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Cox wollte erst abends nach Berlin fliegen, aber als er am Montag früh zum Dienst erschien, war er schon so aufgedreht, dass er innerhalb von zehn Minuten alle anderen verrückt gemacht hatte.

Als Erstes erläuterte er ihnen detailliert die perfekte Art des Kofferpackens. Er nannte sie ›Zweikammersystem‹ und spielte mit dem Gedanken, sie patentieren zu lassen.

Dann ratterte er minutenlang die Informationen über Koszalin, Prenzlau und die Uckermark herunter, die er übers Wochenende aus dem Internet gezogen hatte. Als er ihnen danach noch eine ausgedehnte Einführung in das Versenden von E-Mails geben wollte – es wäre die siebte gewesen –, platzte Toppe der Kragen. »Du musst doch bestimmt noch was besorgen, Zigaretten, Toblerone vielleicht.«

»Nein, natürlich nicht«, meinte Cox erstaunt. »Das habe ich längst erledigt. Heute wäre es ja wohl ein bisschen spät dafür. Ich muss eigentlich nur noch meinen Koffer nehmen und ins Auto steigen.«

»Dann tu das doch«, sagte van Appeldorn. »Mach dir ein paar schöne Stunden in Düsseldorf. Geh mit Gott, aber geh endlich!«

»Jetzt schon?«

»Ja, jetzt schon«, bestätigte Toppe. »Du hast heute dienstfrei. Für deine Reisevorbereitungen steht dir ein Tag zu.«

Cox war sichtlich erleichtert. »Dann kann ich ja vielleicht doch noch mal in die Buchhandlung wegen des Hotelführers. Die haben mir da einen aufgeschwatzt, ich glaube, der ist nicht so ganz das Richtige für mich.«

Endlich war er weg und sie konnten die Arbeit verteilen.

Von Ackermann hatten sie seit Freitag nichts gehört, aber der hatte sich ja auch mal wieder eine Aufgabe gestellt, die eigentlich nicht zu lösen war.

Für sie blieb genug zu tun. Van Appeldorn würde zum Nachlassgericht fahren und Helene Opitz’ Unterlagen einsehen. Und wenn er sowieso schon in der Schwanenburg war, konnte er auch gleich noch zum Grundbuchamt gehen und sich ein Bild über von Bahlows Grundstückskäufe machen.

Jemand musste sich Helene Opitz’ Totenschein anschauen und möglicherweise mit dem Arzt sprechen, der ihren Tod festgestellt hatte.

Aber zuerst wollte Toppe noch einmal zu den Jelineks. Sie hatten Opitz, zumindest ein paar Jahre lang, nahe gestanden und vielleicht hatte er ja Andeutungen gemacht, warum er von Bahlow derartig verachtet hatte.

Jupp Ackermann war kurz davor, seine gute Laune zu verlieren, und das passierte höchst selten. Aber wenn er eines nicht leiden konnte, dann war das Hochnäsigkeit und noch schlimmer: Hochnäsigkeit gepaart mit dem Wort ›unmöglich‹.

Bis jetzt war er nur abgewiesen, hingehalten und durchgereicht worden.

Im Gocher Krankenhaus hatte er am Freitag begonnen. Voller Tatendrang war er zur Verwaltung gestiefelt, hatte beim Anblick der Chefsekretärin sofort sein bestes Hochdeutsch ausgepackt und – eine Bauchlandung gemacht.

Für solche Dinge sei sie nicht zuständig, hatte sie sich abgerungen, und ihr Chef sei außer Haus. Immerhin hatte er ihr entlocken können, dass Patientenunterlagen fünfundzwanzig Jahre lang aufbewahrt werden mussten. Und danach? Kamen sie in den Reißwolf. Nicht erst noch in den Keller oder so? Auf keinen Fall, in einem modernen Haus wie dem ihren!

Aber Ackermann war beharrlich geblieben – wäre wohl auch gelacht! – und die Dame hatte sich dann doch noch bequemt, ihren Chef anzurufen. Von dem war Ackermann dann ruck, zuck abgebügelt worden: Einblick ins Archiv? Nein! Lächerlich! Datenschutz!

Das hatte Ackermanns Laune nicht wesentlich trüben können und über das »Ätsch, hab ich’s nicht gesagt«, das der Sekretärin ins Gesicht geschrieben stand, hatte er sogar noch gelacht. Er war einfach zum Gericht gefahren, um sich eine Verfügung zu besorgen, aber Knickrehm, der einzige Richter, mit dem man solche Sachen kurzfristig und unproblematisch durchziehen konnte, hatte sich zum Segeln abgesetzt.

»Macht nix«, hatte Ackermann sich gesagt. »Montag is’ auch noch ’n Tach. Un’ die Mutti freut sich, wenn ich endlich ma’ früh nach Haus hin komm.«

Im Klever Krankenhaus war das Spielchen heute Morgen weitergegangen, nur dass es hier noch eine Sekretärin der Sekretärin der Vorzimmerdame des Assistenten des Chefs gab, was die Geschichte erheblich verzögert und zu einer enormen Anhäufung des Wörtchens ›unmöglich‹ geführt hatte.

Wenigstens auf Knickrehm war Verlass gewesen. Er hätte die Nachricht erhalten und Ackermann sollte schnell vorbeikommen, dann würde man sehen. Also hatte Ackermann sich zur Schwanenburg aufgemacht, zwei Tassen Kaffee mit dem Richter getrunken, ein bisschen Seglerlatein ausgetauscht und schließlich das Papier bekommen.

Jetzt war er wieder im Krankenhaus am Startpunkt des Antichambrier-Marathons. Sein Hochdeutsch hatte er längst wieder eingemottet.

Er zermarterte sich das Hirn, weil er genau wusste, dass er jemanden kannte, der hier im Haus arbeitete. Und dieser Jemand hatte ihm auch mal erzählt, dass es einen muffigen Keller gab, wo die Akten der letzten fünfzig Jahre vor sich hin gammelten. Bloß – wer war dieser Jemand?

Ackermann schaute auf die Uhr – gleich halb vier. So langsam wurde es eng. Er nahm den metallenen Standaschenbecher zwischen die Beine, zog einen Flaschenöffner und seinen Schlüsselbund aus der Jacke und legte ein Schlagzeugsolo hin, dass die Fensterscheiben klirrten.

Die Chefsekretärin hatte vorhin über Kopfschmerzen geklagt.

»Vielleicht sollten wir doch mal mit von Bahlows Söhnen sprechen«, meinte Astrid.

»Worüber?« Toppe klang gereizt.

»Ja, ich weiß, Geduld war noch nie meine Stärke«, gab sie zurück. »Aber vielleicht wissen die Bescheid über ihren Vater.«

»Dann müsste von Bahlow verrückt sein. Wenn er wirklich eine neue Identität angenommen hat, dann war das 1943, 1944. Seine Frau hat er erst in Nierswalde kennen gelernt, die Kinder sind in den Fünfzigern geboren. Ich bin sicher, dass nicht einmal seine Frau was wusste. Warum auch? Das wäre doch viel zu gefährlich gewesen.«

»Wahrscheinlich hast du Recht. Es ist nur so nervtötend, darauf zu warten, dass Peter etwas findet. Falls er was findet nach so langer Zeit! Von Ackermanns ›Unternehmen Sisyphos‹ ganz zu schweigen.«

Toppe bog in die Einfahrt zu Jelineks Hof ein, Astrid löste den Gurt und reckte sich. »Es muss ganz schön schwer sein mit einer neuen Identität, stell ich mir vor.

Immer aufpassen, dass man sich in einem schwachen Moment nicht doch verplappert.«

»Von Bahlow macht mir nicht den Eindruck, als hätte er schwache Momente.«

»Schon, aber auch der muss doch seiner Familie und seinen Freunden von früher erzählt haben, Erinnerungen.«

»Vielleicht ist das nicht so schwer, wenn man in die Haut seines eigenen Bruders schlüpft.«

Sie fanden Jelineks im letzten Treibhaus, wo sie einträchtig nebeneinander standen und frisch ausgetriebene Pflänzchen pikierten.

»Ach, Herr Toppe!«, rief Sonja Jelinek freundlich und wischte sich die Hände an der grünen Latzhose ab.

Toppe stellte ihnen Astrid vor.

»Guten Tag«, sagte Jelinek ein bisschen heiser.

Astrid spürte, wie sein Blick über ihren Körper glitt. Er lächelte anerkennend und schaute ihr ein wenig zu lange in die Augen. Astrid war verblüfft. Dass Männer so auf sie reagierten, war ihr nicht fremd, sie hatte es nur so ewig lange nicht mehr erlebt oder wahrgenommen, war so sehr Muttertier gewesen, dass sie sich selbst ganz vergessen hatte.

Sie lächelte Jelinek mit den Augen ein »Danke für das Kompliment« zurück und fühlte sich wunderbar.

Die ganze Szene dauerte keine zwei Sekunden.

»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte Sonja.

»Nein, lassen Sie nur, Sie haben Arbeit genug«, lehnte Toppe ab.

»Ach, kommen Sie!« Jelinek legte den Arm um seine Frau. »Dann haben wir beide wenigstens eine Ausrede, eine Pause zu machen.«

Sonja wischte ihm sanft einen Schmutzfleck von der Oberlippe und ging dann vor zum Haus.

Viel kam bei dem Gespräch nicht herum.

Opitz hatte sich immer sehr liebevoll um sie gekümmert, aber was ihn selbst und seine Probleme anging, war er mehr als verschlossen gewesen. Natürlich hatte er von Bahlow nicht leiden können, wahrscheinlich war ihm dessen Bonzengehabe gegen den Strich gegangen. Aber sie konnten sich beide nicht daran erinnern, dass er über den Mann hergezogen hätte. So sei er einfach nicht gewesen.

»Kennen Sie die Pächter, die vor Ihnen den Betrieb hier hatten? Wohin sind die gegangen?«, fragte Toppe.

»Ja, sicher kennen wir die«, antwortete Sonja, verblüfft über den Themenwechsel. »Die wohnen jetzt in Nettetal. Aber warum wollen Sie das wissen?«

Toppe zuckte die Achseln. »Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich Ihnen das selbst noch nicht so genau sagen.«

»Gefällt er dir?« Toppe schaltete die Zündung ein.

Astrid ärgerte sich schrecklich, dass sie tatsächlich rot wurde. »Doch«, meinte sie tapfer. »Er ist recht attraktiv, aber das war es nicht. Es hat mir gefallen.«

Toppe gab sich alle Mühe, den Mund zu halten.

»Ich hatte ganz vergessen, dass ich …« Astrid verzettelte sich. »Na ja …«

»Ich nicht!«

»Das weiß ich, aber darum geht es nicht.«

»Ich versteh schon, was du meinst. Darf ich trotzdem eifersüchtig sein?«

»Nein, darfst du nicht!«

Am Abend setzten sie sich in van Appeldorns und Astrids Büro zusammen, das gemütlicher war als Toppes Reich. Trotz aller Hektik hatte Astrid es geschafft, in wenigen Tagen nur, dem Raum ihren Stempel aufzudrücken. Auf allen Fensterbänken standen Grünpflanzen, die vor Gesundheit strotzten, neben der Tür hing ein großer, gerahmter Gauguindruck.

»Bevor ich’s vergesse. Wir ziehen am Wochenende um«, meinte van Appeldorn. »Ich werde mir Donnerstag und Freitag freinehmen.«

Er war beim Nachlassgericht nicht fündig geworden. Es gab keine aufschlussreichen Papiere, keine Testamente, erst recht keine Briefe oder andere private Unterlagen. Beim Grundbuchamt hatte er Kopien gemacht. »Für mich sieht es so aus, als hätte von Bahlow die meisten Häuser sehr günstig gekriegt, aber ich bin kein Fachmann. Ackermann kennt sich da vermutlich besser aus. Hoffentlich taucht der irgendwann noch mal auf …«

Toppe hatte mit den Pächtern, Jelineks Vorgängern, telefoniert. »Die sind stinksauer auf von Bahlow. Ich besuche sie morgen und höre mir ihre Geschichte an. Hast du den Totenschein?«

»Klar«, nickte van Appeldorn. »Helene Opitz ist an Herzversagen gestorben.«

»Ach was?« Toppe war auf einmal hellwach.

»Ja, ich weiß schon, die Standardformel. Deshalb hab ich ja auch den Arzt aufgesucht, der die Todesursache festgestellt hat. War ihr Hausarzt. Die Opitz hätte ein bisschen Bluthochdruck gehabt in den letzten Jahren, aber sonst … Er sah das unter dem Motto: So etwas kann immer passieren. Sie hätte tot im Bett gelegen, ganz unauffällig. Kein Grund für Polizei. Ziemliche Oberpflaume, wenn du mich fragst.«

»Fein«, sagte Toppe leise. »Dann werden wir sie exhumieren lassen.«

»Bist du sicher?«

»Natürlich bin ich nicht sicher!«, polterte Toppe los, aber da platzte Ackermann herein. »Hab ich da grad wat von Leichenfleddern gehört?« Es war ein seltsam angeschlagener Ackermann. »Wat macht ihr denn in die Bude hier? Ich hab euch schon gesucht.«

Astrid stand auf, drückte ihm ihren eigenen Kaffeebecher in die Hand und stellte ihn damit erst einmal ruhig.

»Wie willst du die Exhumierung begründen?«

»Helene Opitz stirbt im Alter von 59 Jahren.« Toppe sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. »Jung für einen Tod ohne Vorerkrankung. An Herztod stirbt letztendlich jeder, auch wenn vorher zum Beispiel Gift im Spiel war. Helene Opitz bewohnte ein paar Zimmer in einem Gebäude, das mittlerweile Waldemar von Bahlow gehört, ihr Altenteil. Sie muss von Bahlow im Weg gewesen sein, denn …« Er drehte sich zu ihnen herum. »Überlegt doch mal! Die Frau stirbt im Juni und im Juli schon fängt von Bahlow mit dem Hotelbau an. Das heißt doch, die Baupläne waren längst fertig und beim Bauamt eingereicht. Vielleicht sogar schon genehmigt. So fix geht so was nämlich nicht.«

»Okay«, gab van Appeldorn zu. »Also exhumieren wir sie. Wie schnell kriegen wir das hin?«

»Wenn wir morgen früh gleich mit der Chefin sprechen, könnte es übermorgen klappen«, sagte Astrid und nahm Ackermann ihre Tasse wieder weg. Er hatte sie sowieso nur zwischen den Händen gedreht.

»Leichen fleddern, dacht ich doch, dat ich dat gehört hatte.« Er klang todmüde und ließ sich zu einem langen Seufzer herab, als er merkte, dass sogar van Appeldorn beunruhigt war. »Gott, wat soll ich euch sagen.« Dann sprang er auf einmal auf. »Freddy!«, brüllte er und warf Arme und Beine in die Luft. »Freddy, dat isset! Der alte Leichenfledderer!«

Van Appeldorn stützte das Kinn in die Hand und schloss langsam die Augen.

Ackermann fuchtelte immer noch wild herum. »Der Alfred Sommer, Mensch, den hatt’ ich die ganze Zeit im Kopp. Arbeitet als Handlanger, oder wie dat heißt, inne Pathologie. Und dat is’ so einer, den wir brauchen, der würd mich sogar nachts hintenrum … Aber ich will nix gesacht haben, ’n echter Kumpel, von wegen Fünfe krumm un’ Fünfe grade. Keine Frage! Ja, dat wollen wer doch ma’ sehen, da wollen wer doch ma’ gucken von wegen Geheimarchiv un’ keiner weiß, wo der Schlüssel is’. Wo is’ dat Telefon?«