12
Es wurde gerade hell, als Toppe nach Hause kam. Die Türen zu seinem Zimmer und zum Kinderzimmer waren offen, also lag Astrid vermutlich in seinem Bett. Er machte kein Licht und schlich auf Zehenspitzen, aber Astrid hörte ihn trotzdem und setzte sich auf. »Wie ist es gelaufen?«
Toppe zog sich aus und ließ die Kleider einfach auf den Boden fallen. »Schlaf weiter. In zwei Stunden müssen wir schon wieder aufstehen.«
»Sag schon, wie ist es gelaufen?«
»Er denkt nicht dran zu gestehen. Da wäre er ja auch schön blöd«, antwortete Toppe grimmig und zog sich die Decke übers Ohr.
»Helmut?«
»Hm?«
»Ich bin ganz wach.«
»Wie wach?« Er kam wieder unter der Decke hervor.
»Sehr wach. Willst du mal fühlen?«
»Was ist denn das hier für ein Lotterleben?«
Walter Heinrichs stand im Zimmer und lachte.
Mit einem Satz war Toppe aus dem Bett gesprungen und in seine Hosen gefahren. Sein Herz stolperte und ihm war schwindelig.
Astrid schnappte nach Luft und zog sich die Decke bis zum Hals. »Gütiger Himmel! Wie spät ist es?«
»Halb acht. Tut mir Leid, wenn ich euch erschreckt habe«, meinte Heinrichs reumütig. »Ich habe geklopft, aber es hat sich nichts gerührt. Da hab ich halt meinen Schlüssel benutzt. Die Lütte schläft noch. Soll ich schon mal Kaffee kochen?«
Toppe raffte seine restlichen Kleider zusammen. »Danke Walter, mindestens einen Liter.«
Keine halbe Stunde später rief van Appeldorn an. »Gut, dass ich euch noch erwische. In Nierswalde haben letzte Nacht wieder die Vandalen zugeschlagen. Eine Streife ist schon vor Ort und van Gemmern fährt gerade los. Wer von uns soll das denn jetzt übernehmen?«
Es war nicht schwer zu erraten, was van Appeldorn sich vorstellte, und Toppe hatte nicht die geringste Lust auf eine Diskussion. »In Gottes Namen, häng du dich weiter in deine Vernehmung, wenn es dich glücklich macht. Astrid und ich fahren gleich von hier aus ins Dorf.«
»Du hast verpennt.«
»Wieso?«
»Weil du dann immer so besonders gut drauf bist. Bis später.«
Van Gemmern hatte schon mit der Arbeit begonnen und ließ die beiden Streifenbeamten springen.
»Schläft der eigentlich irgendwann mal?« Toppe war immer noch vergrätzt.
»Helmut?«
»Was?«
»Komm mal her.« Astrid umarmte ihn. »Das war schön heute früh.«
Er küsste sie, dann lächelte er. »Ist schon gut. Ich reiß mich zusammen.«
Sie sahen sich die Bescherung an. Man hatte die Baugrube ausgehoben und gestern war eingeschalt worden. Die Täter hatten die gesamte Verschalung wieder herausgerissen.
»Da muss aber jemand über Bärenkräfte verfügen«, stellte Toppe fest.
»Kaum«, antwortete van Gemmern. »Die haben ein Auto benutzt. Sehen Sie die Reifenspuren hier? Vermutlich hatten die ein Seil am Wagen befestigt.« Er fiel auf die Knie und kroch, die Nase knapp über dem Boden, langsam vorwärts. »Ich korrigiere mich: Es war kein Seil, es war eine Kette. Damit haben sie dann den ganzen Rummel rausgerissen.«
»Ein Auto?« Astrid schlüpfte in ihre Jacke. »Wenn in einem Dorf nachts ein Auto herumkurvt, das muss man doch meilenweit hören. Von dem Scheppern dieser Eisenstangen hier mal ganz zu schweigen. Diesmal kann man uns nicht erzählen, man hätte nichts gehört und gesehen.«
Aber man konnte.
Am ersten Nachbarhaus öffnete mal wieder keiner, auch die Hintertür war verschlossen. In einem Gewächshaus trafen sie auf einen polnischen Arbeiter. Er radebrechte etwas von »Herr und Frau auf Markt«.
Im nächsten Haus trafen sie lediglich eine alte Frau an, die nicht nur stocktaub, sondern auch ziemlich verwirrt war.
»Wann kommt Ihr Schwiegersohn denn wieder?«, brüllte Toppe.
»Wiese? Wir haben keine Wiese mehr. Alles unter Glas.«
Auch Nachbar Nummer drei brachte sie nicht weiter. »Ich hab nichts gehört. Wenn Sie den ganzen Tag hart arbeiten würden, dann würden Sie nachts auch schlafen und nicht andere Leute ausspionieren.«
Seine Frau nickte bekräftigend nach dem Motto: Wenn mein Mann nichts hört, höre ich auch nichts.
Als sie wieder draußen waren, ging es mit Astrid durch. »Jeden Einzelnen von denen bestellen wir zur Vernehmung ein und dann wollen wir mal sehen. Irgendeiner geht dabei schon in die Knie, das schwör ich dir.«
Toppe war auch nicht gerade in Hochstimmung, aber er musste doch schmunzeln. »Du hörst dich an wie Norbert.«
»Du hast gut lachen. Du machst das hier ja heute auch zum ersten Mal mit.«
Rechtsanwalt Schlüter war gekommen und redete auf van Gemmern ein. Der ignorierte ihn völlig.
Toppe reichte Schlüter die Hand und stellte sich vor.
»Na endlich! Ich kenne Sie aus der Zeitung. Sie scheinen mir ja kompetent zu sein. Was haben Sie bisher ermittelt?«
»Es tut mir Leid«, antwortete Toppe verbindlich. »Wir sind noch nicht so weit, dass wir mit unseren Ergebnissen an die Öffentlichkeit gehen können.«
Schlüter guckte erst verdutzt, dann lachte er schallend. »Hervorragend formuliert, muss ich mir merken. Hören Sie, ich sehe ein, dass die Polizei nicht die ganze Nacht ein Auge auf meine Baustelle haben kann, deshalb habe ich jetzt einen privaten Wachdienst beauftragt. Ab heute wird die ganze Nacht ein Mann im Bauwagen sitzen. Wir wollen hoffen, dass das im Dorf nicht durchsickert. Vielleicht ertappen wir die Burschen dann ja auf frischer Tat.«
»Eine gute Lösung.« Toppe ließ seinen Blick über den Dorfplatz schweifen. »In dem Hotel dort«, fragte er, »gibt es da einen Nachtportier?«
»Einen Nachtportier? Ach so, Sie denken, dass der vielleicht was beobachtet hat! Ich weiß nicht, kann ich mir kaum vorstellen.«
Astrid und Toppe hörten die Stimmen deutlich, noch bevor sie die Eingangstür geöffnet hatten: »Beweg endlich deinen faulen Arsch! Nachts den starken Mann markieren und dann …«
»Du kannst mich mal! Weißt du, was du für mich bist? He? Soll ich dir mal sagen, was du für mich bist?«
»Die zoffen sich schon wieder«, flüsterte Astrid und zog die Tür auf. »Guten Morgen!«
Von Bahlow schenkte ihr eines seiner Reklamelächeln. »Frau Kommissarin, wie nett!«
Seine Gattin winkte ihr zu wie einer alten Bekannten und verschwand dann im Hinterzimmer.
Einen Nachtportier hatten sie nicht. Wenn die Gäste erst nach 23 Uhr ins Hotel zurückkehren wollten, bekamen sie einen Schlüssel. Und von Bahlows selbst hatten nichts gehört. »Wir haben einen langen Arbeitstag, verstehen Sie, und außerdem schlafen wir nach hinten raus.«
»Wenn wir hier weiterkommen wollen«, meinte Astrid erschöpft, als sie wieder vor der Tür standen, »müssen wir bei dem alten von Bahlow anfangen. Laut Schlüter hat der die Bürgerversammlungen einberufen und nach dem, was der am Freitag so von sich gegeben hat. Aber der Mann scheint mir ein harter Knochen zu sein und ich weiß nicht, ob ich heute noch daran nagen will.«
»Nächste Woche«, entschied Toppe. »Am Montag, wenn van Gemmern uns Näheres sagen kann. Erst mal muss ich morgen die Obduktion hinter mich bringen.«
Dieser Kurde machte ihn fertig mit seinem selbstherrlichen Getue, seinem überheblichen Grinsen, dabei hockte ihm doch die Angst im Nacken, und der arrogante Anwalt, der die ganze Zeit dabeigesessen hatte, brachte ihn erst recht zur Weißglut.
Noch vor einem Jahr wäre Norbert van Appeldorn nach so einem Tag schnurstracks in seine Stammkneipe gegangen und hätte sich betrunken. Aber jetzt gefiel es ihm besser, mit Ulli auf dem Bett zu liegen, sich den Frust von der Seele zu reden und sich trösten zu lassen.
»Wir müssen beide irgendwie masochistisch veranlagt sein oder warum sucht man sich sonst solche Berufe aus?« Sie strich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Ich freu mich richtig auf die neue Stelle.«
Wieder mal klingelte das Telefon, aber sie hörten, dass Anna ranging.
»Ulli, für dich!«, rief sie.
»Für mich?« Für einen Augenblick wurde Ulli ganz steif, aber dann erhob sie sich doch.
Van Appeldorn stand auf und öffnete das Fenster. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Seine Zimmerlinde sah aus, als hätte sie Dünger nötig.
Er konnte hören, dass Ulli sich mit jemandem herumstritt.
Als sie gleich darauf zurückkam, weinte sie. »Dieses Arschloch! Dieses verdammte, gemeine, gewissenlose Arschloch!«
»Dein Vater?« Er zog sie in seine Arme. Sie konnte kaum sprechen. »Erzählt mir was davon, dass meine Mutter schwer auf Turkey ist und dass ich die einzige Rettung bin. Nur tausend Mark und dann würden sie auch nie mehr … Und wenn nicht, dann hätte ich sie auf dem Gewissen.«
Er hielt sie ganz fest. »Und diesmal hast du nein gesagt?«
Sie stemmte die Hände gegen seine Brust. Ihr Haar stand ihr in Büscheln vom Kopf ab, sie sah aus wie ein kleiner Igel. »Und wie ich nein gesagt habe! Das war’s, Norbert. Das war’s endgültig! Die kriegen mich nicht mehr.«
Er rieb seine Nase durch ihr Haar. »Herzlichen Glückwunsch, Süße.« Dann lachte er leise. »Dass Eltern Probleme mit ihren drogenabhängigen Kindern haben, das hört man ja nicht selten, aber dass Kinder sich um ihre Junkie-Eltern kümmern, das klingt schon ziemlich merkwürdig.«
»Von mir aus können die noch heute Nacht verrecken, alle beide.« Sie schluchzte wieder.
»Komm her. Du hast es richtig gemacht, und das weißt du. Komm, es ist gut.«