9
Über Nacht war das Thermometer um fast zehn Grad gefallen und Astrid hatte ihre lammfellgefütterte Jacke aus dem Schrank geholt. Mit dem schönen Altweibersommer war es endgültig vorbei, schwarze Wolkenberge türmten sich auf, und als sie am Bauplatz ankam, setzte ein Platzregen ein.
Ein paar Arbeiter sprinteten zum Bauwagen.
Durch den Wasserschleier sah sie van Gemmern hektisch mit einer Plane hantieren. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und stieg aus.
»Brauchst du Hilfe?«
Van Gemmern drückte ihr einen Zipfel der Plane in die Hand. »Fix«, sagte er. »Abdecken! Der Regen spült mir die ganzen Spuren weg.«
Seine tausendmal gewaschene Zimmermannshose und der ausgeleierte schwarze Pullover klebten ihm am Leib. Wie immer trug er keine Jacke. Er fror nie, obwohl er spindeldürr war.
»Was stinkt denn hier so?« Astrid rümpfte die Nase.
»Karbolineum. Das haben die hier literweise ausgekippt.« Endlich hatten sie die letzte Ecke der Folie fixiert.
»Der Kompressor ist hinüber«, fuhr van Gemmern fort. »Und am großen Bagger ist herumgeschraubt worden. Der kleinere scheint in Ordnung zu sein.«
»Brauchbare Spuren?«
»Reichlich.«
Langsam ließ der Regen nach. Astrid schob die Kapuze nach hinten und blickte sich um. Das nächste Haus war nur fünf Meter entfernt. Vielleicht hatten die Bewohner ja etwas gehört. Sie ging hinüber und klingelte, aber nichts rührte sich. Auch bei den beiden Nachbarhäusern öffnete keiner. Sie seufzte. Dann musste sie wohl oder übel bei Schlüters beginnen.
Inzwischen waren die Bauarbeiter wieder aufgetaucht. Das Holzhäuschen war verschwunden und sie hatten begonnen, das Betonfundament zu entfernen, was nicht einfach zu sein schien.
Der Bauleiter war mal wieder in Rage. »Wat für ’n Arsch hat den Speis gemacht? Dunkelblau! Eisenmatte! Ich glaub, et hackt. Dat muss mir ’n Experte gewesen sein! Wie ’n Elefantenkäfig. Weg, Jungs, so wird dat nix! Mario, komm mit dem Bagger! Un’ der Rest nimmt die Brecheisen. Wär doch gelacht!«
Dann entdeckte er Astrid. »Na endlich, wurd ja auch langsam ma’ Zeit! Nehmen Sie meine Anzeige auf.« Mehr konnte sie nicht verstehen, denn Mario hatte den Bagger gestartet. Die Betonplatte gab endlich nach, wurde hochgehoben und zur Seite gekippt. Da fuhren die Arbeiter auseinander. »Wat is’ dat denn? Da!«
Astrid sah entsetzte Gesichter.
Sie spähte in die Grube und schrie auf. Aus dem Schlamm ragte ein schwärzlicher Arm.
»Klaus!«
Er war schon neben ihr.
»Was ist das?«, flüsterte sie. »Eine Mumie?«
Van Gemmern lief zu seinem Wagen und zog sich Overall, Stiefel, Haube, Mundschutz und mehrere Paar Handschuhe an. Dann stieg er vorsichtig in die Gruft hinab.
Er arbeitete behutsam und legte nach und nach einen monströsen Körper frei.
»Was ist das?«, fragte Astrid wieder. Das konnte doch kein Mensch sein!
»Eine Fettwachsleiche.« Van Gemmerns Augen glänzten. »Ich habe zwar noch nie eine live gesehen, aber ich bin sicher. Toppe soll kommen.«
Toppe wunderte sich, dass der Anblick des Leichnams ihm so wenig ausmachte. Normalerweise fiel es ihm schwer, einen Toten anzuschauen, und wenn er bei Sektionen dabei sein musste, wurde ihm regelmäßig schlecht.
Dieses Wesen hier hätte ein Exponat in einem Museum sein können, eine Moorleiche vielleicht, nur war es wesentlich bizarrer. Die Haut war schwarzbraun verfärbt, das Gewebe darunter gedunsen, aufgequollen, wulstig deformiert. Besonders das Gesicht hatte nichts Menschliches mehr. Nur mit Mühe konnte man erkennen, dass der Unterkiefer fehlte.
Als van Gemmern, der ungewöhnlich aufgeregt wirkte, vorsichtig einen weiteren Schlammplacken entfernte, sahen sie, dass die Kreatur einmal ein Mann gewesen war.
»Ich brauche meine Kamera.« Van Gemmern krabbelte aus der Grube. »Sie können den Bestatter schon anrufen. Dauert nicht mehr lange hier. Ach ja, ich wäre übrigens gern dabei, wenn Bonhoeffer die Sektion macht. Sagen Sie mir Bescheid?«
Toppe nickte.
Astrid stand ein Stück weiter weg und kümmerte sich um einen Arbeiter, der noch immer am ganzen Körper zitterte. Der Bauleiter sorgte dafür, dass die Schaulustigen, die sich inzwischen eingefunden hatten, nicht näher kamen. Es waren nur drei Leute, viel weniger, als Toppe gewöhnt war. Gerade in einem so kleinen Ort sprachen sich Ereignisse pfeilschnell herum und normalerweise hielt man seine Neugier nicht im Zaum.
Als van Gemmern zurückkam und anfing zu fotografieren, ging Toppe zu Astrid hinüber. »Geht’s wieder?«
Sie hob die Schultern. »Muss wohl … Ich weiß auch nicht, warum ich in letzter Zeit so empfindlich bin.« Dann sah sie sich um. »Es ist irgendwie komisch hier, findest du nicht?«
»Das hab ich auch gerade gedacht … Mist!«
»Was ist?«
»Es fängt wieder an zu regnen.«
Van Gemmern brüllte schon und sie liefen los, um ihm mit der Abdeckplane zu helfen.
Toppe folgte dem Leichenwagen, der den Toten in die Pathologie nach Emmerich bringen sollte. Als sie auf den Klever Ring einbogen, ließ er sich über die Zentrale eine Verbindung zu Arend Bonhoeffer, dem Chefpathologen, herstellen.
»Eine Fettwachsleiche!« Bonhoeffer verlor mit einem Schlag all seine übliche heitere Besonnenheit.
»Ja, Fettwachs, sagt van Gemmern wenigstens.« Toppe erkannte den Mann, mit dem er seit über zwanzig Jahren befreundet war, kaum wieder. »Was habt ihr denn bloß alle?«
»Das erkläre ich dir, wenn du hier bist. Wo seid ihr jetzt?«, fragte Bonhoeffer ungeduldig.
Er wartete schon an der Einfahrt zur Prosektur, zusammen mit seinem Assistenten Henry, den Toppe mittlerweile auch schon ganz gut kannte. Schließlich war er der Geliebte seiner Exfrau und ging bei ihnen auf der Esperance ein und aus.
Mehr denn je erinnerte Henry ihn an einen Indianer aus einem alten Western, wie er da stand, über zwei Meter groß, breit, das schwarze, lange Haar heute mal nicht zum Pferdeschwanz gebunden. Er war Belgier, Flame, und wenn er den Mund aufmachte, hatte er gar nichts Indianisches mehr. Er redete gern, laut und viel.
»Da bringst du uns ja endlich mal was richtig Feines«, kollerte er und riss die Türen am Leichenwagen auf. Auch er schien es gar nicht erwarten zu können.
»Ich geh mal kurz zur Toilette«, murmelte Toppe und Bonhoeffer zwinkerte ihm verständnisvoll zu. Sein Freund kam am liebsten erst herein, wenn der Leichnam bereits auf dem Sektionstisch lag.
Henry klopfte mit den Fingerknöcheln auf dem Oberschenkel des Toten herum. »Mann, da werden wir ganz schön ackern müssen. Ohne Hammer und Meißel läuft hier nichts.«
Toppe schüttelte sich. »Jetzt klärt mich doch mal auf.«
Arend Bonhoeffer ging langsam um den Tisch herum, tastete, schnupperte.
»Adipocire«, sagte er dann, »Fettwachs. Gibt es nur bei Leichen, die im Wasser liegen oder in besonders feuchten Erdgräbern. Sauerstoffmangel ist eine Voraussetzung und feuchte Wärme. Oft findet man diese Form bei Leichen in der Mitte von Massengräbern.« Er schaute fragend hoch.
»Nein«, meinte Toppe, »danach sah es nicht aus. Aber ich überprüfe das noch mal.«
»Wie auch immer, das subkutane Fett wird in wachsiges Material hydrolysiert, in so genanntes Leichenwachs.«
»Was schätzt du, wie lange ist der schon tot?«
Bonhoeffer rieb sich das Kinn. »Ein paar Monate mit Sicherheit, vielleicht Jahre.«
»Monate?« Toppe machte große Augen. »Ich hatte eher an Jahrhunderte gedacht.«
»Ach was, nein.« Bonhoeffer betastete den Brustkorb des Leichnams. »Trocken, mörtelartig. eher Jahre als Monate, würde ich auf den ersten Blick sagen. Das Muskeleiweiß bleibt zunächst einmal erhalten, aber nach einer gewissen Zeit. Einfach fantastisch!« Er richtete sich wieder auf. »Genaues kann ich dir wirklich erst nach der Sektion sagen, tut mir Leid. Na, was ist, Helmut? Brauchst du einen Calvados?« Toppe grinste. »Heute nicht, danke.« Henry hatte den Toten auf die Seite gedreht und untersuchte den Hinterkopf. »Arend!« Bonhoeffer ging um den Tisch herum. »Interessant! Das könnte den fehlenden Unterkiefer erklären.«
Toppe wusste, dass es keinen Sinn hatte weiterzubohren. »Wann kriege ich eure Ergebnisse? Morgen Nachmittag?«
Beide schauten ihn befremdet an. »Morgen?«, meinte Bonhoeffer schließlich. »Nein, auf keinen Fall. Eine Fettwachsleiche. das musst du verstehen. In dieser Ausprägung bekommt man so etwas fast nie zu Gesicht. Ich bin sicher, dass zumindest die Kollegen aus Wien und Bologna dabei sein möchten, wenn wir den Leichnam öffnen. Aber ich werde ein bisschen Druck machen, dann hast du deine Ergebnisse vielleicht schon am Wochenende.«
Henry drehte den Toten wieder auf den Rücken. »Sieht ganz so aus, als wäre Fatty erschossen worden, oder was meinst du?«