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»Du brauchst einen Kleintransporter, das siehst du doch wohl ein.« Norbert van Appeldorn schleppte mit Ulli zusammen die ganzen Arbeitsmaterialien, die sie für ›ihre‹ Vorschulkinder angefertigt hatte, nach draußen. »Wann hast du das bloß alles gemacht?«
»Immer, wenn du auf Mörderfang warst. Halt mal!« Sie packte ihm noch einen Karton mit Sandpapierbuchstaben auf den ohnehin schon beachtlichen Stapel, den er ungeschickt balancierte, und schloss den Kofferraum auf. »Und das ist erst der Anfang.«
»Soll das heißen, du hast jetzt jeden Abend Bastelstunde?«, fragte van Appeldorn miesepetrig.
»Wir, mein Liebling, wir!« Aber dann lachte sie. »Nein, ich mache nur Quatsch. So schlimm wird’s nicht werden. Mal am Wochenende vielleicht.«
Sie umarmten sich. »Drück mir die Daumen, ja?«
»Den ganzen Tag lang, versprochen. Wann bist du zu Hause?«
»Heute wird’s wohl später als normalerweise. Ich muss ja erst mal alles einräumen und sortieren. Aber um fünf bin ich bestimmt zurück.«
Dann stieg sie ein, warf ihm noch eine Kusshand zu und fuhr ab.
Auch van Appeldorn machte sich auf den Weg zur Arbeit, obwohl er noch eine gute Stunde Zeit hatte, aber er wollte die Berichte lesen und sehen, ob sich übers Wochenende noch was getan hatte.
Als er die Bürotür aufschloss, klingelte das Telefon. Es war Lowenstijn.
»Bist du plötzlich unter die Frühaufsteher gegangen?«
»Ganz im Gegenteil!«, gab Lowenstijn mürrisch zurück. »Ich war noch gar nicht im Bett. Aber ich hab was für euch und dachte, ich bin mal liebenswürdig und geb’s weiter, bevor ich mich hinlege.«
So unglaublich es klang, Jocelyne war von Bahlow tatsächlich auf die Spur gekommen, und zwar über die alten Brillanten, die die Köchin erwähnt hatte. »Im 18. Jahrhundert hat man Brillies stumpfrechteckig geschliffen«, berichtete Lowenstijn. »Frag mich bloß nicht, was das heißt, nennt sich jedenfalls Altschliff.«
Waldemar von Bahlow hatte die auffallenden und sehr kostbaren Steine in den fünfziger Jahren so nach und nach verkauft.
»Jocelyne ist aber noch auf etwas anderes gestoßen. Ich weiß nicht, ob ihr damit etwas anfangen könnt.«
Wenig später kamen Toppe und Astrid.
»Ich glaube, wir haben was zu feiern!« Van Appeldorn erstattete gut gelaunt Bericht. »Und jetzt kommt noch ein kleines Bonbon: Bereits 1949 ist ein Brillant auf den Markt gekommen, der ziemlich sicher ursprünglich zu von Bahlows Sammlung gehört hat. Veräußert wurde der Stein von einem Dr. Heribert Bach.«
»Da schau einer an«, meinte Toppe angewidert. »Jetzt wissen wir auch, wie von Bahlow auf die Siedlerliste gekommen ist. Nazischergen unter sich.«
Dann passierte alles auf einmal.
Ackermann stürmte herein. »Ich habbet!« Seine Stimme überschlug sich kicksend. »Ich habbet!«
Gleichzeitig fing das Telefon wieder an zu klingeln, aber keiner achtete darauf. Sie scharten sich um das Papier, das Ackermann auf den Schreibtisch gepfeffert hatte.
Aber der brüllte ihnen schon das Ergebnis ins Ohr: »Waldemar von Bahlow, geboren 26.8.1917; Naevus-Entfernung am Handgelenk am 28. Oktober 1962. Tataaa!!! Sogar die Histologie is’ dabei. War gutartig – hatter da nich’ Schwein gehabt?«
Van Appeldorn klopfte Ackermann auf die Schulter. »Du weißt, ich sag’s wirklich nicht gern, Jupp, aber du bist ein Genie.«
Toppe stand ganz ruhig da. »Jetzt haben wir ihn.«
»Geh doch ma’ einer an dat verflixte Telefon«, haspelte Ackermann, immer noch kurzatmig.
Astrid erbarmte sich.
Toppe nahm das alles gar nicht wahr. »Das mit den Diamanten war schon nicht schlecht, aber hiermit können wir ihn endgültig festnageln. Was meinst du, Norbert? Lass uns mal überlegen, wie wir ihm das Ganze präsentieren.«
»Das ist nicht mehr nötig«, sagte Astrid mit steifen Lippen. »Von Bahlow ist tot.« Sie hielt den Hörer noch immer in der Hand. »Er hat sich gerade eben erschossen.«
Konstantin von Bahlow hatte die große Inszenierung gewählt und Toppe spürte eine wilde Wut in sich aufsteigen.
Der Mann lag ausgestreckt auf dem Bett, die Waffe noch in der erschlafften rechten Hand. Er trug einen guten dunklen Anzug, Schlips und Kragen, sogar eine goldene Uhrkette. Das Haar hatte er sorgfältig gekämmt, sich frisch rasiert. Der Blutfleck auf der Hemdbrust war nur klein. Konstantin von Bahlow hatte mitten ins Herz getroffen, daran zweifelte Toppe keinen Augenblick.
Ein leichter Brandgeruch lag in der Luft. Auf dem Boden, flach auf der Seite, die Hündin, getötet durch einen Genickschuss.
Am Fußende des Bettes standen die drei Söhne mit gefalteten Händen. Am Freitag noch hatten sie so reumütig ihre Geständnisse abgelegt, jetzt waren sie voll feindseliger Selbstgerechtigkeit. Die Schwiegertochter, die neben dem Bett kniete und gebetet hatte, hob den Kopf und sprach es aus: »Sie haben ihn dazu getrieben!«
»Nein«, sagte Toppe beherrscht. »Das hat er ganz allein geschafft.«
»Wie können Sie es wagen …«, hob Richard von Bahlow an, aber als van Appeldorn auf ihn zutrat, verstummte er.
»Halten Sie lieber den Mund. Ich bin davon überzeugt, dass Ihnen alles, was Sie jetzt sagen, später sehr Leid tun wird. Kommen Sie bitte mit mir hinaus. Ich muss Ihnen einige Fragen stellen.«
Astrid schüttelte ihre Beklommenheit ab. »Ich gehe zum Wagen und rufe van Gemmern und den Bestatter.«
»Gut«, sagte Toppe. »Und ich fange schon mal an. Wir kämmen hier alles durch, jedes noch so kleine Fitzelchen Papier wird auf Herz und Nieren geprüft.«
»Willst du nicht wenigstens warten, bis er abtransportiert.«
»Nein!«
Aber sie fanden nichts, absolut nichts, das Waldemar von Bahlows weiße Weste hätte beschmutzen können.
»Das gibt es doch nicht!« Van Appeldorn zeigte echte Wut. »Der muss doch wenigstens Unterlagen über die Edelsteinverkäufe haben. Sonst hätte man ihm doch jederzeit wer weiß was gekonnt. Der muss sich doch abgesichert haben! Gerade so einer.«
Van Gemmern entdeckte die Antwort im kupfernen Papierkorb: eine große Menge völlig verbrannten Papiers, sorgfältig zu winzigen Ascheflöckchen zerstoßen. Unbrauchbar.
»Und wenn schon«, sagte Toppe. »Wir haben genug gegen ihn in der Hand.«
»Nicht wegen Opitz«, entgegnete Astrid.
»Wir haben die Waffe.«
Es war eine Walther P 38, 9 mm Parabellum, eine alte, gut gepflegte Wehrmachtswaffe.
Van Gemmern hatte keinerlei Zweifel an der Selbsttötung. Er packte die Waffe in einen Plastikbeutel und fuhr damit zu Bonhoeffer und Henry nach Emmerich.
Von Bahlows Kinder wollten von der Existenz der Pistole nichts gewusst haben.
Der Vater war heute, wie stets, schon vor sechs Uhr früh aufgestanden. Endlich hatte er den Rheumaschub überwunden gehabt, er war sogar zum Frühstück ins Haupthaus hinübergegangen, hatte danach die Hündin auf einen Spaziergang über die Felder mitgenommen und sich gegen halb neun mit der Tageszeitung wieder in seine Zimmer zurückgezogen. Etwa eine Viertelstunde später hatte die Schwiegertochter einen Knall gehört, nur Sekunden später einen zweiten. Da war ihr klar gewesen, dass es sich um Schüsse gehandelt hatte.
Um zwanzig vor eins machten sich Astrid, van Appeldorn und Toppe auf den Rückweg nach Kleve. Von Bahlows Söhnen hatten sie die Wahrheit über ihren Vater noch nicht gesagt.
Auf dem Parkplatz vor dem Hotel, gleich gegenüber der Vorschule, stand Ullis roter VW. Sie arbeitete noch. Trotz allem musste van Appeldorn innerlich lächeln, er freute sich auf heute Abend.
Charlotte Meinhard hatte sich ausgerechnet heute Morgen die Zeit genommen, die Berichte gründlich zu studieren. »Und jetzt ist der Mann tot? Was wollen Sie dann noch unternehmen? Nein, bitte«, blockte sie sofort wieder ab. »Keine Details! Ich gehe davon aus, dass Sie wissen, was Sie tun. Wie Sie ja neulich schon sagten, Herr Toppe, ich habe nur über Ihre Ergebnisse zu befinden. Eines liegt jedoch auf der Hand: Herr Cox kann seine Dienstreise abbrechen, und zwar unverzüglich. Geben Sie mir bitte seine Nummer. Darum kümmere ich mich selbst.«
Toppe und Astrid lagen zusammengekuschelt im Bett und sahen sich im Fernsehen eine Schnulze mit Doris Day an – genau richtig, wenn man nicht denken wollte. Aber dann klingelte Toppes Handy.
»Welcher Blödmensch ruft mich um diese Zeit auf dem Scheißapparat an?«, teufelte Toppe und musste erst mal suchen.
»Ja!«, bellte er.
»Helmut? Norbert hier. Ich … Ulli ist weg!«
Toppe sank das Herz in den Bauch. »Wie meinst du das?«
»Sie ist nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen.«
Toppe sah auf die Uhr – halb zwölf – und van Appeldorns Tonfall gefiel ihm auch nicht. »Komm, das muss doch nichts heißen …«
»Doch! Verdammt, Helmut, da ist was passiert, ich bin ganz sicher, Ulli ist was passiert!«
»Hast du denn schon …?«
»Ja, natürlich! Wofür hältst du mich? Die Kollegen, Krankenhäuser. Ich bin doch nicht doof! Ich habe sämtliche Freunde und Bekannte angerufen. Ich hab die Rektorin der Vorschule aus dem Bett geklingelt und alle neuen Kollegen und Kolleginnen auch. Nichts! Sie hat die Schule um Viertel nach vier höchst munter verlassen. Ich hab sogar dieses Arschloch Richard von Bahlow angerufen. Ihr Auto steht nicht mehr auf dem Parkplatz.«
»Ich komme, in Ordnung? Mach jetzt gar nichts mehr, okay? In zehn Minuten bin ich bei dir.«