KAPITEL 3 – DER BUTCHER
Obwohl er nicht sehr gut kochen konnte – was zum Teufel bedeutete schon ‚gut kochen‘ – war Jeremy Kristiakov trotzdem der Schiffskoch. In Wirklichkeit war er gelernter Metzger und auf einem Schiff voller Männer, die ständig Fleisch auf dem Teller haben wollten, war das gar nicht so schlecht. Sie konnten sich eine komplette Kuh an Bord bringen lassen und der Butcher, wie sie ihn nannten, würde dafür sorgen, dass sie wochenlang davon essen würden. Er würde alles verwerten, die guten Stücke als Braten servieren und den Rest zu Eintopf oder Würsten verarbeiten.
Trotzdem, er war nur der Koch, ziemlich weit unten in der Hierarchie des Schiffes. Und im Moment war er auch noch total durchnässt und saß zitternd am feuchten Ufer, während er sich nach der Wärme seiner Kombüse sehnte. Im Sommer mieden alle die Kombüse auf dem Schiff, aber wenn Winter war auf See, wenn der kalte Wind über das Schiff pfiff, war es die Küche, wo sich alle gern aufhielten.
Jeremy sah sich um – es war dunkel, vollkommen dunkel. Als Stadtmensch kannte er diese Art Dunkelheit nicht. Sogar seine Taschenlampe gab nur einen mageren Lichtkegel ab, der nicht weiter als fünf oder sechs Meter reichte. Der Sternenhimmel über ihm beeindruckte ihn, selbst wenn er die Sternbilder nicht kannte. Er war jetzt bereits eine Weile am Ufer entlang gegangen, aber er war keinem Menschen begegnet, hatte kein Haus gesehen. Nur Sand, und ein bisschen Treibgut vom Schiff, das angespült worden war.
Er hob ein längliches Metallstück auf. Es endete in einer Spitze und würde eine gute Waffe gegen wilde Tiere abgeben – allerdings ahnte er bereits, dass wilde Tiere nicht sein größtes Problem sein würden.
Als Schiffkoch hatten die Leute ihn meist gar nicht wahrgenommen, während sie aßen. Und sie hatten sich meistens unterhalten, oder besser, sie hatten getratscht. Sie mochten Scherze über ihre Frauen machen und darüber, wie viel die tratschten, aber im Vergleich zu dem Geschwätz, das auf dem Schiff die Runde machte, konnte sich jedes Kaffeekränzchen verstecken. Besonders nach längerer Zeit auf See waren Informationen und Gerüchte die Währung an Bord, und während des Essens wurden sie ausgetauscht.
Er hatte Gesprächsfetzen aufgeschnappt, verstohlenes Gemurmel gehört und die besorgten Mienen der Schiffsoffiziere gesehen. Der Ort, wo sie hinfuhren war… zerstört, heimgesucht? Er hatte oft das Wort ‚infiziert‘ gehört, besonders vom Schiffsarzt, mit dem der Kapitän, abseits von den anderen, häufig gesprochen hatte.
Nach dem, was er aufgeschnappt hatte, musste eine Art Virus oder Infektion die Bevölkerung heimgesucht haben. Diejenigen, die überlebt hatten, seien degeneriert, hieß es. Sie verfügten nicht mehr über normale, menschliche Verhaltensweisen. Sie täten sich gütlich am Blut der Anderen. Obwohl das für Jeremy nach Gerüchten ausgesehen hatte, war doch immerhin das Militär überrannt worden und hatte die Insel seit einiger zeit aufgegeben. Niemand wusste, ob auch andere Regionen von der Infektion betroffen waren, ob gar die ganze Welt bereits davon betroffen war. Seit Wochen hatten sie keine Funksprüche mehr empfangen, auch über Satellit war nichts eingegangen. Entweder die Verbindungen waren zusammengebrochen oder sie waren blockiert worden, um keine Informationen durchsickern zu lassen. Das war es zumindest, was die Verschwörungstheoretiker an Bord immer wieder behaupteten.
Alles was er wusste war, dass über diesen gottverlassenen Teil der russischen Küste, an der er nun mit nicht mehr als einer Lampe, einem Verbandspäckchen und ein paar Pillen gestrandet war, etwas Schlimmes hereingebrochen war. Er hatte schon vieles erlebt und wusste, dass es besser war, eine Waffe zu haben und sie nicht zu brauchen statt umgekehrt. Er dachte an all die Fehler, die er gemacht hatte, und die ihn an diesen Punkt gebracht hatte. Wenn die Leute über Schicksal sprachen hatte er sie immer ausgelacht. Er hatte schon viel angestellt und war meist davongekommen – ihm war es immer erschienen, als sei das Schicksal auf einem Auge blind.
Jetzt fragte er sich, ob das Schicksal womöglich alles gleichsam aufgespart hatte, um es ihm nun mit einem massiven Schlag heimzuzahlen. Er hatte das Gefühl, dass das Schicksal genau jetzt zurückschlug. Und sein Instinkt sagte ihm, dass das lange noch nicht alles gewesen war – in dieser Frage traute er seinem Instinkt blindlings. Er betastete die scharfe Spitze des Metallstückes und machte sich bereit, den Kampf mit seinem Schicksal aufzunehmen.