KAPITEL 15 – DIE ZUFLUCHT
Janik konnte sich nicht erklären, warum sie sich diesen Ort als Versteck ausgesucht hatten. Die Kirche war zwar gut erhalten, aber sie hatte nur einen Eingang. Das würde zu einem Problem werden, falls sie von Infizierten angegriffen würden. Aber er fühlte, dass er nicht das Recht hatte, sich zu beschweren. Er war einfach nur froh, die Überlebenden gefunden zu haben, gerade als seine Aussichten eher trübe gewesen waren. Daher hatte er auch das Gefühl, dass er nicht nein sagen konnte, als sie darum baten, sein Fahrrad benützen zu dürfen. Auch wenn es ihm nicht besonders gefiel.
Er rieb sich den Knöchel. Er war jetzt bandagiert und schmerzte nicht mehr. Dieses Wunder kam durch das Morphin, das ihm einer der Überlebenden injiziert hatte. Er konnte nun wieder gehen und spürte nicht den geringsten Schmerz. Allerdings wusste er nicht, wie lange die Wirkung anhalten würde – er hoffte für möglichst lange.
Sie waren alle Kameraden vom Schiff und fast alle waren bewaffnet. Einige mit Äxten, andere mit Pistolen und ein paar Glückliche mit Gewehren oder Schrotflinten. Niemand lief ohne Waffe herum, die „National Rifle Association“ wäre entzückt gewesen. Es gab keine Diskussionen darüber, ob man Waffen tragen dürfe oder nicht, jeder tat es einfach.
Alfie hatte ihm berichtet, wie sie alle von derselben Strömung zum Hafen von Elektro getrieben worden waren. Nicht alle hatten es in jener ersten Nacht geschafft, in der sie versucht hatten, mit ihrer misslichen Lage zurechtzukommen. Sie hatten zum Glück gleich einige Äxte gefunden und sich so der Infizierten erwehren können. Zur selben Zeit, als Janik in seinem Lagerhaus in Cherno hingekauert saß, hatten diese Männer zusammengearbeitet um Waffen zu finden. Sie hatten sich von Äxten zu Pistolen und sogar Gewehren hochgearbeitet und alles in der Stadt geplündert, was sie erwischen konnten. Janik war fasziniert davon, wie diese Leute bisher zusammengeholfen hatten um zu überleben, selbst wenn sie dabei einige gute Männer verloren hatten.
Janik beobachtete die Männer, während sie Alfie zuhörten. Es schien befreiend auf sie zu wirken. Einige wirkten wie ausgehöhlt auf ihn, müde, so wie er sich selbst fühlte. Wie Überlebende, die sich im tiefsten Inneren wünschten, sie hätten nicht überlebt. Und das nach nur einem Tag – wie würden sie nach einer Woche aussehen – und wie viele würden es bis dahin schaffen?
Alle waren freundlich zueinander, teilten was sie fanden und achteten darauf, dass jeder genügend zu essen und zu trinken bekam. Sie kamen und gingen. Es gab keinen richtigen Anführer und keine irgendwie geartete Struktur, in dem was sie taten. Er betrachtete das als Schwäche und es fiel ihm auf, dass einige bereits begonnen hatten, Nahrung und Munition zu horten. Diese kleine Hippy Kommune wird’s wahrscheinlich nicht mehr lang geben, dachte er und beschloss, zu nehmen was er kriegen konnte und zu verschwinden, sobald sein Fahrrad wieder da wäre.
Janik hatte sein Lee-Enfield Gewehr gegen Alfies Armbrust eingetauscht. Alfie hatte sich benommen, als hätte er das große Los gezogen, aber Janik war Lautlosigkeit wichtiger als Feuerkraft, und darum war er mit dem Handel sehr zufrieden. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis die ersten feststellten, dass es einfacher war, sich einfach zu nehmen was man wollte, anstatt zu tauschen. Was würde passieren, wenn die Munition knapp würde? Er hatte nicht viel Vertrauen zu sich selbst, und daher auch nicht viel Vertrauen in die Menschen. Er nahm sich vor, bereits weit weg zu sein, bevor die positive Stimmung kippen würde.
Mitch und Pablo waren gerade mit einem dicken Wildschein über der Schulter zurückgekommen. Alle applaudierten und Janik ärgerte sich, dass sie so viel Lärm machten. Diese Narren brauchen wirklich einen Anführer, grübelte er und beobachtete, wie sie eine der Kirchenbänke zerlegten, um auf dem Holz das Wildschwein zu braten. Er musste zugeben, dass es sehr appetitlich aussah, trotzdem schien es ihm nicht besonders klug, im Inneren der Kirche ein Feuer zu entzünden. Vielleicht solltest du ihr Anführer werden, aber Janik verwarf den Gedanken gleich wieder. Er hätte es gerne getan, aber er wusste, dass er diese Führungsqualitäten nicht hatte. Die Menschen glaubten nicht an ihn, wenn er sprach, weil er selbst nicht an sich glaubte. Hier ging es um Leben oder Sterben für diese Leute und Janik wusste, dass nicht er es war, der sie würde anführen können.
Stattdessen plante er, sich noch in dieser Nacht davon zu machen und sein eigenes kleines Loch zu suchen, wo er sich verstecken und das alles überstehen konnte. Alleine – so hatte er bisher überlebt und so würde er es weiterhin halten. Dabei ignorierte er großzügig die Sache mit verstauchten Knöchel und dem Morphin. Janik würde helfen, wo er konnte, so lange es sein eigenes Überleben nicht gefährdete. Darum hatte er sich entschlossen, bei ihnen zu bleiben. Aber nur so lange er davon profitieren konnte. Wenn das nicht mehr der Fall ist, bin ich weg.
Der Qualm in der Kirche wurde immer dichter. „Wir müssen den Rauch hier raus kriegen“, sagte er. Aber da er niemanden im Besonderen angesprochen hatte, achtete auch niemand auf ihn. Janik blickte nach oben und sah die hohen, bunten Kirchenfenster. Sie waren zu weit oben, als dass ein Infizierter hindurch kommen konnte, aber hoch genug, um den Rauch abziehen zu lassen. „Diese Fenster da, wir sollten sie zerschlagen, damit der Rauch raus kann.“
Einige sahen hinauf, aber keiner reagierte. So nahm Janik einige Steine aus dem zerbröckelnden Bodenpflaster und begann, die Fenster einzuwerfen. Er empfand einen Anflug von Schuld dabei, die kunstvollen Fenster zu zerstören, aber bald würde er sich um solche Dinge weniger Gedanken machen, wenn die Lage sich weiter verschlimmern würde.
Andere machten mit und bald spürten sie einen wohltuenden Schwall frischer Luft, als der Rauch abzog. Einige klopften Janik auf die Schulter und freuten sich über seine gute Idee. Janik genoss das Gefühl – es fühlte sich gut an, nützlich zu sein, und es war lange her gewesen, dass er sich so gefühlt hatte. Das Wildschein brutzelte am Spieß und Yuri, der ihn auf dem Schiff immer ignoriert hatte, setzte sich jetzt neben ihn, um für den nächsten Tag einen Plünderungszug zu planen.
Als sie um das Feuer saßen und Wildschwein aßen, erstarben die Gespräche über Infizierte und Taktik und alle aßen und schauten in die Flammen. Es gab ihnen fast ein Gefühl der Normalität, und im Moment war dieses Gefühl selten und kostbar.