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Peter Cox hatte das Altersheim ausfindig gemacht, in dem Robert Froriep seinen Lebensabend verbrachte, und Toppe rief gleich morgens als Erstes in Düsseldorf an und sprach mit der Heimleiterin. Soweit ihr bekannt sei, gehe es Herrn Froriep gut und die Polizei könne gern mit ihm reden. Wie wäre es mit morgen Nachmittag um zwei? Während die anderen sich um die Berichte kümmerten, machte Toppe sich auf den Weg zur Chefin. Vor ihrem Büro lümmelte Jupp Ackermann herum. »Charly is’ nich’ da un’ kein Mensch weiß, wo se steckt.« Er hatte die halbe Nacht über den Protokollen gesessen, um sich ein Bild zu machen von den Ereignissen der letzten Wochen in Nierswalde. Anscheinend war er ziemlich sicher, dass die Meinhard ihn abstellen würde. »Reine Formsache!« Er zwinkerte vergnügt. »Un’ wenn nich’, muss ich einfach noch ’n paar Takte mehr fallen lassen von wegen Fernsehschau.«

Toppe nickte abwesend; er wusste nicht, was Ackermann inzwischen unternommen hatte, er fragte auch nicht nach.

»Erde an Toppe, Erde an Toppe!« Ackermann fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, »’n Zwanni für Ihre Gedanken, Chef. Wissen Se, wat ich mir überlegt hab? Könnt doch sein, dat ich ganz fix hinter die dunklen Finanzgeschäfte von dem Kaiser komm. Wie wäret denn, wenn ich mich danach ma’ hinter die Vandalen klemm? Et müsst’ doch mit dem Teufel zugehen, wenn wer denen nich’ auf die Schliche kämen, wo wer so feine Spuren haben!«

Es wurde elf, bis Charlotte Meinhard endlich auftauchte, ohne jede Erklärung, dafür mit einer neuen Frisur in frisch glänzendem Dunkelrot.

Sie war sofort einverstanden, Ackermann dem KK 11 zu überstellen, sprach nicht einmal über eine zeitliche Befristung und wollte auch nicht die übliche schriftliche Begründung.

Als Toppe sich endlich in sein Auto setzte, um nach Nierswalde zu fahren, brauchte er ein paar Minuten, bis er seine Wut über diese Frau wieder unter Kontrolle hatte. Manchmal hielt er es kaum noch aus, wie sie ihn mit ihren willkürlichen Launen – oder vielleicht war es ja auch wohl überlegte Taktik – Männchen machen ließ.

Die Schuppentür schloss er nicht, schlängelte sich durch bis zum Fenster und öffnete auch das weit.

Der Tag war windig und grau, er fröstelte schon jetzt, spürte, wie seine Finger klamm wurden, aber er konnte den Modergeruch einfach nicht ertragen.

Vorsichtig richtete er den kleinen Mahagonitisch auf und legte das Kästnerbuch aufs Bett, dann begann er, Kisten und Kartons zu öffnen.

Frauenkleidung, zwei Koffer voll, auch Schuhe und Hüte, keine einziges Kleidungsstück von Opitz. Hatte Helene alles ausrangiert? Wann? Und wieso hatte sie ihren Mann nie als vermisst gemeldet? Er konnte Adelheid Tessel danach fragen. Sie hatte ihn kommen sehen und würde mit Sicherheit früher oder später auftauchen.

Er fand Fotoalben: Helene Domröse als Siegerin bei einem Rock-’n’-Roll-Wettbewerb, ihr Tanzpartner war nicht Jakob Opitz gewesen. Helene bei einer Miss-Wahl in Xanten, bei einer weiteren in Goch. Dann das Hochzeitsfoto: eine hübsche, selbstgefällige Braut, ein ernster, in sich gekehrter, aber deutlich verliebter Bräutigam. Das einzige Foto, das Toppe von Jakob Opitz entdecken konnte.

Aus den Jahren vor 1950 gab es nichts, keine Fotos, keine Schulzeugnisse, Milchzähne, erste Locken, was auch immer. War wohl alles auf der Flucht verloren gegangen oder zurückgelassen worden.

Toppe atmete gegen den Knoten in seinem Magen an. Die Spuren, die Opitz hinterlassen hatte, waren erbärmlich dünn. Zwei Manschettenknöpfe aus Bernstein, zwischen Pappdeckeln ein paar vergilbte Zeitungsartikel über das Nierswalder Jugendheim, ein grobkörniges Bild, auf dem Opitz mit einer Gitarre zwischen seinen Schützlingen saß. Er lächelte am Fotografen vorbei.

Toppe legte die wenigen Dinge auf das Tischchen und machte sich an den Inhalt der Bücherkisten. Helene Domröses Nachlass bestand aus größtenteils ungelesenen Romanen von einem Buchclub, das Beste aus Reader’s Digest und Bildbänden vom Niederrhein, wie man sie von fantasielosen Bekannten zum Geburtstag und zu Weihnachten bekam.

Er schaute auf das zerlesene Kästnerbuch. Wo war Jakobs Nachlass geblieben?

Von neuem durchsuchte er die beiden Bücherkisten, sorgfältiger diesmal, nahm jeden Band heraus, legte ihn zur Seite und fand schließlich ein paar Exemplare, die nicht ins Gesamtbild passten. Sie steckten wahllos irgendwo dazwischen, als hätte man sie übersehen. Toppe trug auch diesen Stapel zum Tisch.

Dann ging er zur Tür und zündete sich eine Zigarette an, aber der schale Geschmack im Mund blieb. Langsam ließ er den Blick über das Sammelsurium im Raum schweifen. Hatte er etwas übersehen? Die Papiere, Versicherungspolicen, Testamente, all das lag beim Nachlassgericht, das konnte er in den nächsten Tagen überprüfen.

Ja, er hatte etwas übersehen! Schnell bahnte er sich einen Weg zwischen den Möbeln hindurch. Der Tisch neben dem Bett hatte eine Schublade. Sie war verschlossen. Toppe zögerte nicht lange, er nahm sein rotes Taschenmesser und knackte behutsam das Schloss. Eine alte Schulausgabe der Lutherbibel, ein teurer Füller mit Goldfeder, ein paar gefütterte Briefumschläge, ein Briefblock.

Er schlug ihn auf. Die Schrift kippelte unsicher, aber man ahnte noch ihre frühere Kraft:

Karsamstag 1989

Mein lieber Vater!

Es erfüllt mich mit Trauer, dass wir den gestrigen Tag nicht miteinander verbringen konnten. Das erste Mal in all unseren schönen gemeinsamen Jahren! Aber ich bin sicher, dass du mich, ebenso wie ich es getan habe, in deine Gebete mit eingeschlossen hast. Gottes Segen, Vater! Leider bin ich nach dieser lästigen Krankheit immer noch zu schwach für eine Reise, aber die Ärzte sind zuversichtlich, so dass wir beide womöglich schon die Pfingsttage

Hier brach der Brief ab. Toppe legte ihn neben sich aufs Bett, dann stand er auf und schloss energisch das Fenster. Er fror.

Der Bücherstapel: Zwei weitere Kästnerbücher, Tucholskys Schloss Gripsholm in einer Rowohlt-Rotations-Roman-Ausgabe, im Großformat noch – die musste ein kleines Vermögen wert sein. Ein dickeres Buch mit einem grauen Einband: Die deutsche Wehrmacht – Werkzeug des Faschismus.

Toppe stutzte und schlug es auf. Von 1963 … Da hatte es schon eine kritische Auseinandersetzung gegeben?! Der Verlag sagte ihm nichts.

Ein Stück Papier lugte am oberen Buchrand heraus. Vorsichtig schlug Toppe den Band an der Stelle auf. Das Papier entpuppte sich als ein weiterer Zeitungsausschnitt, ein Pressefoto, aufgenommen vor dem AKW in Kalkar, eine Kette von Demonstranten, am linken Bildrand, fest bei seinen Nachbarn untergehakt, Opitz mit trotzigem Gesicht. Wann waren die großen Demos gegen den schnellen Brüter gewesen, Anfang der Siebziger?

Toppe legte den Ausschnitt weg und holte scharf Luft, als sein Blick auf das aufgeschlagene Buch fiel. Die obere Hälfte der rechten Seite nahm eine Fotografie ein: Ein deutscher Offizier hatte mit ausgestrecktem Arm seine Pistole im Genick eines jungen Mannes aufgesetzt. Das Gesicht des Opfers voller Gewissheit und dennoch angstverzerrt. Den Täter konnte man nicht erkennen. Er hatte den Mützenschirm tief heruntergezogen, die Augen lagen im Schatten, der Mund war eine dunkle, gerade Linie. Toppe las die Bildunterschrift und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief: Köslin 1943; Erschießung eines polnischen Kriegsgefangenen.

Der Uniformärmel des Offiziers war ein Stück hochgerutscht und enthüllte ein etwa fünfmarkstückgroßes, dunkles Mal am Handgelenk. Ein Muttermal? Jemand hatte dieses Mal auf dem Foto mit einem Tintenkreis markiert. Jemand … Opitz?

Toppes Hände kribbelten. In Köslin war Opitz geboren, 1943 – da war er acht Jahre alt gewesen und hatte noch im Waisenhaus gelebt. Genickschuss! War Opitz Zeuge dieser Hinrichtung gewesen? Hatte er das Opfer gekannt? Aber der Kringel. Opitz hatte den Täter erkannt! Er kannte jemanden mit einem solchen Mal.

Ungeduldig zerrte Toppe sein Telefon aus der Tasche und gab Cox’ Kurzwahl ein, aber es meldete sich nur die Mailbox. Er hinterließ eine heisere, dringliche Nachricht.

»Kommen Sie nur herein, Frau Tessel«, meinte er dann, ohne sich zur Tür herumzudrehen.

»Ich wusste gar nicht …« Sie tänzelte am Eingang herum und scharrte mit den Füßen.

»Kann ich Ihnen helfen?« Toppe sah, wie ihre flinken Augen hin und her wieselten, bevor sie sich ihm zuwandte.

»Viel von Jakob finden Sie hier nicht, hab ich Recht?« Sie kam einen Schritt näher und er wartete einfach, während sie mit der Hand über die Front eines Schrankes fuhr und dann missbilligend ihre schwarzen Fingerspitzen betrachtete. »Die hat doch sofort alles von der Caritas abholen lassen, all seine Kleider. Die Bücher hat die Arbeiterwohlfahrt gekriegt und der Rest ist auf den Müll gekommen. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie sie Jakobs Rasierzeug in die Tonne geschmissen hat.«

»Wann?«

»Wie bitte?«

»Sie sagten, Helene Opitz hätte alles sofort abholen lassen. Wann war das?«

Er konnte sehen, wie es in ihr arbeitete, aber dann entschied sie sich für die Wahrheit. »So ein, zwei Jahre nachher …«

»Können es auch drei gewesen sein?«

»Vielleicht auch drei!« Sie wollte hochnäsig klingen. »So genau habe ich das nicht mehr im Kopf. Schließlich kann ich mich nicht um jeden kümmern.«

»Helene Opitz hat ihren Mann nicht als vermisst gemeldet.«

»Die!« Sie lachte schrill. »Die hat doch drei Kreuze gemacht, dass sie ihn los war!«

»Und Sie? Sie waren doch eng mit ihm befreundet. Warum haben Sie keine Vermisstenmeldung aufgegeben?«

»Ich!« Sie schnappte asthmatisch nach Luft. »Von dem Mann einer anderen?«, haspelte sie. »Das kann man doch nicht tun! Was sollen denn die Leute denken? Ich hab doch auch geglaubt, der hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Dachte doch jeder.«

»Wer? Wer dachte das? Mit wem haben Sie darüber gesprochen?«

»Das soll ich Ihnen heute noch erzählen können?« Sie schob die geballten Fäuste in ihre Kitteltaschen.

»Ja, bitte.«

»Sie sind ja nicht gescheit! Das ganze Dorf hat sich da Maul zerrissen. War doch Thema eins wochenlang.«

»Was hat von Bahlow gesagt?«

Sie war überrascht. »Waldemar? Wieso fragen Sie ausgerechnet nach dem?« Anscheinend versuchte sie sich: erinnern. »Komisch, der hat am allerwenigsten gesagt.

Eigentlich gar nichts.«

Toppes Telefon fiepte, es war Cox.

»Wo steckst du gerade?«

»In einer Gärtnerei in Auwel-Holt. Ehemalige Nierswalder, die vor acht Jahren hergezogen sind. Bin aber fertig hier jetzt. Auch nichts Neues. Was ist denn los? klangst so aufgeregt.«

»Moment mal …« Toppe stand auf, schob sich an der Tessel vorbei nach draußen und sprach erst wieder mit Cox, als er außerhalb ihrer Hörweite war. Er erklärte, was er gefunden hatte, schilderte die Fotografie und gab die Daten durch. »Tu mir den Gefallen und finde diesen Verlag, ja? Wir müssen wissen, wer damals das Buch gemacht hat, woher die Fotos gekommen sind. Wir müssen wissen, wer der Mann auf diesem Bild ist.«

»Ja, schon klar. Wie war der Name des Verlages? Moment, ja, jetzt hab ich meinen Stift.«

Als Toppe ins Büro zurückkam, erwartete Cox ihn schon. Sein Gesichtsausdruck und seine Stimmung waren Toppe ungewohnt. Sie lagen irgendwo zwischen kindlichem Trotz und kühler Entschlossenheit. »Ich habe den Verlag, aber der gehört mittlerweile zu einem von den großen Konzernen. Die halten mich für komplett verrückt. Wie sie denn wohl nach fast fünfzig Jahren. bla, bla. Ich bin ganz freundlich geblieben. Jedenfalls sollen wir ihnen das Foto rüberfaxen und die genauen Angaben zu dem Buch. Sie würden sich dann wieder melden. Jetzt lass doch mal gucken!«

Toppe schlug das Buch auf, gab es ihm rüber und schälte sich aus seiner dicken Jacke.

»Interessant«, brummelte Cox. »Aber das muss nichts bedeuten.«

»Doch«, antwortete Toppe nur.

»Das sagt dir deine Intuition?« Es klang nett.

»Ich weiß es einfach.«

Ackermann kam kurz vor Dienstschluss und floss über vor Neuigkeiten, sie konnten ihn nur mit Mühe bremsen und es dauerte ewig, bis sie sich ein sachliches Bild machen konnten.

Er war den ganzen Tag in Weeze gewesen. Bei der Holzverwertungs-AG hatten sie ihm zunächst mal einen Vogel gezeigt, weil er zu erwarten schien, dass sie noch irgendwelche Unterlagen von vor fünfzig Jahren haben sollten. Aber in seiner Terriermanier war Ackermann drangeblieben, hatte frühere, längst pensionierte Mitarbeiter aufgetan, die noch im Ort lebten, Freunde vom Seniorchef, eine alte Sekretärin.

Waldemar von Bahlow hatte tatsächlich die Grundidee zur Herstellung von Hartfaserplatten gehabt, aber das Verfahren zur Holzverschleimung, die ganze Technik, hatte die HVW entwickelt. Von Bahlow hatte eine einmalige Abfindung von 1.000 DM bekommen. Damals zweifellos ein kleines Vermögen, aber auch mit eimerweise Glück kein Grundstock für ein Imperium.