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Sie fuhren gerade auf die Uerdinger Rheinbrücke, als Astrid sich wieder meldete.
»Jürgen Piontek ist bei Beckmanns ein und aus gegangen. Ulli hat ihn als Kind angeblich angebetet, weil er immer mit ihr gespielt hat. Später soll sie sogar in ihn verknallt gewesen sein.«
»Wo ist Norbert?«
»Mit Ackermann unterwegs zum Materborner Jugendheim.«
»Gut! Warte mal …«
Der Verkehr wurde dichter, vor der Autobahnauffahrt hatte sich eine Schlange gebildet. Toppe schaltete die Warnblinkanlage ein, setzte das Blaulicht aufs Dach, hielt am Straßenrand an und stieß die Tür auf. »Fahrerwechsel! Jetzt kannst du zeigen, was du drauf hast, Peter.«
Das ließ sich Cox nicht zweimal sagen. Mit kreischenden Reifen überholte er die Autoschlange. Als er gnadenlos sofort auf die äußere linke Spur zog, schloss Toppe die Augen. »Okay, Astrid, stell mich zur Meinhard durch. Wir müssen das BKA einschalten.«
Innerhalb von Minuten stand die Chefin vor Astrids Schreibtisch. Sie war hochkonzentriert und verlor nicht ein Wort zu viel.
»Das SEK aus Essen ist unterwegs. Zeit ist wohl unser größtes Problem, deshalb habe ich die Wahrheit ein bisschen geschönt und aus unserer Vermutung eine tatsächliche Geiselnahme gemacht.«
Sie lief zur Wandkarte neben dem Fenster. »Ich muss denen noch den Treffpunkt durchgeben, nicht zu weit vom Objekt entfernt, aber dennoch nicht einsehbar. Sie kennen sich besser im Dorf aus als ich.«
Astrid hatte die Stelle schon markiert. »Ein Stück die Waldstraße hinunter, nach dem Knick hier, dichter Baumbestand, ausreichend Platz. Aber die sollen bloß die richtige Einfahrt nehmen! Dort steht ein Hinweisschild für die Außenstelle der Rheinischen Kliniken. Wenn sie falsch abbiegen, rollt die ganze Parade direkt an Jelineks Hof vorbei.«
»Ich geb’s denen durch. Wo ist van Appeldorn?«
»Mit Ackermann bei einer Befragung in Materborn.«
»Ich will nicht, dass er irgendwas von der Sache erfährt, bis alles vorbei ist.«
»Wird er nicht. Ich habe gerade mit Ackermann telefoniert.«
Die Meinhard nickte anerkennend. »Na denn, bis das SEK eintrifft, sollen wir die Gegend im Umkreis von 800 in unauffällig absperren. Ich habe unsere Leute schon losgeschickt. Außerdem muss einer Pionteks Hof beobachten und ein zweiter die Nachbarhäuser evakuieren.«
»Wer? Sie und ich!«
»Sehen Sie hier sonst noch jemanden? Beobachten und evakuieren, mehr nicht, klar?«
»Helmut und Peter werden auch bald da sein«, meinte Astrid und fragte sich gleich, wen sie damit eigentlich beruhigen wollte. »Wer besorgt den Grundriss vom Gebäude und die Lagepläne?«
»Van Gemmern ist schon unterwegs.« Die Chefin sah auf die Uhr. »Wo ist die beste Stelle, von der aus man den Hof unauffällig beobachten kann? Sie waren doch schon mal da. Wie nah kommt man ran?«
»Nah genug«, antwortete Astrid. »Wenn man über den Friedhof läuft und dann durch das Wäldchen hier. Gleich neben den Treibhäusern verläuft ein Wall, der guten Sichtschutz bietet.«
Charlotte Meinhard folgte Astrids Zeigefinger auf der Karte und prägte sich die Örtlichkeiten ein. »Wie viele Häuser müssen wir evakuieren?«
»Der Hof ist zum Glück ziemlich abgelegen«, sagte Astrid. »Zwei, würde ich sagen, höchstens drei.«
»Das übernehme ich, einverstanden? Mich kennt man im Dorf nicht. Ich kann ganz normal über die Straße spazieren.«
»Einverstanden«, nickte Astrid. »Dann postiere ich mich hinter dem Wall.«
»Fein! Und wir bleiben die ganze Zeit in Funkkontakt.« Die Meinhard war schon in der Tür. »In zwei Minuten an meinem Wagen! Und rufen Sie Toppe noch mal an. Die beiden sollen vorläufig vom Hof wegbleiben, bis wir neue Anweisungen haben. Teilen Sie ihnen die Anfahrt zum Treffpunkt mit. Dort sollen sie warten. Hier haben Sie den Zettel mit der Telefonnummer und dem Namen des Einsatzleiters. Also, zwei Minuten!« Sie hob den Daumen, zwinkerte aufmunternd und lief los.
Astrid schnallte sich ihre Pistole um, ging zum Schrank, nahm Fernglas, Funkgerät und Handy und holte einmal tief Luft. Das Flattern in ihrem Magen hatte aufgehört.
Schon halb auf der Treppe bekam sie Toppe an den Apparat und gab ihm den Stand der Dinge und den Treffpunkt an der Waldstraße durch. »Das SEK will wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Die brauchen nähere Angaben zum Gebäude, zu Jelineks und zu Ulli.« Sie gab ihm die Nummer durch. »Lass dich mit Hauptkommissar Zilinsky verbinden. Der hat die Einsatzleitung.« Toppe antwortete nicht gleich. »Helmut, bist du noch dran?«
»Ja, ich. Astrid, bitte sei vorsichtig! Versprich mir das, hörst du?«
»Ja, natürlich«, sagte sie und lief über den Parkplatz. »Ich liebe dich auch. Bis gleich.« Die Chefin wartete schon am Auto. »Los?« Astrid stieg ein und knallte die Wagentür zu. »Los!« Sie nahmen den schnellsten Weg über den Ring. An der Kreuzung Emmericher Straße raste die Meinhard ungerührt an allen Autos vorbei mitten in den Gegenverkehr hinein, der gottlob auswich, und schoss dann über die rote Ampel. »Nervös?«
Astrid schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ganz ruhig. Ich habe bloß eine Scheißangst, dass der ganze Einsatz für Ulli zu spät kommt.«
»Was ist Ulli Beckmann eigentlich für eine Frau?«, wollte die Chefin wissen. »Hat sie gute Nerven?«
Sie waren kurz vor Uedem, als Toppe sein Gespräch mit dem SEK beendete.
»Verstehst du dich aufs Beten?«, fragte Cox. »Terroristen! Was glaubst du wohl, die werden bis an die Zähne bewaffnet sein. Die gehen doch über Leichen! Selbst wenn die keine Chance mehr haben, selbst wenn die wissen, dass sie ins Gras beißen, die mähen vorher noch so viele um, wie sie irgend können!«
»Hör auf!«, fuhr Toppe ihn an.