16
Peter Cox war der Einzige, der sich nicht beklagte. Mit stoischem Gleichmut kontrollierte er Vermisstenlisten, zog die Namen der Personen, die in Frage kamen, heraus, stellte diese zu neuen Listen zusammen und gab sie weiter.
Astrid, Toppe und van Appeldorn telefonierten sich die Ohren heiß und wurden immer unleidlicher.
Die Chefin schaute regelmäßig herein und bekundete ihr Mitgefühl: »Das ist leider die Schattenseite unseres Berufes, nicht wahr? Aber es kommen auch wieder bessere Zeiten. Ist Ihnen das zu viert nicht ein bisschen eng hier?«
Am Mittwoch machte sie den Fehler, noch einen kleinen Satz anzuhängen: »Die Gefahr dabei ist, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.« Und sie löste damit bei van Appeldorn eine gewaltige Explosion aus. Es war Cox, der die Wogen so weit glätten konnte, dass beide Kontrahenten ohne Gesichtsverlust auseinander gingen.
Toppe war sich bitter bewusst, dass das eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre, aber wenn es um Charlotte Meinhard ging, verlor er jedes diplomatische Geschick. Im Grunde war er nie ein besonders guter Friedensstifter gewesen, weil seine eigenen Gefühle ihm meist zu sehr im Weg standen …
Als es klopfte, war er mit seinen Grübeleien an dem Punkt angekommen, dass er für seinen Job völlig ungeeignet war.
Der Kollege von der Wache brachte einen Briefumschlag. »Hat ein Pfaffe für dich abgegeben.«
Der Nierswalder Pastor schickte die Namen der Leute, die das Spielhaus gebaut hatten. Toppe legte die Hand über die Augen. »Zur Abwechslung hätte ich hier mal eine Liste.«
Cox nahm für einen Moment den Blick vom Bildschirm. »Wie viele sind es denn?«
»Du wirst es nicht glauben, es sind sechsundvierzig.«
»Hast Recht, ich glaub’s nicht. Was hatten die denn vor? Wollten die ins Guinness-Buch der Rekorde? Wie viele Menschen können gemeinsam eine Hütte bauen, ohne sich gegenseitig totzutrampeln?«
»Wie es aussieht, wohnt über die Hälfte der Leute inzwischen nicht mehr im Dorf. Wir werden also ein bisschen in der Weltgeschichte herumkommen.«
Cox sah auf die Uhr. »Meine Zeit am Schirm ist um. Aber das, was ich ausgedruckt habe, wird uns ja wohl noch für ein paar Stunden auf Trab halten. Wie viele Fragezeichen bleiben übrig?«
Sie hatten einen kleinen Restbestand an vermissten Personen, bei denen sich auch nach ausführlichen Telefonaten mit Behörden und Angehörigen nicht sicher ausschließen ließ, dass einer von denen ihr Toter war.
»Nur noch fünf«, antwortete Astrid und streckte sich. »Ach Mann, was wir hier tun, ist doch völliger Schwachsinn! Was ist denn zum Beispiel mit Obdachlosen, Tippelbrüdern, illegalen Einwanderern, den ganzen Leuten, die niemand als vermisst melden würde?«
»Scheint mir für diesen Personenkreis irgendwie die falsche Tötungsart zu sein«, erwiderte van Appeldorn. »Aber bitte, möglich ist alles.«
»Es stimmt schon«, sagte Cox. »Wenn wir ehrlich sind, fischen wir im Trüben. Meine einzige Hoffnung ist Henry. Ich kann zwar nicht beurteilen, ob seine Methode wirklich Hand und Fuß hat, aber das Ergebnis ist viel versprechend. Ich war jeden Abend dort. Verdammt beeindruckend, muss ich schon sagen.«
»Und das aus dem Munde von PC!«, spottete van Appeldorn.
Cox verstand ihn nicht.
»P, C – Peter Cox. Nomen est omen. Ist dir das noch nie in den Sinn gekommen?«
»Ehrlich gestanden nicht«, meinte Cox verwirrt. »Ihr müsstet euch Henrys Meisterstück wirklich mal anschauen. Der würde sich bestimmt auch freuen. Heute wollte er die Haare einarbeiten. Er hat mir gezeigt, wie man bei einer Fettwachsleiche den Haaransatz und sogar noch Wirbel erkennen kann. Fantastisch! Und Gabi war gerade dabei, Echthaar im richtigen Grauton einzufärben.«
»Ich bin mittlerweile auch ziemlich neugierig«, sagte Astrid. »Wollen wir alle zusammen hinfahren?«
»Heute Abend kann ich leider nicht«, entschuldigte sich van Appeldorn. »Um sieben steigt im Materborner Jugendheim die Abschiedsfete für Ulli.«
»Heute schon?« Astrid wunderte sich. »Ich dachte, Ulli fängt erst am 1. November in Nierswalde an.«
»Stimmt, aber sie hat noch Resturlaub, und das ist auch gut so. Es gibt reichlich zu tun. Wir haben nämlich endlich ein Haus gefunden, das wir uns leisten können.«
»Echt? Toll! Und wo?«
»In Nütterden, ganz in der Nähe von den Sieben Quellen.«
»Verzeihung«, unterbrach sie Cox. »Ist das eine offizielle Pause? Wenn ja, würde ich nämlich jetzt mein Butterbrot essen.«
Einer von Toppes Albträumen wurde wahr.
In der Pathologie roch es immer nach scharfen Desinfektionsmitteln, unangenehm, aber auszuhalten. Heute jedoch stank es nach Formalin.
Toppe hielt unvermittelt die Luft an, blieb stehen und ließ Astrid und Cox vorbei. Während seiner Ausbildung hatte er besonders eifrig sein wollen und sich als Zuschauer bei Obduktionen an der Düsseldorfer Uni angemeldet. Es war ihm damals nicht bewusst gewesen, dass die Leichen, die an Universitäten seziert wurden, nicht immer taufrisch waren, und so hatten sie zum ersten Mal die Klingen gekreuzt, das Formalin und er. Er hatte den Kürzeren gezogen und war umgekippt. Zwei spätere Auseinandersetzungen waren nicht besser verlaufen. Jetzt versuchte er, möglichst kurz nur durch den Mund zu atmen, aber da waren sie schon wieder, die kleinen explodierenden Sonnen in den Augenwinkeln.
Astrid kam zurück. »Was ist mit dir?«
Er musste würgen. »Zu viel Kaffee und zu wenig gegessen.«
»Ja, natürlich, das wird es sein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Dir ist doch klar, dass das eine ganz schlichte hysterische Reaktion ist.«
»Danke für die Blumen! Geh ruhig. Ich komme zurecht. Mir geht’s gut.«
»Das seh ich. Helmut, Mensch, als ich bei Katharinas Geburt kurz vor den Presswehen durchgedreht bin und nach Hause gehen wollte, hast du mich da für eine Memme gehalten?«
»Natürlich nicht! Aber das ist doch was ganz anderes.«
»Überhaupt nicht. Jetzt setz dich hin und atme normal. Es riecht seltsam, okay. Kein Mensch findet den Geruch angenehm, aber er tut einem nichts. Find dich einfach damit ab und lass dich drauf ein. Es ist auszuhalten. Schlimm ist es nur, wenn du dich wehrst.«
»Lass mich einfach in Ruhe, ja?«
Sie seufzte. »Männer! Aber bitte, dann leide halt.«
Jetzt war ihm nicht nur schlecht, er kam sich auch noch blöde vor. Na gut, würde er eben mal wieder umkippen.
Er betrat eine Filmkulisse. Dunkel war es, nur die gnadenlose OP-Lampe über dem Tisch brannte. Im Zentrum des Lichtkegels ein aufgespießter Kopf, der so lebendig wirkte, dass es einen schauderte. Gabi, die konzentriert mit einer langen Nadel und einer Pinzette einzelne Haare auf dem Schädel einpflanzte, hauchfein, dicht an dicht. Sie trug eine Lupenbrille. Henry hinter ihr vibrierte vor Anspannung.
»Das ist fantastisch«, raunte Cox.
Toppe kam langsam näher. Das war also ihr Toter. Die Augenhöhlen waren noch leer, aber man konnte trotzdem einen Menschen erkennen, jemanden, der verbittert war, überdrüssig, einsam vielleicht und ein bisschen … ja was? Entgleist? Verwahrlost?
Henry wandte sich Toppe zu. »Eigentlich haben wir nur noch zwei Probleme: die Tönung der Haut und die Augenfarbe.« Toppe nahm den Leichnam auf dem Nebentisch, von dem der Gestank ausging, nicht mehr wahr. »Das ist wirklich großartig, Henry, einfach unglaublich. Probleme? Das sind keine Probleme. Wir werden doch sowieso nur Schwarzweißfotos machen.«
»Natürlich sind die Augen ein Problem! Auch auf einem Schwarzweißfoto macht es einen großen Unterschied, ob jemand helle oder dunkle Augen hat. Obwohl ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass er eher hellere Augen hat. Von der Schädelform her ist er beinahe rein nordisch.«
»Wenn ich die Fotos habe, kann ich sie am PC entsprechend bearbeiten«, meinte Cox. »Dann drucken wir mehrere Varianten ab.«
Gabi legte ihr Werkzeug aus der Hand und nahm die Brille ab. »Ich brauch eine kleine Pause. Meine Hände fangen an zu zittern.«
»Ruh dich aus, Schatz. Ich mache weiter.« Henry küsste ihren Nacken und stellte die Lampe neu ein.
»Augenblick«, rief Astrid. »Wartet doch mal. Ihr seid doch so gut wie fertig. Eigentlich könnten wir unsere Fotos doch jetzt schon machen. Ihr müsstet ihm nur noch irgendwelche Augen einsetzen.«
›»So gut wie‹ ist nicht gut genug.« Henry legte das Haar, das er schon mit der Pinzette aufgenommen hatte, wieder zurück. »Und, das kannst du nicht wissen, Astrid, Augen setzt man auch nicht so einfach ein. Ich will es perfekt haben. Und deshalb fliege ich am Freitag mit Fattys Zwilling und meinen Messungen nach Wien.«
Er kam allen Fragen zuvor. »Ich stehe die ganze Zeit in Kontakt mit Professor Abwerzger, der am Freitag hier bei der Sektion dabei war. Bevor ich ein endgültiges Ergebnis abliefere, mach ich die Geschichte wasserdicht, Freunde.«
»Du fliegst nach Wien?«, fragte Toppe gedehnt.
»Auf Kosten des Wiener Instituts. Die sind ganz wild darauf, Helmut. Sie haben heute das Ticket geschickt.«
»Aber es schadet doch nichts, wenn wir ihn jetzt schon fotografieren.« Astrid gab nicht auf. »Wenn dein Professor das Ergebnis absegnet, rufst du uns an und wir geben die Bilder an die Presse. Und wenn nicht, dann lassen wir es eben.«
»Na gut.« Henry gab sich geschlagen. »Aber morgen erst, wenn wir mit dem Haar und den Augen fertig | sind. Ich denke, ich werde graublaue nehmen.«
Henrys Anruf kam am Freitagnachmittag.
Am Samstagmorgen erschienen die Fotografien des zirka fünfundfünfzig Jahre alten, zirka 1,80 in großen schlanken Mannes im regionalen und überregionalen Teil der beiden örtlichen Tageszeitungen.
Das KK 11 hatte sich, von Hoffnung getrieben, um acht Uhr vollzählig im Präsidium eingefunden, und das war gut so.