17
Zwischen Viertel nach acht und halb zehn gingen neun Anrufe ein. Der zehnte veranlasste sie dann, die Zentrale zu bitten, niemanden mehr durchzustellen, sondern nur noch die Telefonnummern zu notieren.
Die allererste Anruferin war eine Frau aus Nierswalde gewesen, Adelheid Tessel. Sie wollte auf dem Zeitungsbild einen alten Freund, Jakob Opitz, wiedererkannt haben, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Denselben Namen, Jakob Opitz, nannte auch der zehnte Anrufer. Es war Wim Lowenstijn, ein Privatdetektiv aus Elten, der dem KK 11 so manches Mal auf seine eigenwillige Weise geholfen hatte.
Toppe überlief ein Schauer. »Jakob Opitz? Könntest du herkommen, Wim, möglichst gleich? Ja? Prima!«
»Zweimal Opitz!« Cox strahlte. »Wer hätte gedacht, dass wir ein solches Schwein haben?«
»Freu dich nicht zu früh«, meinte van Appeldorn. »Noch wissen wir gar nichts. Und wenn es sich wirklich um diesen Mann handelt, bedeutet das nur, dass wir mal wieder ein Wochenende durchklotzen müssen.«
»Ach was!« Toppe hatte sich Gelassenheit verordnet. »Der Mörder, falls es ihn überhaupt noch gibt, läuft seit zehn Jahren frei herum. Da machen zwei, drei Tage keinen Unterschied mehr. Fahrt ihr jetzt erst mal zu dieser Frau Tessel. Peter und ich warten hier auf Wim. Gegen halb eins spätestens setzen wir uns wieder zusammen und dann sehen wir weiter.«.
Wim Lowenstijn legte Toppe ein Familienstammbuch und das Foto eines älteren Mannes auf den Tisch. Die Ähnlichkeit mit Henrys Rekonstruktion war so groß, dass Toppe ein wenig unheimlich wurde.
»Das ist euer Mann, oder?«, fragte Lowenstijn. »Im April ist in Nierswalde eine gewisse Helene Opitz verstorben. Als einzigen Erben hinterließ sie ihren Ehemann Jakob, der aber leider nicht aufzufinden war. Deshalb hat mich das Nachlassgericht letzte Woche mit der Suche nach diesem Menschen beauftragt.«
»Setz dich«, murmelte Toppe. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Ich bediene mich schon selbst.«
Toppe nickte abwesend und blätterte das Stammbuch auf: Helene Opitz, geborene Domröse, 1940 in Ostpreußen geboren, seit 1960 verheiratet, Hausfrau, kirchliche Trauung in Nierswalde. Jakob Opitz, geboren 1935 in Köslin, Pommern, Vollwaise, Pädagoge. Cox beugte sich über Toppes Schulter und las mit.
Lowenstijn hatte sich aus der Thermoskanne Kaffee eingegossen und setzte sich. »Ich kann euch erzählen, was ich bis jetzt herausbekommen habe. Also, viel zu erben gibt es da eigentlich gar nicht. Helene Opitz’ Vater, Otto Domröse, betrieb seit 1951 im Dorf ein Lebensmittelgeschäft, das seine Tochter später übernommen hat. Jakob Opitz hat da eingeheiratet. Er war der Leiter des Jugendheims im Dorf und ist manchmal in der Kirche als Prediger eingesprungen. Als Domröse starb, hinterließ er Helene das Ladenlokal und das Wohnhaus und ein paar angrenzende Grundstücke. Die hat sie 1990 verkauft und gleichzeitig den Laden geschlossen. Anfang letzten Jahres hat sie auch ihr Haus verkauft, und zwar an denselben Mann, der auch ihre Grundstücke übernommen hat: Waldemar von Bahlow, wohnhaft in Nierswalde. Dessen Sohn Richard hat dann die Kneipe, die er nebenan betrieb, aufgegeben und stattdessen in Domröses Haus ein Restaurant eröffnet. Frau Opitz wurde allerdings ein lebenslanges Wohnrecht in einem Teil des Hauses eingeräumt. Die Wohnung gibt es aber inzwischen nicht mehr, von Bahlows haben gleich nach dem Tod der Frau das Hotel angebaut und deren Räume mit einbezogen.«
Toppe sah ins Stammbuch. »Sie war erst neunundfünfzig. Woran ist sie gestorben?«
»Keine Ahnung! Wie gesagt, viel zu erben gibt es nicht mehr. Beim Gericht liegt ein Sparbuch über 9.000 Mark, ansonsten sind da ein paar Möbel, Hausrat, Bücher und das Übliche an Fotos, Briefen und so weiter. Steht alles in einem Schuppen hinter dem Restaurant.«
Er trank wieder von seinem Kaffee, Toppe wartete.
»Das Gericht konnte Opitz nicht finden. Ich habe mich zunächst einmal im Dorf umgehört, aber die Leute geben sich seltsam zugeknöpft. Seit Jahren hat keiner diesen Mann mehr gesehen, aber das scheint niemanden zu erstaunen. Der hätte schon lange davon gesprochen, aus Nierswalde wegzuziehen, hat mir eine Frau erzählt. Aber wann er nun verschwunden ist, weiß angeblich keiner so genau. Der Typ vom Hotel, dieser von Bahlow, redete reichlich herablassend. Er meinte, Opitz sei ein Säufer gewesen. Ich wäre immer noch nicht viel weiter, wenn ich nicht gestern angefangen hätte, in diesem Schuppen nach Hinweisen zu suchen. Da kam nämlich, betont unauffällig, eine Nachbarin vorbei, Adelheid Tessel, so um die sechzig und eine Nervensäge allererster Güte, boshaft und geschwätzig. Ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, wie viel man dieser Dame glauben darf. Ihrer Aussage nach ist Jakob Opitz am Ostersonntag 1989 verschwunden. Er hätte schon monatelang davon gesprochen wegzugehen. Und das sei kein Wunder, seine Frau hätte ihn behandelt wie den letzten Dreck. Er war wohl Frührentner. Tja nun, ich glaube, das ist schon alles, was ich weiß. Ihr seid dran! Unter dem Foto heute Morgen stand ganz klein ›Rekonstruktion‹, ich hätt’s fast übersehen. Jetzt erzählt schon, wer hat diese Meisterleistung vollbracht? Arend?«
»Henry«, antwortete Toppe, wurde aber rüde unterbrochen, weil Charlotte Meinhard hereinkam.
»Was geht hier eigentlich vor?« Ihre Stimme war ungewöhnlich hoch. »Seit zwei Stunden belästigen mich die Presse und das Fernsehen, und zwar unter meiner Privatnummer. Was soll das bedeuten: ›Rekonstruktion‹?«
Toppe betrachtete sie und schüttelte leise den Kopf. »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Aber die Meinhard hörte ihn gar nicht. »Wieso bin ich nicht informiert? Ich erlebe das als unerhörte Eigenmächtigkeit, Herr Toppe. So etwas trage ich nicht mit.«
»Sind Sie jetzt fertig?«, entgegnete Toppe beherrscht.
Peter Cox warf ihm einen wohlwollenden Blick zu.
»Wir sollten mal etwas Grundsätzliches klären, Frau Meinhard«, fuhr Toppe fort. »Die Mittel, die ich bei meiner Arbeit einsetze, bestimme immer noch ich. Sie haben meine Ergebnisse zu bewerten und mit denen können Sie bisher doch wohl mehr als zufrieden sein.«
»Ich fürchte, da täuschen Sie sich. Sie hätten mich auf jeden Fall in Kenntnis setzen müssen. Und jetzt würde ich gern wissen, was es mit dieser Rekonstruktion auf sich hat. Hat da jemand etwas mit der Leiche angestellt?«
Lowenstijn lachte leise und sie fuhr zu ihm herum. »Was wollen Sie überhaupt hier?«
»Nun«, Lowenstijn lehnte sich zurück und schlug langsam die Beine übereinander, »ich denke doch, ich helfe.«
»Helfen? Sie? Vielen Dank, Herr Lowenstijn, aber darauf verzichten wir gern. Ihre letzten beiden Hilfsaktionen sind mir in lebhafter Erinnerung.«
Wieder lachte Lowenstijn nur.
»Verzeihung«, meinte Toppe, »aber ich verzichte keineswegs auf Wims Unterstützung, im Gegenteil, ich schätze sie, damals wie heute. Und jetzt setzen Sie sich bitte, Frau Meinhard, damit dieses Theater ein Ende hat und wir Ihnen endlich Bericht erstatten können.«
Charlotte Meinhard zog sich tatsächlich einen Stuhl heran. »Bitte, ich höre.«
Fünf Minuten später verließ sie ohne irgendeinen Kommentar das Büro.
»Interessante Begegnung«, murmelte Cox.
Lowenstijn zog die Augenbrauen hoch. »Was ist denn mit der los? Wo ist denn die einfühlsame, sanfte, eiserne Lady geblieben?«
»Es ist schon das zweite Mal, dass sie durchtickt«, antwortete Toppe. »So langsam wird’s unheimlich.«
»Ein schlechtes Zeichen«, meinte Lowenstijn. »Vielleicht sollte sie sich lieber versetzen lassen …«
Er grinste Toppe an und der grinste zurück.
»Was ist denn mit der Chefin los?«, fragte auch Astrid, als sie hereinkam.
»Ganz die böse Tante«, meinte van Appeldorn. »Kommt mit rotem Ballon hier rausgestürmt und grüßt nicht mal.«
»Ich glaube, die hat uns gar nicht gesehen«, sagte Astrid und ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen. »Mir schwirrt der Kopf. Diese Tessel, das ist vielleicht eine Hexe!«
Aber da kam die Meinhard noch einmal herein. »Wer trägt eigentlich die Kosten für diesen Rekonstruktionszirkus?«
»Ich«, sagte Lowenstijn, bevor Toppe etwas erklären konnte. »Ich werde Henry mein Gerichtshonorar überlassen. Schließlich hat er für die Identifizierung gesorgt.« Er drehte sich zu Toppe um. »Findest du nicht, wir sollten ihn gleich anrufen? Der muss doch wohl als Erster erfahren, wie großartig er gearbeitet hat.«
»Du hast Recht. Aber Wim, du musst wirklich nicht auf dein Honorar verzichten. Henry …«
»Stopp, stopp, stopp!«, rief die Chefin. »Ersparen Sie mir Einzelheiten. Wie Sie die Angelegenheit regeln, Herr Toppe, ist mir gleich. Hauptsache, Sie übernehmen die Verantwortung.« Damit war sie wieder verschwunden.
Einen Augenblick blieb es still, dann meldete sich van Appeldorn: »Sag mal, Helmut, es ist nicht zufällig so, dass du die werte Dame ein bisschen eingestielt hast?«
»Kaum.«
»Von wegen!« Peter Cox kicherte. »Ich kann euch sagen!«
»Da bin ich aber beruhigt.« Van Appeldorn freute sich wirklich. »Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr raus aus deinem schwarzen Loch.«
»Unverhofft kommt oft, würde Ackermann sagen«, meinte Toppe und berichtete dann von Lowenstijns Ergebnissen.
Schließlich schlug Astrid ihren Notizblock auf. »Das deckt sich eigentlich alles mit dem, was diese Bissgurn gesagt hat.«
»Diese was?«, wunderte sich Cox.
»Das zänkische alte Weib. Ich versuche mal, die Fakten zusammenzubringen. Opitz ist 1951 mit seinen Eltern nach Nierswalde gekommen.«
»Mit seinen Eltern?«, rief Toppe. »Das kann nicht sein. In seinem Stammbuch steht, dass er Vollwaise war.«
»Genau so hat sie es aber gesagt«, beharrte Astrid. »1951, im selben Jahr wie die Tessel. Die war übrigens die Tochter des Kohlenhändlers, der dort angesiedelt wurde. Sie hat nie geheiratet, und wenn mich nicht alles täuscht, war sie selbst hinter Opitz her. Aber das nur am Rande. Opitz hat das Gymnasium besucht und ist dann zum Studium nach Bonn gegangen: Theologie und Pädagogik. Nach seinem Examen ist er ins Dorf zurückgekehrt und hat ein Jugendheim eröffnet. Er wäre immer unglaublich gut mit den Jugendlichen zurechtgekommen. 1960 hat Opitz geheiratet, Helene Domröse, laut Tessel eine gute Partie, aber kalt wie eine Hundeschnauze und obendrein ein Flittchen, wie es im Buche steht. Das war jetzt Originalton. Dann kam nicht mehr viel, oder?«
»Nein«, bestätigte van Appeldorn. »Sie hat über alle möglichen Leute im Dorf hergezogen und irgendwann angefangen zu heulen. Zwischen den Zeilen konnte man raushören, dass Opitz sich wohl im Dorf unbeliebt gemacht hatte. Sie stammelte dauernd was von Kesseltreiben. Wenn die sich wieder beruhigt hat, müssen wir sie uns auf jeden Fall wieder vornehmen, aber ich würde mich nicht beklagen, wenn das ein anderer übernimmt.«
Ackermann fiel von der Leiter.
Da lag er, strampelte mit den Beinen wie ein gestrandeter Maikäfer und rang nach Luft. Schließlich gelang es ihm hochzukommen, sich den nassen Gips aus den Augen zu wischen und das Bild auf dem Fernseher deutlich zu erkennen. Es war tatsächlich die Meinhard! Und was die da von sich gab, das war doch wohl nicht wahr! Ackermann rannte in den Flur und schnappte sich die Autoschlüssel. So nicht, Madame! Nicht, so lange Jupp Ackermann noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war!
Peter Cox sperrte Mund und Augen auf, als Ackermann aufgeregt ins Büro gehüpft kam. Er trug eine alte braune Cordhose voller Farbflecken, ein Netzunterhemd, eine verfilzte gelbe Pudelmütze und rosa Badeschuhe, die mit roten Plastikblumen besetzt waren. Im flusigen Bart baumelten Gipsklümpchen, die dicke Brille war mit einem weißlichen Film und kleinen Sprenkeln überzogen. Astrid und Toppe nahmen den Aufzug gelassen hin, sie hatten Ackermann schon abenteuerlicher erlebt, nur van Appeldorn konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Na, Jupp, mal wieder die Ausgehuniform aus dem Schrank geholt?«
Aber Ackermann ließ sich nicht verunsichern. »Meine Manchesterbux? Die kennste doch schon. Wat ich sagen wollt: Ich weiß, dat ich stör, aber jetz’ geht et echt nich’ mehr anders.«
»Ist dir nicht kalt?«, fragte Astrid.
»Jetz’, wo du et sachst«, antwortete er und rieb sich die nackten Arme. »Macht nix, wat einen nich’ umbringt, macht einen bloß härter, sach ich immer. Obwohl, ’ne Grippe kam mir im Moment au’ nich’ so zupass. Aber jetz’ hört doch ma’. Die ganze letzte Woche hab ich mir gesacht, Ackermann, diesma’ hälts’ du dich geschlossen. Müsst er doch zugeben, oder? Diesma’ hab ich mich in eure Klamotten nich’ eingemischt. Wat nich’ leicht war, könnt er mir glauben. Wo ich doch alles mitgekriegt hab ausse Zeitung un’ vonne Kollegen sowieso. Aber wat da jetz’ abgeht, da kann ich meine Klappe wirklich nich’ mehr halten. Ich mein, normalerweise bin ich ja ’n Schloof, dat weiß jeder. Ich sach immer: Leben un’ leben lassen.«
»Was ist ein Schloof?« Cox hatte seine Sprache wieder gefunden.
»Ein Schlööfken, kennste dat nich’? Vor Gutheit nix wert!«
Van Appeldorn stöhnte. »Komm endlich zur Sache!«
Ackermann blinzelte schuldbewusst. »Ja, wat ich sagen wollt, also, ich steh da grad bei mir im Wohnzimmer auffe Leiter un’ bin am Verputzen. Habt er doch mitgekriegt, oder, dat ich mir Zwangsurlaub genommen hab? Alle elektrische Leitungen frott, im ganzen Haus, musste sofort wat gemacht werden. Waren alles bloß zweipolige Stoffkabel, aber wer guckt schon nach so wat, wenn einem so ’n Schnäppken quasi innen Schoß fällt? Damals. Un’ jetz’ steht man damit zu gucken! Gut, dat man ’n Bruder hat, der Elektriker is’. Kommt günstiger, wenn er versteht, wat ich mein.« Er kniff Toppe ein Auge.
»Teufel noch mal!«, brauste van Appeldorn auf.
»Is’ ja schon gut, Norbert. Immer noch sofort am Halsen? Dabei hatt’ ich gehört, du wärs’ so nett inner letzten Zeit. Also, wie gesacht, ich steh da auf meine Leiter un’ bin am Schlitzeputzen. Un’ damit et nich’ so langweilig is’, hab ich die Kiste am laufen. Ir’ndso ’n Magazin, ›Et brennt‹ oder ›Explodiert‹ oder so wat. Un’ jetz’ ratet ma’, wer da auffe Mattscheibe ganz elegant vor sich hintextet! Na? Nix?«
Van Appeldorn schlug beide Hände vors Gesicht.
»Die Chefin! In ihr schönstes Kostümchen. Hatte sich sogar die doppelreihige umgetan. Un’ wisst er, wat die gesacht hat? Nee? Dann passt ma’ auf, ich hab et mir nämlich genau gemerkt.« Ackermann spitzte die Lippen und flötete: »Nun, ungewöhnliche Fälle verlangen ungewöhnliche Maßnahmen. Man benötigt natürlich die entsprechende Erfahrung, um ein gut funktionierendes Ermittlungsteam zusammenzustellen. Aber wenn das einmal geschehen ist, befruchten sich die Mitarbeiter gegenseitig. Ganz besonders hervorheben möchte ich da meinen Hauptkommissar, ein wirklich brillanter Geist. Ich lege sehr viel Wert darauf, dass meine Mitarbeiter auch einmal querdenken. Wichtig ist dabei selbstverständlich, dass ich als Dienststellenleiterin einen kühlen Kopf bewahre.«
Ackermann machte eine Pause, die anderen sahen sich ungläubig an.
»Ich lüg nich’, echt nich’! Dat war wörtlich, oder wenigstens fast.« Dann kicherte er. »Ich würd ja gern ma’ zugucken, wie ihr euch gegenseitig befruchtet. Ba, wat ’n Augiasstall! Oder war dat wat anderes? Weiß ich nich’ mehr.«
Schon die ganze Zeit war sein Blick immer wieder zu der Philip-Morris-Schachtel gewandert, die auf Cox’ Schreibtisch lag. Nun hielt er es nicht mehr aus. »Affengeile Marke! Ich nehm mir ma’ eine, ja?« Natürlich wartete er keine Antwort ab, sondern puhlte eine Zigarette aus dem Päckchen und zündete sie an. »Lecker!«
»Warum genau sind Sie denn jetzt gekommen?«, fragte Toppe hastig.
»Mensch, dat liecht doch wohl auffe Hand, Chef. Der alte Drachen kann sich doch nich’ einfach dat ganze Lob an ihre teuren, blauen Revers pappen, wenn dat ei’ntlich Ihnen gehört. Ich kann so wat nich’ ab. Da muss man wat unternehmen, find ich.«
Toppe schmunzelte belustigt. »Und was?«
»Weiß ich nich’, aber mir fällt schon noch wat ein. Wat is’ dat da eigentlich, wollt ich schon die ganze Zeit fragen.« Ackermann nahm das kleine, silbern eingewickelte Päckchen in die Hand. »Seid ihr etwa auf eure alten Tage noch unter die Kiffer gegangen oder wie hab ich dat? Kann aber wohl nich’ sein, weil Kiffen macht ja bekanntlich blöd. Toblerone, boa! Ich glaub et nich!« Er stopfte sich die beiden Schokoladenstücke in den Mund. »Mann, die hab ich schon hundert Jahre nich’ mehr gegessen.«
Dann endlich bemerkte er die angespannte Stille. Er schluckte. »Äh, hab ich ma’ wieder wat falsch gemacht?«
»Schon in Ordnung«, sagte Cox, sammelte die Silberpapierschnipsel sorgfältig vom Boden auf und trug sie zum Papierkorb.
»Jetz’ hört doch ma’! Ich weiß doch, dat et heißt: Fettnapf, wo bist du? Ackermann kommt! Aber diesma’ seh ich et echt nich.«
»Das war Peters Schokolade«, sagte Astrid. »Und das sind auch seine Zigaretten.«
»Ja un’? Danke, Peter, sach ich da brav. Wat is’ denn, gibt der nich’ gern wat ab?«
Cox guckte verschlossen. »Wir müssen das nicht weiter vertiefen, oder?«
»Warum eigentlich nicht?«, meinte van Appeldorn. »Ich esse auch gern Schokolade.«
Toppe wälzte sich unruhig hin und her – schon Viertel nach drei. Astrid schlief drüben in ihrem Zimmer. Sie war schon um neun Uhr ins Bett gegangen. Katharina zahnte immer noch und letzte Nacht hatte Astrid kaum ein Auge zugemacht. Warum hatte sie ihn eigentlich nicht geweckt?
Er schwitzte und sein Herz legte mal wieder ein paar Extraschläge ein. Wütend klappte er die Decke zurück. Es hatte keinen Sinn, weiter Schäfchen zu zählen. Morgen war Sonntag, da würde er den Schlaf schon irgendwann nachholen können.
Er setzte sich in den Sessel, schaltete die Stehlampe ein: und schlug den Kulturteil der Wochenzeitung auf, aber er konnte sich nicht konzentrieren.
Gestern Abend hatte er sich von der Zentrale die Namen und Adressen aller Anrufer geben lassen, die sich im Laufe des Tages auf den Zeitungsbericht hin gemeldet hatten.
Aus Nierswalde hatte, bis auf Adelheid Tessel, keiner angerufen. Warum nicht? Opitz hatte achtunddreißig Jahre im Dorf gelebt, als Prediger und als Leiter des Jugendheims war er sogar ein besonderes Gemeindemitglied gewesen. Seltsam – das ganze Dorf kam Toppe seltsam vor. Aber was wusste er schon von Vertriebenen und neuen Heimaten? Wald – Scholle – Heimat, Asyl?
Der alte von Bahlow, was genau verteidigte der eigentlich so vehement?
Und noch einmal: Wie hatte er nur mit seiner Gärtnerei so viel Geld gemacht, dass er Grundstücke und Häuser hatte kaufen können, ein Restaurant und ein Hotel eröffnen?
Auch Norbert van Appeldorn schlief nicht viel in dieser Macht, aber das hatte romantischere Gründe.
Wohlig erschöpft lag er auf dem Bett, hielt Ulli im Arm und streichelte träge ihren nackten Rücken. »Lass uns heiraten.«
Sie lachte. »So was nennt man Bigamie. Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Kommissar.«
»Ich meine es ernst. Lass uns heiraten, wenn meine Scheidung durch ist. Am liebsten sofort am nächsten Tag.«
Sie befreite sich aus der Umarmung und stützte sich auf den Ellbogen. »Aber warum denn?«
»Weil ich dich liebe und weil ich nicht mehr ohne dich sein will.«
»Aber dazu müssen wir doch nicht heiraten. Du wirst mich auch so nicht los.«
Er setzte sich auf. »Hast du Angst?«
Sie starrte an die Decke. »Ich weiß nicht. Vielleicht … ich glaub schon. Wenn etwas zu gut läuft für mich, dann wird mir immer mulmig.«
Van Appeldorn sagte nichts. Wenn man Ullis Geschichte kannte, war das nicht weiter verwunderlich.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wirklich zu jemandem zu gehören, ein richtiges Zuhause zu haben«, überlegte sie weiter.
»Wolltest du denn nie heiraten?«
»Als ich noch klein war schon, klar, wie jedes Mädchen.« Er konnte hören, dass sie lächelte. »Ich wollte ein weißes Prinzessinnenkleid mit zehn Meter langer Schleppe und rote Rosen als Brautstrauß und lauter süße Blumenkinder, eine Kutsche natürlich und einen blond gelockten Prinzen, der vor mir auf die Knie fällt.«
»Da liegt also der Hase im Pfeffer«, knurrte van Appeldorn. »Ich habe die falsche Haarfarbe.«
Ulli biss ihm sanft in die Schulter. »Und außerdem hast du weder ein Schloss noch ein Königreich, nicht mal ein halbes. Aber ich glaube, deine anderen Qualitäten wiegen diese kleinen Schönheitsfehler auf.«
»Also, ja?«
»Was?«
»Märchenhochzeit mit Kutsche und Kirche und Schleppe und Rosen und dem ganzen Klimbim.«
»Van Appeldorn, du spinnst!«
»Ich weiß, aber es fühlt sich gut an.«