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Bei der Frühbesprechung am Montag ging es ihm besser und auch die anderen waren ausgeruht. Jeder hatte sich anscheinend übers Wochenende so seine Gedanken gemacht.
»Ich glaube schon, dass die Vandalen aus dem Dorf kommen«, meinte Astrid. »Warum sonst sollten uns alle vormachen, dass sie nie etwas gesehen oder gehört haben? Die decken sich doch gegenseitig.«
»Wieso seid ihr denn so sicher, dass die Leute lügen?«, fragte Cox.
Toppe zögerte. »Intuition«, antwortete er dann. »Gefühl, Erfahrung. Nenn es, wie du willst.«
Cox rümpfte die Nase, sagte aber nichts.
»Schlüters Wachmann scheint es jedenfalls zu bringen.« Van Appeldorn saß breitbeinig auf dem Stuhl und fühlte sich sichtlich wohl. »Am Wochenende ist auf der Baustelle alles ruhig geblieben. Was hast du jetzt vor, Helmut?«
Toppe schob einen Aktenstapel zur Seite und setzte sich auf die Fensterbank. »Bevor wir uns in größere Aktionen stürzen, würde ich gern mal mit diesem alten von Bahlow sprechen.«
»Ja, der interessiert mich auch.« Astrid drückte ihre Zigarette aus. »Ich fahre mit.«
»Na, na.« Van Appeldorn drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Kommt da etwa wieder die alte Yoko zum Vorschein? Du bleibst schön bei mir, sonst muss ich das der bösen Tante sagen.«
Astrid tippte sich an die Stirn. »Manchmal hab ich richtig Sehnsucht nach deiner schlechten Laune.«
Cox sah so verwirrt aus, dass Toppe sein Lachen lieber herunterschluckte. »Kommen wir zu unserem geheimnisvollen Toten. Ich muss euch da gleich noch was beichten. Bonhoeffers detaillierten Bericht kriegen wir morgen erst, aber wir haben die groben Daten. Hat sich van Gemmern gemeldet?«
»Bei mir«, antwortete Cox. »Ich war noch nicht ganz durch die Tür, da rief er schon an. Hat dieser Mensch eigentlich kein Zuhause? Na, egal, irgendwann werde ich den Betrieb hier hoffentlich durchschauen. Van Gemmern redet zwar immer ein bisschen seltsam, aber ich habe verstanden, dass er mit dem Durchsieben der Erde am Leichenfundort fertig ist und dass er bis auf zwei weitere hellblaue Plastikknöpfe und eine Metallschließe, die von einem Hosenbund stammen könnte, nichts gefunden hat.«
»Schade …« Toppe richtete den Aktenstapel neben sich ordentlich aus.
»Sollen wir dann jetzt an die Vermisstenlisten gehen?«, fragte Cox.
»Moment!« Van Appeldorn schlug die Beine übereinander. »Du wolltest uns noch was beichten, Helmut.«
Toppe brachte es kurz und bündig hinter sich.
»Henry macht was?«, rief van Appeldorn. »Mein Gott, ich bin ja so einiges gewöhnt in dem Laden hier, aber eigentlich hatte sich das doch etwas normalisiert, seitdem Walter weg ist. Dachte ich jedenfalls bis gerade eben noch.«
»Das ist doch hoch interessant, Mensch!« Cox bekam blitzende Augen. »Da gibt es tolle neue Programme. Habe ich erst neulich was drüber gelesen.«
»Tja«, meinte Toppe entschuldigend. »Davon hält Henry nicht so viel. Er zieht die klassische Methode vor.«
Cox kaute eine Weile daran herum. »Wenn ihr meint«, sagte er schließlich resigniert. Er gewöhnte sich langsam daran, dass er der Einzige im Team zu sein schien, der einem Computer wirklich vertraute. »Wir fangen aber trotzdem zunächst mit den Vermisstenlisten an, oder? Wie gehen wir vor? Wenn der Mann seit acht bis zwölf Jahren tot ist, beginnen wir wohl 1987 und arbeiten uns langsam nach vorn. Zuerst Kreis Kleve, dann NRW, dann Bundesrepublik …«
»1987 auch noch die DDR«, warf Astrid ein. »Und vergiss Holland nicht.«
»Prima«, knurrte van Appeldorn. »Belgien vielleicht auch noch. Wo sollen wir denn aufhören? Was ist denn, wenn der Mensch aus, sagen wir mal, Südafrika kam, weil er sich in Nierswalde besondere Fachkenntnisse über die Orchideenzucht holen wollte? Ich liebe meinen Job!«
Von Bahlows Schwiegertochter ließ Toppe und Cox ins Haus.
»Ich wollte Vater sowieso gerade sein zweites Frühstück bringen. Kommen Sie doch gleich mit.«
Auf dem Tablett, das sie in den Händen hielt, standen ein Teller mit zwei Scheiben Rosinenstuten, dick mit Butter bestrichen, ein Becher Milchkaffee und ein Glas Schnaps.
Durch einen verglasten Gang führte sie die Beamten in ein kleines Nebengebäude. »Vater, du hast Besuch«, rief sie, noch bevor sie die Zimmertür öffnete. »Bitte sehr!« Sie ließ den beiden Polizisten den Vortritt. »Die Kriminalpolizei, Vater.«
Ein brauner Jagdhund kam bellend auf sie zugeschossen. Peter Cox sprang zurück, stolperte über seine eigenen Füße und konnte sich gerade noch an der Türklinke festhalten.
Ein scharfer Pfiff ertönte. »Freya! Platz!« Der Hund gehorchte sofort.
Von Bahlow saß in einem wuchtigen Sessel, neben sich einen runden Tisch mit einer dicken Brokatdecke. Das ganze Zimmer war altdeutsch eingerichtet. Ein großer eichener Schrank, in dem sich ledergebundene Bücher aneinander reihten, eine schwere, dunkelgrüne Polstergarnitur, über dem Sofa ein goldgerahmtes Ölgemälde: eine Bauernfamilie beim Essen, der Vater verteilte das Brot.
Toppe entdeckte ein Portrait von Bismarck neben der Pendeluhr und mehrere Jagdtrophäen: ein ausgestopfter Dachs, zwei Rehschädel und ein Hirschgeweih.
Es roch durchdringend nach Möbelpolitur.
Der alte Mann blickte ihnen argwöhnisch entgegen. Seine Augen waren von einem sehr hellen Blau, sein Gesicht kantig und streng. Am linken Nasenflügel hatte er eine braune, etwa kirschgroße Geschwulst. Er war groß und grobknochig und saß dort mit kerzengerade aufgerichtetem Rücken. Toppe sah die knotigen Hände auf den Sessellehnen. Gicht oder Rheuma, dachte er. Und er hat Schmerzen.
»Guten Morgen, Herr von Bahlow«, begann er, aber er war noch nicht an der Reihe.
»Antonia!« Der Ton war so messerscharf wie eben, als er dem Hund den Befehl erteilt hatte.
Die Schwiegertochter eilte zu ihm, breitete eine weiße Serviette über der Brokatdecke aus und stellte Teller, Becher und Schnapsglas auf den Tisch. »Geht es dir gut, Vater? Soll ich dir noch ein Kissen für den Rücken holen?«
Der Alte antwortete mit einem harten Abwehrlaut. »Lass uns allein!«
Er wartete, bis sie das Zimmer verlassen und die Tür geschlossen hatte.
»Was wollen Sie?«
»Dürfen wir Platz nehmen?«, fragte Cox und hatte sich schon auf dem Sofa niedergelassen.
»So lange wird es nicht dauern.«
»Ich fürchte, das entscheiden wir«, sagte Toppe so ruhig wie möglich und setzte sich von Bahlow gegenüber in einen Sessel. »Sind Sie verantwortlich für den Vandalismus auf der Baustelle?«
Peter Cox sah Toppe entgeistert an, von Bahlow lachte trocken auf. »Mir fehlt die Geduld für billige Scherze. Ich frage Sie noch einmal: Was wollen Sie?«
»Hat unsere Frage das nicht deutlich gemacht?«, erwiderte Cox.
Toppe nahm seinen Notizblock aus der Innentasche seiner Jacke und blätterte ein paar Seiten hin und her. »Sie sind verantwortlich für die Bürgerproteste, Sie haben die Versammlungen einberufen.«
»Einberufen!«, fiel von Bahlow ihm ins Wort. »Wir sind eine fest gefügte Gemeinschaft, da muss man nichts einberufen. Und um auf Ihre unglaubliche Unterstellung zurückzukommen: Wir alle lehnen Gewalt ab.«
Toppe sah ihn kühl an. »Es gibt ausreichend Zeugen dafür, dass Sie auf der letzten Versammlung gesagt haben, Sie würden Ihr Dorf verteidigen. Erklären Sie uns bitte, in welcher Art und Weise.«
Wieder unterbrach ihn von Bahlow. »Ich muss Ihnen gar nichts erklären! Ich bin Christ, ich bin Protestant. Ich lebe meinen Glauben. Und wenn ich mich für einen Gedanken oder für einen Satz rechtfertigen muss, dann mache ich das mit meinem Gott ab und nicht mit der Polizei.«
»Hoffentlich bleibt das auch so«, meinte Cox. »So etwas kann sich manchmal ganz schnell ändern.«
»Ich wüsste nicht, warum. Ich habe keine Straftat begangen und ich weiß von keiner Straftat, um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.«
»Vielleicht können Sie uns in anderer Hinsicht weiterhelfen«, sagte Toppe. »Wie alt sind Sie?«
»Zweiundachtzig.«
»Sie sind verwitwet?«
»Seit fünfzehn Jahren.«
»Die Gärtnerei hier, leiten Sie die noch?«
»Mein Sohn.«
»Ein schöner Betrieb.«
»Die größte und lukrativste Orchideen- und Anthurienzucht im Kreis.«
»Wie viele Kinder haben Sie?«
»Drei Söhne.«
»Leben die alle in Nierswalde?«
»Alle! Mein Ältester hat den Betrieb übernommen, der mittlere ist Besitzer der örtlichen Tankstelle und meinem Jüngsten gehört das Hotel. Und jetzt erklären Sie mir bitte endlich, warum Sie mich mit diesen Fragen belästigen?«
»Sie wohnen von Anfang an in Nierswalde?«
»Ich habe das Dorf 1949 mitbegründet! Ohne mich und meine Generation, ohne unseren Fleiß, unsere Arbeitskraft und unsere grenzenlose Zuversicht gäbe es die Reichswaldsiedlung nicht.«
»Sie wissen, dass wir einen Toten gefunden haben.«
Von Bahlow grunzte und deutete auf den Zeitungsständer vor der Heizung. »Über die Geschichte ist ja genug geschmiert worden.«
»Der Mann wurde vor ungefähr acht bis zehn Jahren ermordet und hier im Dorf verscharrt.«
»Sie brauchen gar nicht erst zu fragen. Ich habe mir selbst schon meine Gedanken gemacht. Schließlich ist dies mein Dorf und ich verabscheue es, dass unser Name so in den Dreck gezogen wird. Ich weiß nicht, wer der Mann ist.«
»Können Sie uns sagen, wann das Spielhaus gebaut wurde?«
»Spielhaus? Was soll das sein?«
»Das kleine Haus neben dem Spielplatz, unter dem der Tote gefunden wurde.«
»Da müssen Sie andere fragen. In meinem Alter wird man vergesslich.«
»Wer hat es gebaut?«
»Eltern, Kinder, die Gemeinde. Wir haben unser Dorf mit unseren eigenen Händen gestaltet und wir tun es noch heute. Für Gottes Lohn, und mehr braucht hier auch keiner.«
»Ich habe gedacht, Menschen wie den gäb’s schon lange nicht mehr.« Peter Cox wühlte in seinen Manteltaschen. Sie standen wieder vor dem Haus.
»Schön wär’s«, sagte Toppe. »Ich fürchte sogar, solche sterben nie aus. Suchst du was?«
»Ich glaube, ich habe meine Zigaretten im Büro vergessen.«
Toppe grinste. »Darfst du denn schon wieder eine rauchen?«
»Jeder hat so seine Marotten«, entgegnete Cox milde.
»Ich hab mich nicht beklagt.«
»Ich beklage mich auch nicht. Hör mal, Henrys Rekonstruktion geht mir nicht aus dem Kopf. Wann arbeitet er denn daran? Abends? Wenn’s dir nichts ausmacht, würde ich mir das nach Feierabend gern mal anschauen. Oder hätte er was dagegen?«
»Henry? Bestimmt nicht. Der freut sich.«
»Ich kenne ihn kaum.«
»Keine Sorge.« Toppe war erleichtert und das sagte er auch. Er wäre sonst selbst wohl oder übel abends in die Pathologie gefahren, weil sein Gewissen schlug. Schließlich tat Henry ihm einen persönlichen Gefallen.
»Das übernehme ich gern«, meinte Cox. »Erstens finde ich die Sache hoch interessant und zweitens habe ich keine Familie, die auf mich wartet.« Er nahm seinen Hut ab, drehte ihn hin und her, bürstete einmal mit dem Mantelärmel über die Krempe und setzte ihn wieder auf. »Was jetzt?«
»Wir müssen herausfinden, wann das Spielhaus gebaut worden ist. Lass uns den Pastor besuchen. Der war bis jetzt immer hilfsbereit.«
»Wenn ich mir die Berichte angucke, scheint er der Einzige zu sein.«
Der Pastor war weichstimmig und beflissen wie immer. Er konnte Toppes Frage aus dem Stegreif nicht beantworten – schließlich war das, wie gesagt, alles vor seiner Zeit gewesen –, aber er nahm die beiden Kripoleute mit in den Raum hinter der Sakristei der Kirche, in der sich anscheinend das Dorfarchiv befand. Eine Ordnung unter den zahlreichen Büchern, Bänden und Aktendeckeln war auf den ersten Blick nicht auszumachen, aber der Pastor fand sich zurecht. »Hier habe ich zumindest schon einmal das Datum des Richtfestes: Quasimodogeniti 1989, der erste Sonntag nach Ostern. Wer allerdings am Bau beteiligt war, das ist nicht festgehalten. Wie ich die Menschen in unserem Dorf kenne, werden es viele gewesen sein. Wenn es der Aufklärung eines Mordes dient und ich Ihnen helfen kann, werde ich mich aber gern für Sie umhören.«
Das Buch über die Reichswaldsiedlungen war vierzig Jahre alt und nicht besonders dick, aber wenn man zwischen den Zeilen der Vertriebenenschicksale zu lesen verstand und die ausführlichen Aufstellungen der Siedler im Anhang dazunahm, bekam man ein erstaunlich lebendiges Bild.
Toppe las bis nach Mitternacht. Irgendwann fing er an, Listen zu machen und verschiedene Dinge zuzuordnen. Das Sortieren dauerte eine Weile und er musste ein paar Dinge im Lexikon nachschlagen, zum Beispiel wie viele Morgen ein Hektar hatte. Wenn man davon ausging, dass die Angaben der Vertriebenen über ihren Grundbesitz in der alten Heimat der Wahrheit entsprachen, hatten sich die meisten in der neuen Heimat nur wenig verschlechtert. Ein paar hatten im Osten gar keinen landwirtschaftlichen Besitz gehabt, sondern in anderen Berufen gearbeitet, in Nierswalde aber dann doch kleinere Gärtnereien aufgebaut. Im Großen und Ganzen hatten sich offenbar alle darum bemüht, in etwa derselben Größenordnung, die sie gewohnt waren, neu zu beginnen. Es gab nur einen Ausreißer: Waldemar von Bahlow. Nach eigenen Angaben war er Besitzer eines 380 ha großen Rittergutes mit entsprechender Landwirtschaft in Brandenburg gewesen. In Nierswalde hatte er sich nicht etwa um einen Bauernhof, sondern nur um eine Intensivstelle von zirka 3,8 ha beworben. Warum? Bescheidenheit passte überhaupt nicht zu dem Mann, den Toppe kennen gelernt hatte.
Heute Morgen hatte von Bahlow stolz darauf hingewiesen, dass seine Familie die lukrativste Gärtnerei im Kreis hatte. Weil sie Orchideen züchtete? Aber das taten doch andere in Nierswalde auch. Wenn man dem Büchlein glauben konnte, hatten die meisten Orchideenund Anthuriengärtner 1950 mit deutlich mehr Grund und Boden angefangen. Verfügte von Bahlow einfach über einen gesünderen Geschäftssinn? Hatte er mehr Glück gehabt als die anderen, den besseren Boden, keine Schädlinge, keine schwachen Jahre, keine Missernten wie viele andere, von denen er hier las? Aber auch von Bahlows Söhne schienen im warmen Nest zu sitzen, eine Tankstelle, ein Hotel. Dafür brauchte man Startkapital. Schlüter hatte Astrid erzählt, das halbe Dorf gehöre von Bahlow. Wie hatte der so viel Geld machen können? Und warum hatte ausgerechnet dieser Mann sich mit einem so kleinen Betrieb zufrieden gegeben, nicht einmal mehr gefordert? Da passte so einiges nicht recht zusammen.