte, schwarze See sprang. Als Erster Offizier hatte Shutov all die Berichte gelesen, all die Funksprüche gehört. Er wusste, dass er in eine ungewisse Zukunft schwamm, voller Gefahren und mit einem Gegner, den er sich nicht einmal vorstellen konnte.