19

Hüseyin war dabei, Werkzeug auszuladen. Gerade mühte er sich mit einem schweren Hochdruckreiniger ab. Offensichtlich war er allein und offensichtlich hatte er die Polizisten längst entdeckt, denn er zuckte nicht mit der Wimper, als sie auf ihn zukamen.

»Wie geht es Ihnen?« Er reichte beiden verlegen lächelnd die Hand.

»Danke«, nickte Toppe. »Und Ihnen?«

Hüseyin antwortete nicht, sondern bückte sich wieder nach seiner Maschine.

»Warten Sie!« Toppe fasste mit an und sie schleppten das Gerät zum Haus.

»Nett von Ihnen«, meinte Hüseyin. »Danke sehr.«

»Sie machen den Laden also wieder auf?«

»Ja, so bald wie möglich.«

»Ayse und Sie?«

»Die Familie.«

»Ist Ayse noch in der Türkei?«

»Ja.« Hüseyin ging zum Auto zurück und Toppe folgte ihm.

»Und wie geht es Deniz Eroglu?«

»Bitte, Herr Toppe …« Hüseyin klang bedrückt. Er schulterte einen Werkzeugkasten und ging wieder.

Cox verfolgte ihn mit düsteren Blicken. »Wenn der endlich den Mund aufmachte, hätten wir diesen Deniz am Wickel. Du könntest ihn zum Reden bringen. Er mag dich anscheinend.«

»Vielleicht«, antwortete Toppe, »aber was würde das schon helfen? Überleg doch mal: Es gibt keine Spuren am Tatort, wir haben keine Beweise. Selbst wenn Hüseyin uns sagt: ›Deniz war’s, ich habe es mit eigenen Augen gesehen‹ – was ich übrigens bezweifle –, da wären sofort wer weiß wie viel andere, die sagen würden, Deniz Eroglu war es nicht, und entsprechende Alibis liefern.«

»Kann schon sein«, meinte Cox unzufrieden, aber Toppe war noch nicht fertig.

»Und wenn der Junge aussagt, was passiert dann mit ihm? Weißt du, wie die Familie reagieren würde?«

»Nein.«

»Ich auch nicht, aber besonders angenehm stelle ich mir das nicht vor. Über Deniz mache ich mir auch so meine Gedanken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Familie ihn ungeschoren lässt. Schließlich war das ein Mordanschlag.«

Sie hatten beide nicht bemerkt, dass Astrid und van Appeldorn hinter sie getreten waren.

»Na, Peter«, van Appeldorn griente. »Kriegst du eine kostenlose Lektion zum Thema Menschlichkeit?«

»Hör auf, Norbert«, schimpfte Astrid. »Ich hab mir für heute wahrhaftig genug Gehässigkeiten angehört.«

Hüseyin kam zurück und begrüßte auch die beiden anderen, dann gab er sich einen deutlichen Ruck und trat ganz nahe an Toppe heran. »Ayse wird nicht mehr nach Deutschland zurückkommen.« Seine Augen schimmerten. »Ich kann Ihnen nichts sagen, Herr Toppe, bitte glauben Sie mir!«

»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, mischte sich van Appeldorn ein, »glauben Sie uns!«

Hüseyin drehte sich um und ging.

Der einzige Platz, an dem sie sich kurz zusammensetzen und ihre Ergebnisse austauschen konnten, schien die Bank auf dem verblasenen, nassen Spielplatz zu sein. Sie kamen sich merkwürdig vor, wie sie da brav nebeneinander aufgereiht mitten auf dem Präsentierteller saßen, aber niemand nahm von ihnen Notiz.

Waldemar von Bahlow hatte sich genauso arrogant und herrisch benommen wie bei den vorherigen Begegnungen. Natürlich hatte er Jakob Opitz in der Zeitung erkannt, aber der Mann hatte ihn schon zu Lebzeiten nicht gekümmert, was sollte er sich jetzt um den scheren? Opitz sei ein linker Quertreiber und Trunkenbold gewesen, von dem sich anständige Menschen fern gehalten hätten. Mehr gäbe es dazu nicht zu sagen, Punktum.

»Ich habe die Schwiegertochter nachher noch angesprochen«, sagte Astrid. »Sie ist nicht von hier, ist erst 1980 ins Dorf gekommen, als sie Konstantin von Bahlow geheiratet hat. Die beiden hätten Opitz auf dem Foto erkannt, wären sich aber nicht ganz sicher gewesen. Heute Morgen hätte ihr Mann dann aber doch bei der Polizei angerufen. Ich habe das gerade überprüft: Bei der Zentrale sind heute früh außer diesem noch andere Anrufe aus Nierswalde eingegangen.«

»Ach, plötzlich doch noch?«, brummte Cox. »Hast du die Namen?«

»Klar, Richard von Bahlow, Dorfstraße – das ist der Hotelbesitzer –, Olaf Jelinek, Waldstraße, Karl Maier, Stettiner Straße und Siegfried Krieger aus Goch. Der hat früher hier gewohnt.«

Toppe zog die Pastorenliste aus der Innentasche seiner Jacke und markierte die Namen. »Die haben auch alle an der Hütte mitgebaut. Da schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Waldemar von Bahlow hatte sich bockig gestellt und gemeint, seine finanziellen Verhältnisse gingen allein das Steueramt und den Herrn etwas an, aber bei van Appeldorn war er damit nicht durchgekommen. Angeblich hatte der Alte, als er 1949 nach Nierswalde zog, eine weitreichende Erfindung gemacht. Die Berge von Baumwurzeln und Stockholz, die nach der Rodung überall aufgetürmt waren und irgendwie beseitigt werden mussten, hatten ihn tüfteln lassen. Auf Einzelheiten wollte er nicht eingehen, aber wie auch immer, letztendlich habe er damals das Baumaterial der Zukunft entwickelt, die Hartfaserplatte. Leider habe er nicht über die Mittel verfügt, ein Patent darauf anzumelden. Das habe die HVW AG in Weeze getan, ihm aber eine großzügige Abfindung gezahlt und mit dem Geld habe er eben sehr klug gewirtschaftet.

»Bisschen abenteuerlich, die Geschichte. Überprüf das mal.«

Van Appeldorn nickte. »Schon notiert. Politiker war der Mann übrigens auch noch. Er ist gleich 1952 in den ersten Gemeinderat gewählt worden und ab 1960 war er dann Bürgermeister. Da war er erst 42, reichlich jung für so einen Posten zu der Zeit, aber er meinte, es zahle sich eben aus, wenn man sich für das Gemeinwohl einsetze, und er habe sich schließlich maßgeblich an den Kosten für den Bau der Schule beteiligt, unter vielem anderen.«

Ein heftiger Windstoß fegte über den Spielplatz und ließ die Ketten der Schaukeln klirrend gegen das Gestänge schlagen. Astrid zog sich fröstelnd die Kapuze über. »Nächstes Mal nehme ich eine Thermoskanne Kaffee mit.«

Toppe fasste das Gespräch mit Adelheid Tessel so knapp wie möglich zusammen. »Ich gehe jetzt mit Peter zu den Jelineks. Die müssen Opitz gut gekannt haben und Olaf Jelinek gehört außerdem zu den Hüttenbauern.«

»Dann nehmen wir uns Karl Maier vor. Das ist doch die Familie, wo wir letzte Woche nur die taube, alte Frau angetroffen haben, oder?«, fragte Astrid und schaute zum Himmel. »Wir sollten uns ranhalten, es fängt gleich wieder an zu regnen. Bis zur Waldstraße ist es ein ganzes Stück, nehmt besser den Wagen.«

»Ach, Blödsinn«, wehrte Cox ab. »Ein bisschen Bewegung tut uns mal ganz gut.«

Wenig später bereute er seine sportlichen Ambitionen, denn auf halbem Weg setzte ein eisiger Regensturm ein, und als sie bei Jelineks ankamen, waren ihre Kleider durchweicht und ihre Nasen und Ohren taub vor Kälte.

»Was für ein Sauwetter!« Sonja Jelinek hielt die Haustür weit offen. »Kommen Sie schnell ins Trockene. Sie sind doch von der Polizei, nicht wahr?«

Toppe zögerte und sah auf seine Schuhe. »Wir werden Ihnen alles schmutzig machen.«

»Das ist überhaupt nicht schlimm.« Sie lachte liebenswürdig. »Wir sind sowieso noch nicht fertig eingerichtet. Die Teppichböden liegen immer noch original verpackt im Schuppen. Augenblick!«

Sie verschwand in einem Durchgang und kam mit zwei Handtüchern zurück. Cox und Toppe trockneten sich Gesicht, Nacken und Hände.

»Wir sind nämlich erst im Juli hier eingezogen und natürlich müssen wir zunächst einmal den Betrieb auf Vordermann bringen. Die Wohnräume kommen nicht vor dem Winter dran«, redete sie weiter. Dann wurde sie ernst. »Sie kommen wegen Onkel Jakob. Mein Mann hat ja heute Morgen bei Ihnen angerufen.«

Toppe stellte sich vor. »Hoffentlich stören wir Sie nicht beim Mittagessen.«

»Nein, gar nicht. Wir essen immer abends warm. Wir sind ja nur zu zweit.«

Sonja Jelinek musste Mitte vierzig sein, eine große, muskulöse Frau, die körperliche Arbeit gewöhnt war. Ihr aschblondes Haar hatte sie nachlässig mit einem Gummiring zurückgebunden, ihr rundes Gesicht war ungeschminkt und hätte ohne die dunkle, schwere Brille sehr nett ausgesehen.

»Ich bin immer noch ganz benommen wegen Onkel Jakob«, meinte sie. »Aber für meinen Mann ist es viel schlimmer, er kannte ihn ja schon, seit er ein kleiner Junge war. Warten Sie, ich rufe ihn gleich. Er ist draußen auf dem Hof.«

Wieder lief sie zum Durchgang. »Liebling? Kommst du mal? Die Polizei ist da.«

Olaf Jelinek kam sofort. Er war ein wenig kleiner als seine Frau, schmaler, attraktiv, mit dunklen, kurzen Haaren. Er sah unglücklich aus, ein wenig aus dem Tritt gebracht, aber sein Händedruck war fest, die Handflächen voller Schwielen.

Er nahm sie mit in ein spartanisch eingerichtetes Wohnzimmer. Seine Frau legte ihm kurz die Hand an die Wange und drückte seine Schulter, als er an ihr vorbeikam, dann ging sie hinaus und holte zwei Stühle.

»Was wollen Sie wissen?«, fragte Jelinek rau, als alle einen Platz gefunden hatten.

»Ihr Vater und Jakob Opitz waren befreundet?«, begann Toppe.

»Ja, sie haben beide in Bonn studiert, daher kannten sie sich und den Kontakt haben sie gehalten. Onkel Jakob war meinem Vater eine große Stütze, besonders als meine Mutter gestorben ist.«

Er sah zu seiner Frau hinüber.

»1979 haben wir geheiratet, meine Frau und ich«, fuhr er fort, »und keine Woche später ist mein Vater an einem Herzinfarkt gestorben. Er hat mir sein Haus hinterlassen und etwas Geld. Ich war zu der Zeit gerade arbeitslos und Sonja wollte auch etwas Neues anfangen. Da ist uns Onkel Jakob eingefallen. Wir wussten, dass es hier viele Gärtnereien gab. Meine Frau hat Gartenbau gelernt.«

»Und Sie? Sind Sie auch vom Fach?«

Jelinek wirkte betreten, er wurde sogar ein wenig rot. »Ich war, na ja, ich war in meiner Jugend nicht sehr zielstrebig …«

Sonja Jelinek lachte. »Der ewige Student, das kennen Sie sicher. Und dann auch noch Philosophie und Theaterwissenschaften, lauter brotlose Kunst.«

»Dann muss die Gärtnerei aber eine gewaltige Umstellung gewesen sein«, meinte Cox amüsiert.

»Das können Sie wohl sagen!«, antwortete die Frau. »Aber er hat sich schnell eingearbeitet.«

»Sie haben keine Kinder?«

»Nein, leider …« Sie blickte auf ihre verschränkten Hände, Toppe hatte offenbar einen wunden Punkt berührt.

Dann ergriff sie wieder das Wort. »Wir haben immer hart geschuftet, aber ich weiß nicht, ob wir es ohne Onkel Jakob geschafft hätten. Er hat uns den ersten Betrieb unheimlich günstig vermittelt und uns auch später mit Rat und Tat zur Seite gestanden.«

»Wo war denn Ihr erster Betrieb?«, fragte Toppe.

»An der Danziger Straße. Wir waren ganz zufrieden dort, aber als Tante Lene, Jakobs Frau, gestorben ist, brauchte von Bahlow unser Grundstück für den Hotelbau. Im Tausch hat er uns diesen Betrieb angeboten. Der war bis dahin verpachtet gewesen. Wir haben uns verbessert und wären schön dumm gewesen, wenn wir uns nicht darauf eingelassen hätten. Obwohl die ersten ein, zwei Jahre natürlich wieder hart werden.«

»Sie hatten also sehr engen Kontakt zu Opitz?«

»Am Anfang ja, aber später wurde es immer weniger. Onkel Jakob war, nun, er hatte ein Alkoholproblem … Seine Ehe war auch nicht besonders glücklich … mit seiner Frau hatten wir kaum was zu tun. Jedenfalls hat sich Onkel Jakob in den letzten Jahren von allen zurückgezogen, ist doch so, Olaf, oder?«

»Ja, das stimmt.«

»Wann haben Sie Opitz zum letzten Mal gesehen?«

»Ostersonntag 1989«, antwortete Jelinek tonlos.

»Das wissen wir deshalb so genau, weil er am Ostersonntag immer zum Essen bei uns war«, ergänzte seine Frau. »Karpfen, polnische Art, das war sein Leibgericht. Jakob war ein Waisenkind, wissen Sie, und im Waisenhaus hatte es das immer zu Weihnachten gegeben. Muss ein ungeheuerer Luxus gewesen sein. Ich habe das extra kochen gelernt und zweimal im Jahr haben wir ihn dazu eingeladen, Heiligabend und Ostersonntag. Er hat es immer so genossen. Aber an dem Abend ging es ihm nicht so gut, er war bedrückt, oder?«

Olaf Jelinek starrte vor sich hin. »Er meinte, er könne es hier einfach nicht mehr aushalten und er würde gern zurückgehen nach Köslin.«

»Zurück in seine Heimat, hat er gesagt. Da waren die Grenzen noch nicht offen, aber wir haben gedacht, er hätte es trotzdem getan, wäre einfach nach Polen gegangen.«

»Wer hat Opitz ermordet?«, fragte Peter Cox unvermittelt.

»Was?!« Olaf Jelinek war vollkommen entgeistert.

»Ihrer Meinung nach«, schränkte Cox ein.

»Woher sollen wir das wissen?«, rief die Frau. »Sagen Sie uns doch, wie er umgekommen ist. Ist er wirklich erschossen worden? Stimmt das alles, was in der Zeitung stand? Mit der Fettleiche und dass er keinen Unterkiefer mehr hatte?«

»Ja«, antwortete Toppe nüchtern, »das stimmt alles. Ich würde gern noch etwas wissen: Warum haben Sie uns erst heute benachrichtigt?«

Sonja Jelinek sah plötzlich traurig aus. »Wir sind einfach das ganze Wochenende nicht zum Zeitunglesen gekommen. Die Heizung im großen Treibhaus hat verrückt gespielt.«

»Opitz wurde durch einen Genickschuss getötet und in die Baugrube des Spielhauses gelegt. Zwei Tage später ist das Fundament gegossen worden. Herr Jelinek, Sie haben doch dabei mitgeholfen. Ist Ihnen denn nichts aufgefallen?« Toppes Ton war drängend.

Jelinek schluchzte trocken auf.

»Liebling …« Seine Frau machte eine Bewegung auf ihn zu, blieb dann aber doch sitzen. »Ja, wir haben mitgeholfen, nicht nur mein Mann, ich auch, wie fast alle Jüngeren im Dorf. Damals dachten wir noch, es könnte klappen mit einem Kind …«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, wer Onkel Jakob töten wollte«, sagte Jelinek mit spröder Stimme. »Er hat doch niemandem was getan! Und die Baugrube, wenn ich mir vorstelle, dass er da gelegen hat, als ich. als wir mein Gott!«

»Wer hat die Grube ausgeschachtet? Wer hat das Fundament gegossen?«

Jelinek schaute seine Frau hilflos an. »Weißt du das noch?«

»Ich weiß nur noch, dass Maier senior den Beton gemischt hat. Er hatte auch das Material besorgt und die Mischmaschine geliehen. Da waren x Leute und die Grube sah ganz normal aus. Onkel Jakob hat sich zu der Zeit schon aus allen Gemeindeprojekten rausgehalten, er war ja schon Rentner.«

»Mit wem war Opitz befreundet oder näher bekannt?«

»Mit keinem«, sagte Jelinek und es klang recht bitter. »Jedenfalls nicht in der Zeit, in der wir hier wohnen.«

»Auch nicht mit Adelheid Tessel?«

»Du meine Güte«, meinte Sonja, »hat die das behauptet? Onkel Jakob hat sie gehasst. Na ja, das ist vielleicht zu stark, aber er ist ihr aus dem Weg gegangen, wie die meisten Leute. Die dreht einem das Wort im Mund um.«