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Van Appeldorns Umzug, der eigentlich still und heimlich hatte vonstatten gehen sollen, wurde zu einem Großereignis.
Am Samstagmorgen um elf Uhr stand Ackermann auf der Matte, flankiert von zwei Töchtern, und krempelte demonstrativ die Ärmel hoch. »Wo steht dat Klavier? Obwohl, so viel Kultur hasse ja hoffentlich nich’ auffer Pfanne.«
Auch Toppe war da und Anna hatte drei Freunde anrollen lassen, die stärksten von denen, die keine Widerworte gaben.
Es war eine ziemliche Plackerei, zwei Haushalte aufzulösen und neu zusammenzufügen, aber sie hatten alle so viel Spaß dabei, dass van Appeldorn immer mal wieder innehielt und sich fragte, in welchem Film er eigentlich war. Aber Ulli ließ ihm keine Chance, sie küsste innig jede Frage weg.
Die Küche war das größte Problem, da war so einiges auf Maß zu sägen und einzupassen.
»Alles weg hier«, rief Ackermann. »Kann ’n paar Stündkes dauern, aber ich mach dat schon. Her mit de Stichsäge! Un’ ich will den Chef dabei. Dat is ’n Akkurater, so wat braucht man bei de Küchentechnik. Un’ dann Tür zu und uns bloß noch in Ruh lassen. Klar? Un’ dat mir hier keiner abhaut, bevor dat letzte Bild hängt! Sons’ is’ man nämlich nich’ zu Hause, ich kenn dat. Keiner verlässt dat Anwesen, bevor wer nich’ Spiegeleier gebraten un’ verputzt haben. So isset Tradition. Ich hab extra ’ne Palette Eier gekauft.«
Gegen drei Uhr morgens war sogar das Porzellan schon in die Schränke geräumt, die Betten waren bezogen, jede Lampe leuchtete, die Bilder waren perfekt platziert und endlich neigte sich auch das Küchenprojekt dem Ende zu.
»Ich will meine Spiegeleier!« Ackermann kannte inzwischen weder Freund noch Feind. »Ulli, hol die Pfanne raus un’ dat Jungvolk deckt den Tisch.«
Am Sonntagnachmittag rief Ulli Beckmann auf der Esperance an und bedankte sich noch einmal bei Toppe für seine Hilfe.
»Norbert meint, wir könnten uns bei euch ein paar Tipps holen für unsere Einweihungsparty. Wollt ihr nicht heute Abend vorbeikommen? Ich möchte auch endlich mal Astrid kennen lernen.«
»Wenn wir einen Babysitter finden, gern. Lust hätt ich schon.«
Und sie hatten Glück, Gabi und Henry kamen, um sich für ein paar Tage vor dem Medienrummel zu verkriechen und vor allem Henrys ständig bimmelndem Telefon zu entgehen. Natürlich würden sie bei Katharina bleiben und sich einen ruhigen, gemütlichen Abend machen.
»Danke! Wir nehmen Salz und Brot mit, ja?« Astrid flitzte in die Küche. »Gabi? Wo hast du dein Stutenrezept versteckt? Ist überhaupt noch Hefe da?«
»Warte, ich helfe dir!« Auch Gabi verschwand und die beiden Männer blieben ein bisschen ratlos in der Halle zurück.
»Komm doch mit zu mir«, meinte Toppe. »Wir machen den Kamin an und du erzählst mir, wie das so ist als Fernsehstar. Ich bin nämlich ziemlich neugierig.«
Als die vier später wieder zusammentrafen, hatten sie ein Problem ganz nebenbei gelöst: Henry würde mit Begeisterung in die WG einziehen, er hatte sich nur nie getraut, das Thema anzuschneiden, und wie sich herausstellte, hatte auch Gabi sich diese Lösung insgeheim schon lange gewünscht. »Wir können ja den Dachboden ausbauen. Das hatten wir doch sowieso immer mal vor.«
Toppe wusste, warum sie so eindringlich klang; sie würde sich schwer tun, Christian endgültig abzunabeln.
Ulli und Astrid verstanden sich auf Anhieb. Sie setzten sich nebeneinander aufs Sofa, und nach kurzer Zeit schon war Astrid im Schneidersitz und Ulli hatte die Beine untergeschlagen.
»Du musst eine Ecke jünger sein als ich«, meinte Astrid.
»Kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin dreiunddreißig.«
»Immerhin, drei Jahre.«
»Bitte entschuldigt, wenn ich das Damenkränzchen störe, aber was wollt ihr trinken?«
Van Appeldorn wandte sich auch an Toppe. »Du weißt ja, ich bin kein Weinfreak, aber wir hätten gutes Bier da – und Calvados.«
Toppe grinste. »Später, erst mal tut’s ein Bier.«
»Bier ist okay«, antwortete auch Ulli. »Und wenn du schon stehst, schneid doch Astrids Brot auf. Es ist noch warm und es riecht so lecker. Und bring auch Butter mit, ja?«
Sie aßen und tranken und redeten.
»Ihr wohnt wirklich in einer WG?« Ulli rümpfte ein bisschen die Nase.
Toppe wunderte sich über ihr Gesicht. »Mehr oder weniger.«
»Ulli hat ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu Wohngemeinschaften«, erklärte van Appeldorn.
»Das ginge dir bestimmt auch nicht anders, wenn du als Kind über zehn Jahre deines Lebens so verbracht hättest!«
»In WGs?«, fragte Astrid verblüfft und sehr neugierig. »Wo kommst du denn her?«
»Geboren bin ich in Berlin, aber meine Eltern waren noch sehr jung, achtzehn und neunzehn, und hatten gerade angefangen zu studieren. Deshalb war ich die ersten vier Jahre bei meiner Oma in Viersen. Aber dann haben meine Eltern mich wieder nach Berlin geholt, in ihre WG. So, und jetzt will ich noch was zu trinken!«
»Ja«, unterstützte Toppe sie. »Sagtest du vorhin nicht was von Calvados, Norbert?«
Van Appeldorn holte die Flasche und hielt auch Astrid ein Glas hin. »Ihr könnt doch ein Taxi nehmen und das Auto morgen abholen.«
»Okay, aber nur einen. Ich hasse es, wenn Katharina nachts oder frühmorgens wach wird und ich nicht ganz Herr meiner Sinne bin. Du hast tatsächlich in einer dieser ersten Kommunen gelebt?«, nahm sie dann den Faden wieder auf.
»Aber verschärft, mit jedem Klischee, das dir einfällt: kleine, nackte Kinder, freie Liebe, Dope, Razzien.«
»Kinderladen«, schlug Astrid vor.
»Natürlich, Kinderladen! Was denkst du denn?« Ulli kicherte.
»Und lauter illustre Leute«, warf van Appeldorn ein. Er hatte sich bisher rausgehalten. Ulli vermied es normalerweise, über ihre Kindheit zu sprechen, aber heute wollte sie anscheinend unbedingt davon erzählen.
Sie trank ihren Schnaps in einem Zug. »O ja, verdammt illustre Leute! Im Kinderladen war ich zusammen mit den Zwillingen von Ulrike Meinhof. Um mich rum waren alle so was von antiautoritär, es war zum Kotzen! Am Anfang ging’s noch, da war ich auch noch klein, aber dann stiegen meine Eltern in die Hausbesetzerszene ein und wir sind nur noch rumgezogen. Und immer war es scheißkalt. Ein bisschen später beschlossen sie, Sympathisanten zu werden. Ich weiß bis heute nicht genau, wer alles bei uns untergekrochen ist. Das war dann auch die Zeit, als meine Eltern auf harte Drogen umgestiegen sind.«
»Scheiße«, sagte Toppe. »Gib mir noch ’n Schnaps.«
»Und dann?«, fragte Astrid vorsichtig.
»Dann wurde es hart, wie man sich denken kann. Ist ja nichts Neues mehr heute. Um die Schule musste ich mich selbst kümmern, dass ich saubere Klamotten hatte, die mir passten, auch. Nichts zu essen zu haben war am schlimmsten. Ich habe ziemlich viel geklaut. Tja, und dann hatten meine Eltern irgendwann mal wieder einen größeren Deal gemacht. Das Geld lag auf dem Küchenschrank und die beiden waren total breit. Da hab ich mir ein paar Scheine eingesteckt, bin zum Bahnhof und dann zu meiner Oma nach Viersen. Ich war fünfzehn. Bei ihr bin ich geblieben, hab mein Abi gemacht und auch da gewohnt, als ich studiert habe. War ganz okay. Bin allerdings treudoof in allen Ferien mit einem großen Koffer voller Fressalien und ein paar hundert Mark von Oma nach Berlin und hab meine Eltern aus dem ärgsten Sumpf gezogen, dreimal im Jahr. Ein wirklich gutes Kind, die Ulli! Och, Mensch!« Sie umarmte Astrid. »Jetzt guck doch nicht so traurig! Ich hab’s ja überlebt. Und heute geht’s mir gut, richtig gut sogar.«
»Leben deine Eltern noch?«
»Ja, die leben immer noch in so einer Bruchbude in Kreuzberg. Klassische Altjunkies, abgezockt und zäh. Aber jetzt reicht’s. Jetzt will ich eure Geschichte hören. Ihr beide sollt ja seinerzeit ganz schön Furore gemacht haben im Städtchen.«
Toppe legte den Kopf schief. »Hm, na ja, so wild war es nun auch wieder nicht.«
»Ha!« Van Appeldorn lachte. »Spiel das jetzt nur nicht runter, du Bigamist!«
Sie saßen noch zusammen, als die Schnapsflasche längst leer war.